RG, 25.01.1924 - III 882/22

Daten
Fall: 
§§ 1, 2 AbgErweitVO
Fundstellen: 
RGZ 107, 315
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
25.01.1924
Aktenzeichen: 
III 882/22
Entscheidungstyp: 
Urteil
Stichwörter: 
  • Wirksamkeit der §§ 1 und 2 der Verordnung über die Erweiterung des Abgeltungsverfahrens für Ansprüche gegen das Reich vom 24. Oktober 1923 (AbgErweitVO)

Sind die §§ 1 und 2 der Verordnung über die Erweiterung des Abgeltungsverfahrens für Ansprüche gegen das Reich vom 24. Oktober 1923 - AbgErweitVO. - rechtsgültig?

Inhaltsverzeichnis 

A.

Tatbestand

Das Revisionsverfahren war auf Antrag des Beklagten durch Beschluß des Reichsgerichts vom 20. November 1923 auf Grund der in der Überschrift bezeichneten Verordnung ausgesetzt worden. Ein Antrag der Kläger, diesen Beschluß wieder aufzuheben, weil die Verordnung ungültig sei, wurde zurückgewiesen.

Gründe

§ 1 Abs. 1 Satz 1 AbgErweitVO. bestimmt, daß die dort näher bezeichneten Ansprüche gegen das Reich oder gegen eine andere Stelle, die für Rechnung des Reichs handelt, unter Ausschluß der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte, des Reichswirtschaftsgerichts, einer Sonderspruchbehörde oder eines Schiedsgerichts in einem besonderen Verfahren abgegolten werden. Diese Vorschrift ist nicht bloß prozessualer Natur, insofern sie die Zuständigkeit der Gerichte ausschließt und die fraglichen Ansprüche einem besonderen Verfahren überweist. Sie hat vielmehr außerdem noch materielle Bedeutung. Daß die genannten Ansprüche abgegolten werden, heißt, daß sie beschränkt werden auf einen nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung insbesondere der Finanzlage des Reichs festzusetzenden Betrag. Diese Bedeutung des Wortes "abgelten" steht seit Erlaß der AbgVO. vom 4. Dezember 1919 (RGBl. S. 2146) im Sprachgebrauch der Gesetze und der Gerichte fest. So aufgefaßt, stellt sich die grundlegende Bestimmung der AbgErweitVO. als eine Maßnahme dar, die auf finanziellem Gebiete liegt. Die finanzielle Lage des Reichs soll erleichtert werden, unmittelbar dadurch, daß gewisse Verbindlichkeiten des Reichs herabgemindert werden, mittelbar dadurch, daß die Bestimmung des Maßes dieser Herabsetzung unter Ausschaltung der ordentlichen Gerichte in einem besonderen Verfahren zu erfolgen hat. Der Eingriff in die ordentliche Rechtspflege, den die AbgErweitVO. vornimmt, hängt mit der erstrebten finanziellen Entlastung des Reichs, der er die Wege ebnen soll, auf das engste zusammen. Er wird daher durch § 1 Abs. 1 Satz 1 des ErmächtigungsG. vom 13. Oktober 1923 (RGBl. I S. 943) gedeckt.

Gegen die Gültigkeit des § 1 Abs. 1 Satz 1 AbgErweitVO. sind aus der Reichsverfassung Bedenken nicht herzuleiten. § 1 Abs. 1 Satz 2 ErmächtigungsG. gab der Reichsregierung die Befugnis, mit ihren Anordnungen von den Grundrechten der Reichsverfassung abzuweichen, sodaß es keiner Prüfung bedarf, ob die Unterwerfung von Ansprüchen gegen das Reich unter die Abgeltung dem Art. 153 RVerf. widerspricht. Die Vorschrift des § 1 Abs. 1 Satz 2 kann freilich nicht ausdehnend ausgelegt werden. Gebunden blieb die Reichsregierung deshalb an die Vorschriften des ersten Hauptteils der RVerf. (Aufbau und Aufgaben des Reichs), insbesondere an die dort im 7. Abschnitte gegebenen Vorschriften über die Rechtspflege. Indessen stehen sie dem Ausschlusse des Rechtswegs für die in der AbgErweitVO. genannten Ansprüche gegen das Reich nicht entgegen. Wenn Art. 103 RVerf. bestimmt, daß die ordentliche Gerichtsbarkeit durch das Reichsgericht und die Gerichte der Länder ausgeübt wird, so ist damit über den Umfang dieser Gerichtsbarkeit noch nichts gesagt. Ihre Abgrenzung hat die RVerf. der Gesetzgebung des Reichs und der Länder überlassen. Nur ihr kann, von einigen Sonderbestimmungen der RVerf. (z. B. Art. 129 Abs. 1 Satz 4, Art. 131 Abs. 1 Satz 3) abgesehen, entnommen werden, wer der gesetzliche Richter ist, dem nach Art. 105 Satz 2 RVerf. niemand entzogen werden darf. Eine Einschränkung der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte bedarf keines verfassungsändernden Reichsgesetzes. Zu ihr war daher die Reichsregierung auf Grund des Ermächtigungsgesetzes befugt. Daß der Ausschluß des Rechtswegs auch bereits anhängige Prozesse ergreifen kann, hat das Reichsgericht in ständiger Rechtsprechung - z. B. für die AbgVO. in RGZ. Bd. 101 S. 426 und Bd. 102 S. 202, für die RAbgO. das. Bd. 103 S. 305 - angenommen.

Unabhängig vom positiven Recht hat man der AbgErweitVO. die Gültigkeit deshalb absprechen wollen, weil sie mit den guten Sitten unvereinbar sei, da sich der Schuldner nicht zum Richter in eigener Sache bestellen könne, oder weil sie, soweit es sich um Vertragsverpflichtungen des Reichs handle, gegen die Grundsätze von Treu und Glauben im Verkehr verstoße, denen es widerspreche, wenn der Schuldner von seinem billigen Ermessen abhängig mache, ob und wieviel er leisten wolle. Einer Darlegung der Einseitigkeit der dieser Beurteilung der AbgErweitVO. zugrunde liegenden Betrachtungsweise bedarf es nicht, da grundsätzlich der Richter überhaupt nicht befugt ist, einem ordnungsmäßig erlassenen Gesetze seines Inhalts wegen die Anwendbarkeit abzusprechen.

Die Gründe, aus denen das Kammergericht in seinem Beschlusse vom 7. Januar 1924 (17 U 4616/21) die AbgErweitVO. für ungültig erklärt hat, können gleichfalls nicht als durchgreifend anerkannt werden. Das Kammergericht geht aus von der in § 1 Abs. 1 Satz 2 gegebenen Bestimmung, daß der Reichsminister der Finanzen die Art der Abgeltung und das Verfahren zu regeln habe. Es hält diese Vorschrift für unvereinbar mit dem ErmächtigungsG. und zieht daraus die weitere Schlußfolgerung, daß die ganze AbgErweitVO. der Wirksamkeit entbehre. Ob diese letzte Erwägung zu billigen wäre, ob die bei Unwirksamkeit des § 1 Abs. 1 Satz 2 AbgErweitVO. vorhandene Lücke nicht anderweit ausgefüllt werden könnte, kann dahingestellt bleiben. Denn schon die grundlegende Annahme des Kammergerichts, dem Reichsminister der Finanzen habe nicht das Recht erteilt werden können, die Art der Abgeltung und das Verfahren zu regeln, ist unzutreffend.

Wie nach früherem Recht, so ist es auch nach der Reichsverfassung zulässig, daß die Gesetzgebung die Befugnis zur Erlassung von Rechtsvorschriften in sachlicher Beschränkung einer anderen Stelle überträgt (RGSt. Bd. 55 S. 246). Es ist auch nicht grundsätzlich ausgeschlossen, daß diese Befugnis, wiederum mit solcher Beschränkung, weiterübertragen wird. Zugegeben kann werden, daß diese Übertragbarkeit für das Gebiet des ErmächtigungsG. gewissen Einschränkungen unterliegt, da es nur die damalige Regierung in ihrer damaligen parteipolitischen Zusammensetzung mit besonderen Vollmachten hat ausstatten wollen. Keinesfalls ist aber dem ErmächtigungsG. ein völliger Ausschluß solcher Übertragung zu entnehmen. Die Entstehungsgeschichte und der Zweck des ErmächtigungsG. ergeben vielmehr, daß die Reichsregierung befugt sein sollte, die Ausführung der von ihr auf Grund jenes Gesetzes getroffenen Maßnahmen dem zuständigen Ressortminister auch insoweit zu übertragen, als dazu der Erlaß von Rechtsvorschriften erforderlich war. Die Reichsregierung als Ganzes war gar nicht in der Lage, die dringend erforderlichen, umfassenden Anordnungen zur Behebung der auf das äußerste gestiegenen Not des Reiches in allen rechtlichen Einzelheiten selbst zu geben. Sie hätte von dem ErmächtigungsG. überhaupt nicht den auch vom Reichstage gewollten Gebrauch machen können, wenn sie nicht wenigstens den Erlaß von Ausführungsbestimmungen den einzelnen Ministern hätte übertragen dürfen. Nur um Ausführungsbestimmungen handelt es sich aber bei den Anordnungen, mit denen die beanstandete Vorschrift den Reichsminister der Finanzen betraut.

Der Inhalt des § 1 Abs. 1 Satz 1 AbgErweitVO. ist oben erörtert worden. Er gibt bereits nach der materiellen wie nach der prozessualen Seite durchaus klare Grundsätze: die von ihm bezeichneten Ansprüche gegen das Reich werden auf ein der Billigkeit entsprechendes Maß beschränkt; dieses Maß wird nicht von den Gerichten festgesetzt, sondern in einem besonderen Verfahren bestimmt. Hiermit war das ausgesprochen, worauf es zur Entlastung des Reichs in finanzieller Hinsicht ankam. Die weitere Ausgestaltung dieser Grundsätze war nur noch von verhältnismäßig untergeordneter Bedeutung und durfte als eine bloße Ausführung der von der Reichsregierung selbst getroffenen Maßnahme angesehen werden. Die Tragweite des § 1 Abs. 1 Satz 2 AbgErweitVO. beschränkt sich also darauf, daß er einen Fall hervorhebt, in dem die durch § 6 das. dem Reichsminister der Finanzen gegebene Ermächtigung, Ausführungsbestimmungen zu erlassen, zur Anwendung zu gelangen hat. Die erstgenannte Vorschrift war in der letzteren sachlich schon enthalten und ist ebenso rechtsgültig wie diese. Mit dieser Rechtslage völlig in Übereinstimmung hat übrigens der Reichsminister der Finanzen in seinen Ausführungsbestimmungen vom 6. November 1923 (Reichsanzeiger vom 9. November 1923 Nr. 261) auch die Art der Abgeltung und das Verfahren geregelt, also selbst keinen Unterschied gemacht zwischen den ihm durch § 1 Abs. 1 Satz 2 und durch § 6 AbgErweitVO. übertragenen Befugnissen.

Als das ErmächtigungsG. infolge eines Wechsels bei parteipolitischen Zusammensetzung der Reichsregierung außer Kraft trat, blieben die auf seiner Grundlage getroffenen Maßnahmen bestehen. Zu ihnen gehörte auch die Übertragung des Erlasses von Ausführungsbestimmungen zur AbgErweitVO. an den Reichsminister der Finanzen. Die Ausführungsbestimmungen konnten also auch noch ergehen, als das ErmächtigungsG. schon nicht mehr galt.

Die Rechtsbeständigkeit des sonstigen Inhalts der AbgErweitVO. wird endlich auch dadurch nicht berührt, daß § 2 wenigstens teilweise der Gültigkeit entbehrt, insoweit nämlich, als er bestimmt, daß die Entscheidungen des Reichsministers der Finanzen darüber, ob ein Anspruch nach § 1 Abs. 1 abzugelten ist, endgültig und für die Gerichte bindend sind. Diese Vorschrift ist unvereinbar mit Art. 103 und mit Art. 105 Satz 2 RVerf. Daß die Reichsregierung nicht ermächtigt war, von ihnen abzuweichen, ist bereits oben dargelegt worden. Art. 103 überträgt dem Reichsgericht und den Gerichten der Länder die ordentliche Gerichtsbarkeit. Ihr Umfang bestimmt sich, wie gleichfalls schon bemerkt, nach den Gesetzen. Innerhalb des gesetzlich gezogenen Rahmens haben die Gerichte aber nicht bloß das Recht, sondern auch die Pflicht, die Gerichtsbarkeit auszuüben. Sie müssen in allen Sachen Recht sprechen, die ihrer Gerichtsbarkeit gesetzlich unterworfen sind. Ob das der Fall ist, haben sie selbst zu prüfen. Die Entscheidung über die Zulässigkeit des Rechtswegs kann den Gerichten nicht entzogen, kann nicht für den einzelnen Fall einer Verwaltungsbehörde endgültig übertragen werden. Nähme diese zu Unrecht die Unzulässigkeit des Rechtswegs an, so würde, falls sich die Gerichte dem unterwerfen müßten, die davon betroffene Person in Wirklichkeit ihrem gesetzlichen Richter entzogen werden. Damit würde Art. 105 Satz 2 RVerf., der auch für bürgerlichrechtliche Streitigkeiten Bedeutung hat, verletzt werden. Der in ihm ausgesprochene Grundsatz erschöpft sich nicht in einer Anweisung an Gesetzgebung oder Verwaltung. In Verbindung mit Art. 103 belastet er vielmehr die Gerichte mit der Verantwortlichkeit, darüber zu wachen, daß die Gerichtsbarkeit in allen den Fällen ausgeübt wird, in denen sie nach den Gesetzen Platz greifen soll. Die Übertragung der Entscheidung über die Zulässigkeit des Rechtswegs an besondere gerichtliche Behörden (Kompetenzgerichtshöfe) mag mit der Reichsverfassung vereinbar sein, ihre Übertragung an eine Verwaltungsbehörde ist es nicht. Nur als solche trifft der Reichsminister der Finanzen die Entscheidungen nach § 2 Abs. 1 AbgErweitVO. Die Gerichte können durch sie nicht gebunden werden.

Die Ungültigkeit dieser einzelnen Bestimmung der AbgErweitVO. beeinträchtigt sie im übrigen nicht. Insbesondere behält es bei dem in § 1 Abs. 1 Satz 1 AbgErweitVO. ausgesprochenen Ausschluß des Rechtswegs sein Bewenden. Auch die Gerichte sind, wie zur Vermeidung von Mißverständnissen besonders hervorgehoben werden mag, zur Anwendung der genannten Vorschrift verpflichtet.

B.

Vereinigte Zivilsenate. Beschl. v. 22. Februar 1924 i. S. I. Reichseisenbahnfiskus (Bekl.) w. Sch.(Kl.) I 548/23; II. J. (Kl.) w. I. Deutsche Maschinenfabrik A.-G. u. Gen. (Bekl.). 2. Reichsmilitärfiskus (Streithelfer). IV 779/23.

Gründe

I.

Der III. Zivilsenat hat in seinem vorstehend abgedruckten Beschlusse vom 25. Januar 1924 die Rechtsgültigkeit der AbgErweitVO. grundsätzlich anerkannt. Für rechtsunwirksam hält er mit Rücksicht auf Art. 105 RVerf. lediglich die Bestimmung des § 2 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2, nach der die Entscheidung des Reichsministers der Finanzen darüber, ob ein Anspruch abzugelten sei, endgültig und für die Gerichte bindend sein soll. Von dieser Entscheidung des III. Zivilsenats wollen sowohl der I. wie der IV. Zivilsenat abweichen.

In der zu I des Rubrums bezeichneten Sache hat der beklagte Reichseisenbahnfiskus auf Grund der AbgErweitVO. beantragt, die Aussetzung des Verfahrens anzuordnen und die Prozeßakten dem Reichsminister der Finanzen vorzulegen. Der I. Zivilsenat hält diesen Antrag für unbegründet, weil § 1 AbgErweitVO. im Hinblick auf Art. 105 RVerf. der Rechtsgültigkeit entbehre. An einer Entscheidung in diesem Sinne sieht er sich jedoch durch den Beschluß des III. Zivilsenats behindert. Er hat daher beschlossen, die Entscheidung der Vereinigten Zivilsenate über die Rechtsfrage einzuholen,

ob und inwieweit § 1 AbgErweitVO. im Hinblick auf den durch das Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 1923 unberührt gebliebenen Art. 205 RVerf. rechtsgültig ist?

Der IV. Zivilsenat will in einer anderen Richtung von dem III. Zivilsenat abweichen. Er hält auch den § 2 AbgErweitVO. vollinhaltlich für rechtsgültig, da Art. 105 RVerf. zu den Bestimmungen über die Grundrechte gehöre, von denen die Reichsregierung nach § 1 Abs. 1 Satz 2 ErmächtigungsG. habe abweichen dürfen. In der unter II des Rubrums bezeichneten Sache hat der Reichsminister der Finanzen bereits entschieden, daß der Klaganspruch unter die AbgErweitVO. falle. Der IV. Zivilsenat beabsichtigt deshalb, ohne mündliche Verhandlung anzuberaumen, die Sache an den Reichsminister der Finanzen, seinem Antrag entsprechend, zur Abgeltung abzugeben, sieht sich daran aber durch den Beschluß des III. Zivilsenats gehindert, der der Entscheidung des Reichsministers der Finanzen die Verbindlichkeit für die Gerichte abspricht. Der IV. Zivilsenat hat deshalb beschlossen, die Entscheidung der Vereinigten Zivilsenate über die Rechtsfrage einzuholen:

Ist § 2 AbgErweitVO. gültig?

Die Vereinigten Zivilsenate haben über die beiden ihnen vorgelegten Fragen gemeinschaftlich beraten. Zunächst ist beschlossen worden, die Fragestellung zu ändern. Die Fragen sind dahin gefaßt worden:

1. Ist § 1 AbgErweitVO. rechtsgültig?
2. Ist § 2 AbgErweitVO. im ganzen rechtsgültig?

Beide Fragen sind bejaht worden.

II.

Der I. Zivilsenat leitet die von ihm vertretene Ungültigkeit des § 1 AbgErweitVO. aus Art. 105 RVerf. her, während der III. Zivilsenat zwar den § 1, nicht aber den § 2 Abs. 1 Satz 2 Halbsatz 2 mit dieser Verfassungsvorschrift für vereinbar hält. Beide Senate gehen also davon aus, daß Art. 105 durch das ErmächtigungsG. unberührt geblieben sei. Hiergegen wendet sich der IV. Zivilsenat mit folgenden Ausführungen:

Das Ermächtigungsgesetz gestatte der Reichsregierung, von den Grundrechten der Reichsverfassung abzuweichen. Als Grundrechte seien aber auch die den einzelnen Staatsbürgern aus den Art. 103, 105 RVerf. erwachsenen Rechte anzusehen. Sie im 2. Hauptteile der RVerf., der von den Grundrechten und Grundpflichten handle, nochmals aufzuführen, sei kein Anlaß gewesen, nachdem sie bereits im 1. Hauptteil im Abschnitt über die Rechtspflege geregelt worden seien. Art. 105 entstamme dem § 16 GVG., der dem Art. 7 der Preußischen Verfassungsurkunde nachgebildet sei, der seinerseits dem Art. 8 der Belgischen Verfassung entnommen sei. Art. 8 der Belgischen Verfassung stehe im Titel 2 " des Belges et de leurs droits", Art. 7 der Preußischen Verfassung im Titel 2 "Von den Rechten der Preußen". Diese Rechte decken sich mit den Grundrechten. Es sei zudem nicht abzusehen, weshalb die Regierung, wenn sie sogar in die persönliche Freiheit (Art. 114 RVerf.) und in das Eigentum (Art. 153) einzugreifen befugt sei, nicht auch das Recht auf unbeschränktes richterliches Gehör solle einschränken dürfen.

Dieser Auffassung des IV. Zivilsenats ist nicht beizupflichten. Vielmehr muß Art. 105 RVerf. als eine Schranke für die durch das ErmächtigungsG. der Reichsregierung übertragene Verordnungsgewalt anerkannt werden, § 1 Abs. 1 Satz 2 ErmächtigungsG. gestattet ihr, von den Grundrechten der Reichsverfassung abzuweichen. Es kommt also lediglich darauf an, was die RVerf. unter Grundrechten versteht. Hierüber gibt ihre Einteilung den bündigsten Aufschluß. Der 1. Hauptteil, die Art. 1 bis 108 umfassend, ist überschrieben "Aufbau und Aufgaben des Reichs", der 2. Hauptteil, die Art. 109 bis 165 umfassend, "Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen". Aus diesem Gegensatz geht klar hervor, daß die Grundrechte in dem 2. Hauptteil der RVerf. geregelt sind, daß der 1. Hauptteil solche nicht gewährt. Die RVerf. spricht sich so unzweideutig aus, daß auf die Rechtsentwicklung kein Gewicht gelegt werden kann. Ältere Verfassungen mögen durch daß Verbot der Ausnahmegerichte und durch die Bestimmung, daß niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden solle, in erster Linie dem einzelnen Staatsbürger das Recht auf unbeschränktes richterliches Gehör haben geben wollen. Den in Art. 105 RVerf. enthaltenen Vorschriften fehlt diese subjektive Betonung. Sie sollen im allgemeinen Staatsinteresse die Rechtspflege vor unzulässigen Eingriffen schützen. Angesichts dieser positiven Regelung muß es auch als unerheblich bezeichnet werden, daß das ErmächtigungsG. vor anderen Bestimmungen der RVerf., die dem Art. 105 an Bedeutung vielleicht gleichkommen, nicht halt gemacht hat. Art. 105 enthält nun einmal keine Grundrechte im Sinne der RVerf. Deshalb bleibt ein Abweichen von ihm verboten.

III.

Die vom I. Zivilsenat im Hinblick auf Art. 105 RVerf. bestrittene Wirksamkeit des § 1 AbgErweitVO. folgt schon aus seinem materiellen Inhalt. Auf ihn hat bereits der Beschluß des III. Zivilsenats vom 25. Januar 1924 hingewiesen. Er ist aber in noch stärkerem Maße zu betonen, er bildet den wesentlichen Kern der ganzen Verordnung. Daß die in § 1 genannten Ansprüche abgegolten werden sollen, heißt, daß sie ihrer Natur als Rechtsansprüche entkleidet werden. Sie erlöschen in ihrer bisherigen Gestalt; an ihre Stelle tritt ein nicht klagbarer Anspruch auf eine nach billigem Ermessen unter Berücksichtigung insbesondere der Finanzlage des Reichs festzusetzende Entschädigung. Der Vorgang kann mit der Enteignung verglichen werden. Wie diese dem einzelnen sein Eigentum entzieht, wofür ihm dann eine angemessene Entschädigung gewährt wird, so nimmt die Anordnung der Abgeltung dem Gläubiger seine Forderung. Freilich bekommt er nicht, wie das bei der Enteignung übrigens auch nur die Regel ist (vgl. Art. 153 Abs. 2 Satz 2 RVerf.), einen Rechtsanspruch auf Entschädigung für den ihm zugefügten Vermögensnachteil. Immerhin soll ihm im Verwaltungsweg ein billiger Ausgleich gewährt werden. Dieser Eingriff in die Privatrechte der Gläubiger des Reichs wird durch das ErmächtigungsG. gedeckt. Sollte er Verfassungsvorschriften widersprechen, so doch nur solchen über Grundrechte, von denen das ErmächtigungsG. eine Abweichung gestattet.

Verlieren die Ansprüche gegen das Reich dadurch, daß sie der Abgeltung unterworfen werden, ihren Charakter als Rechtsansprüche, so ergibt sich daraus in prozessualer Hinsicht ohne weiteres, daß der Rechtsweg für sie nicht mehr gegeben ist. Vor den Gerichten können nur klagbare Ansprüche geltend gemacht werden. Ansprüche, die rechtlich nicht erzwingbar sind, die erst nach Grund und Betrag von einer Verwaltungsbehörde billigem Ermessen entsprechend festgesetzt werden, sind ihrer Natur nach schon der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte entzogen. Wenn § 1 AbgErweitVO. diese noch ausdrücklich ausschließt, so bestimmt er damit nichts selbständiges mehr, sondern spricht nur eine Folge aus, die mit der erfolgten materiellen Rechtsänderung notwendig verknüpft ist. Ein Widerspruch mit Art. 105 RVerf. kann, da die abzugeltenden Ansprüche der richterlichen Gewalt nicht mehr unterliegen, überhaupt nicht in Frage kommen.

Aber auch wenn man dem durch § 1 verordneten Ausschluß der Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte eigene Bedeutung beimessen wollte, so würde Art. 105 seiner Rechtsgültigkeit nicht im Wege stehen. Denn dem III. Zivilsenat ist darin beizupflichten, daß die RVerf. die Abgrenzung der Gerichtsbarkeit der ordentlichen Gerichte der Gesetzgebung des Reichs und der Länder überlassen hat. Die Art. 103 und 105 RVerf. entstammen den §§ 12 und 16 GVG. Unstreitig hatten diese keine weitergehende Bedeutung, sondern sagten nur: gesetzlicher Richter ist der jeweils gesetzlich bestimmte. Sie sind im wesentlichen wörtlich in die RVerf. übernommen worden. Die Verhandlungen der Verfassunggebenden Nationalversammlung, insbesondere auch ihres Verfassungsausschusses, geben keinen Anhalt dafür, daß man in der hier fraglichen Hinsicht sachlich etwas hat ändern wollen. Schon nach dieser Entstehungsgeschichte muß also angenommen werden, daß die Art. 103 und 105 sich in ihrer Bedeutung mit den angeführten Vorschriften des GVG. decken, daß sie, ebenso wie diese, über den Umfang der von den Gerichten auszuübenden Gerichtsbarkeit nichts sagen. Ihre Wiederholung in der RVerf. findet seine hinreichende Erklärung darin, daß man diesen als besonders wichtig anerkannten Rechtssitzen den erhöhten Schutz des Art. 76 RVerf. gegen Änderungen hat zuteil werden lassen wollen.

Die Ansicht des I. Zivilsenats, daß die bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten durch die RVerf. selbst den Gerichten übertragen seien und daß sie ihnen daher nur durch ein Verfassungsgesetz genommen werden könnten, würde nur dann haltbar sein, wenn sich der Umkreis der richterlichen Geschäfte aus den Art. 103 und 105 RVerf. unmittelbar bestimmen ließe. Das ist indessen nicht der Fall. Das von dem I. Zivilsenat besonders betonte Wort "Richter" in Art. 105 Satz 2 reicht ebensowenig wie das Wort "Gerichtsbarkeit" in Art. 103 aus, um den richterlichen Machtbereich mit genügender Sicherheit abzugrenzen. Das gilt zunächst für den Zivilprozeß.

Zu den bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten gehören nach dem geltenden Recht nicht bloß solche Rechtsstreitigkeiten, die aus einem Verhältnis des bürgerlichen Rechts hervorgehen, sondern in weitem Umfang auch solche, die einem Verhältnis des öffentlichen Rechts entspringen, wie umgekehrt Streitigkeiten des Privatrechts mehrfach den Gerichten entzogen und Verwaltungsinstanzen zugewiesen sind. Da die RVerf. an das geltende Recht anknüpft, so kann man, wenn man dem Art. 105 einen positiven Inhalt geben will, doch nur sagen, daß die Gewalt des Zivilrichters sich auf alle die Angelegenheiten erstreckt, die ihr nach dem gegenwärtigen Stande der Gesetzgebung unterworfen sind. Jede Änderung hierin bedürfte dann eines verfassungsändernden Reichsgesetzes. Diese Konsequenz erweist die Unhaltbarkeit des Ausgangspunktes. Es muß als ausgeschlossen bezeichnet werden, daß die gesamte Gesetzgebung über die Abgrenzung zwischen Justiz und Verwaltung unter verfassungsrechtlichen Schutz hat gestellt werden sollen. Unmöglich ist es anderseits aber auch, die bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten, die nach Auffassung des I. Zivilsenate durch die RVerf. den Gerichten überwiesen sein sollen, unabhängig vom geltenden Recht rein begrifflich zu bestimmen.

In ähnliche Schwierigkeiten gelangt man hinsichtlich der Strafgerichtsbarkeit, wenn man die Meinung des I. Zivilsenats durchzuführen versucht. Das geltende Recht kennt neben dem gerichtlichen auch ein Verwaltungsstrafverfahren. Es könnte, wenn die Art. 103 und 105 die gesamte Gerichtsbarkeit den Gerichten übertrügen, nur durch verfassungsänderndes Reichsgesetz geschaffen werden. Endlich bezieht sich Art. 103, wie die Weglassung des in § 12 GVG. gebrauchten Wortes "streitige" beweist, auch auf die freiwillige Gerichtsbarkeit. Wie sie nach der RVerf. umgrenzt werden sollte, ist nicht ersichtlich.

Die allgemeine Fassung der Art. 103 und 105 schließt es somit aus, schon aus ihnen die Gerichtsbarkeit der ordentlichen Gerichte inhaltlich zu bestimmen. Die RVerf. bedarf in diesem Punkte mit Notwendigkeit der Ergänzung durch die ordentliche Gesetzgebung. Erst sie besagt, wer gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 105 Satz 2 ist.

Auch zu Art. 105 Satz 1 steht § 1 AbgErweitVO. nicht in Widerspruch. Die mit der Abgeltung betraute Kommission ist schon deshalb kein nach der RVerf. unzulässiges Ausnahmegericht, weil sie keine richterlichen Aufgaben zu erfüllen hat. Sie setzt nur Entschädigungen für die von der AbgErweitVO. vorgenommenen Angriffe in Privatrechte fest, auf welche Entschädigungen, wie oben dargelegt, kein Rechtsanspruch mehr besteht.

Bemerkt mag schließlich noch werden, daß von dem Standpunkte des I. Zivilsenats aus auch dem allgemein als gültig anerkannten § 1 der Abgeltungsverordnung vom 4. Dezember 1919 die Anwendbarkeit hätte versagt werden müssen. Er schließt für die von ihm betroffenen Ansprüche gleichfalls den Rechtsweg aus, ohne, wie das § 2 nur für die Ansprüche der Unterlieferer gegen die Lieferer tut, eine Klage bei dem Reichswirtschaftsgericht zu gewähren.

Aus Art. 105 RVerf. sind demnach keine Bedenken gegen § 1 AbgErweitVO. herzuleiten. Die sonst gegen seine Rechtsgültigkeit erhobenen Einwendungen sind bereits in dem Beschlusse des III. Zivilsenats vom 25. Januar 1924 zutreffend widerlegt worden. Die den Vereinigten Zivilsenaten vorgelegte erste Rechtsfrage war also zu bejahen.

IV.

Den § 2 AbgErweitVO. beanstandet der III. Zivilsenat nur insoweit, als er bestimmt, daß die Entscheidungen des Reichsministers der Finanzen darüber, ob ein Anspruch nach § 1 Abs. 1 abzugelten sei, endgültig und für die Gerichte bindend seien. Er hält es nach Art. 105 RVerf. für unstatthaft, daß die Entscheidung über die Zulässigkeit des Rechtswegs einer Verwaltungsbehörde übertragen wird. Diese Beurteilung des § 2 wird jedoch der bereits bei der Erörterung des § 1 betonten materiellrechtlichen Bedeutung der AbgErweitVO. nicht gerecht. Die Anordnung der Abgeltung ist ein Eingriff in Privatrechte, in die Forderungen gegen das Reich. Wieweit sie der Abgeltung unterliegen, bestimmt zunächst die Verordnung selbst. Die genauere Abgrenzung hat sie aber dem Reichsminister der Finanzen überlassen. Seine in Streitfällen ergehende Entscheidung, daß ein Anspruch abzugelten sei, ist keine prozessuale, sondern eine materielle. Sie besagt, daß der Anspruch als Rechtsanspruch nicht mehr besteht. Mit dem der Enteignung ähnlichen Charakter der ganzen Maßregel ist es durchaus vereinbar, daß ihre Tragweite im einzelnen durch den Reichsminister der Finanzen bestimmt wird. Materiellrechtliche Bedenken sind dagegen nicht zu erheben. Ist aber durch die Entscheidung des Reichsministers der Finanzen festgestellt, daß ein Anspruch abzugelten sei, so ist damit einer Klage die sachliche Grundlage entzogen. Ein Anspruch, der vor Gericht geltend gemacht werden konnte, besteht nicht mehr. Für eine Entscheidung über die Zulässigkeit des Rechtswegs ist kein Raum.

Aber auch als Entscheidung in dem letztgedachten Sinne aufgefaßt, würde der Ausspruch des Reichsministers der Finanzen, daß ein Anspruch abzugelten sei, von den Gerichten als bindend anerkannt werden müssen. Wie im Gegensatz zum III. Zivilsenat anzunehmen ist, verbietet Art. 105 RVerf. nicht, die Entscheidung über die Zulässigkeit des Rechtswegs einer Verwaltungsbehörde zu übertragen. Daß Art. 105 dem § 16 GVG. entstammt, ist bereits hervorgehoben. § 16 besagt aber nicht schon, daß die Gerichte über die Zulässigkeit des Rechtswegs zu befinden hätten. Das ist erst in § 17 Abs. 1 GBG. bestimmt worden. Diese Vorschrift ist nicht in die Verfassung aufgenommen worden, sondern einfaches Gesetz geblieben, von dem die auf Grund des ErmächtigungsG. ergehenden Verordnungen der Reichsregierung abweichen durften.

Das Wesen der Gerichtsbarkeit erfordert es nicht etwa mit Notwendigkeit, die Entscheidung über die Zulässigkeit des Rechtswegs in die Hand der Gerichte zu legen. Justiz und Verwaltung sind gleichgeordnete Zweige staatlicher Tätigkeit. Die Grenzziehung zwischen ihnen in Zweifelsfällen kann sowohl den Gerichten wie den Verwaltungsbehörden oder auch besonderen Behörden (den sog. Kompetenzgerichtshöfen) übertragen werden. Es ist Sache der Gesetzgebung, eine dieser Möglichkeit zu wühlen, damit ein reibungsloses Zusammenwirken der verschiedenen staatlichen Organe sichergestellt wird. Daß es nach der RVerf. unzulässig wäre, die Gerichte in dieser Hinsicht an die Entscheidungen anderer Behörden zu binden, kann nicht zugegeben werden. Die Entscheidung der gesetzlich bestimmten Stelle besagt erst, ob ein gesetzlicher Richter im Sinne des Art. 105 vorhanden ist. Verneint sie die Zuständigkeit der Gerichte, so ist bindend festgestellt, daß es an einem solchen Richter in diesem Falle fehlt. Ihre Entscheidung kann einen Verstoß gegen Art. 105 Satz 2 RVerf. niemals enthalten.

§ 2 AbgErweitVO. ist demnach in vollem Umfange rechtsgültig. Auch die zweite den Vereinigten Zivilsenaten vorgelegte Rechtsfrage war also zu bejahen.