RG, 11.10.1880 - Va 245/79

Daten
Fall: 
Preis und Interesse
Fundstellen: 
RGZ 3, 239
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
11.10.1880
Aktenzeichen: 
Va 245/79
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • KreisG Flatow
  • Appellationsgericht Marienwerder
Stichwörter: 
  • Abgrenzung von gemeinem Wert (Preis) und außerordentlichem Wert (Interesse)

Ist für die Vergütung expropriierter Grundstücke die Zeit der Expropriation unbedingt entscheidend? Unterschied von gemeinem Wert (Preis) und außerordentlichem Wert (Interesse).

Aus den Gründen

"Das Landgut des Klägers ist von einer Eisenbahnanlage des Beklagten so durchschnitten, daß zwei Ackerparzellen desselben durch den Bahnkörper von dem Gehöft getrennt sind. Der Kläger, dem nur das Terrain des Bahnkörpers expropriert und vergütet ist, fordert mit der Klage eine weitere Kapitalsentschädigung dafür, daß er infolge der Bahnanlage, um von dem Gehöft zu den gedachten Ackerparzellen zu gelangen, einen Umweg zurücklegen und neben der Eisenbahn einen neuen Parallelweg auf seinem Terrain herstellen müsse. Er hat jedoch nachträglich eingeräumt, daß die bezeichneten Ackerparzellen nach der Expropriation von ihm veräußert sind.

Der Appellationsrichter hält den geltend gemachten Anspruch nach §. 9. I. 11 und §. 114. I. 2 A.L.R. an sich für zulässig, aber durch die gedachte Veräußerung für ausgeschlossen, weil damit für den Kläger die Notwendigkeit des Umweges und der neuen Wegeanlage weggefallen sei.

Die Nichtigkeitsbeschwerde rügt die Verletzung von Bestimmungen des A.L.R.'s, aus welchen sich ergeben soll, daß die Entschädigung des Expropriaten nach den Verhältnissen zur Zeit der Enteignung bez. der Besitzergreifung des enteigneten Terrains festzustellen sei. Jedoch mit Unrecht.

Der §.75 der Einleitung zum A.L.R. erkennt nur im allgemeinen die Entschädigungspflicht des Staats bei Enteignungen an und die §§. 8 und 9. I. 11 bestimmen, daß die Entschädigungssumme durch Taxatoren, unter Berücksichtigung des gemeinen und außerordentlichen Werts, ermittelt werden soll. In den §§. 111. 114. I. 2 bez. §§. 1. 5 und 7 I. 6 sind nur die Begriffe des Werts, des außerordentlichen Werts, des Schadens, des entgangenen Gewinns und der vollständigen Genugthuung festgestellt und der §. 89. I. 6 betrifft den Fall der Minderung des Werts einer Sache. Darüber, welche Zeitverhältnisse für die Entschädigung des Expropriaten maßgebend seien, spricht sich keine dieser Vorschriften aus.

In letzterer Beziehung muß zwischen dem Ansprüche auf den gemeinen Wert und demjenigen, welcher den außerordentlichen Wert zum Gegenstande hat, unterschieden werden.

Das A.L.R. I. 2 bezeichnet als Wert einer Sache den Nutzen, welchen sie ihrem Besitzer gewähren kann (§. 111), und zwar als gemeinen Wert denjenigen, welchen sie jedem Besitzer (§. 112), als außerordentlichen den, welchen sie nur unter gewissen Bestimmungen oder Verhältnissen (§. 114), d. h. im Gegensatz zu §§. 111 und 112, nicht jedem, sondern nur einem bestimmten Besitzer, mit Rücksicht auf subjektive Verhältnisse oder besondere Bestimmungen, zu leisten imstande ist. (Vergleiche die Entscheidung des Obertribunals Band 73, Seite 152.)

Den gemeinen Wert einer Sache bildet danach der übliche oder angemessene Preis derselben (" pretium" oder "verum rei pretium") bei Waren der Markt- oder Ladenpreis (A.L.R. I. 6. §. 83), und bei anderen Sachen dem entsprechend der mit Rücksicht auf ihre objektive Beschaffenheit und Eigenschaft im gewöhnlichen Geschäftsverkehr für gleichartige Sachen zu erzielende, nötigenfalls durch das Gutachten Sachverständiger zu ermittelnde Preis (vergleiche §. 84 das.).

Bei der Schätzung des gemeinen Werts eines enteigneten Grundstücks ist auf die Zeit der Enteignung deshalb Rücksicht zu nehmen, weil durch die Vergütung desselben der Eigentümer denjenigen Preis erhalten soll, welchen er erzielen konnte, wenn er damals sein Grundstück im gewöhnlichen Geschäftsverkehr verkauft hätte.

Anders verhält es sich mit dem außerordentlichen Werte. Derselbe ist identisch mit dem Interesse. Die Forderung des außerordentlichen Werts ist der Anspruch auf Ersatz der Nachteile, welche einem bestimmten Eigentümer wegen seiner besonderen Verhältnisse oder mit Rücksicht auf besondere, ihn persönlich betreffende Bestimmungen erwachsen sind. Bei der Feststellung dieser Nachteile ist die Zeit ihrer Entstehung und ihre Dauer zu berücksichtigen.

Um einen Anspruch der letzteren Art handelt es sich hier. Denn der Kläger verlangt mit Rücksicht auf das früher für ihn bestehende besondere Verhältnis, daß die fraglichen Ackerparzellen einen Bestandteil seines zusammenhängenden Gutskomplexes bildeten und von ihm als solche bewirtschaftet wurden, die Erstattung der Schäden, welche ihm infolge der Expropriation dadurch entstanden sind, daß das enteignete Terrain diese Parzellen vom Gutshofe abgeschnitten hat. Er räumt aber selbst ein, daß er dieselben nach der Expropriation veräußert und hierdurch das bezeichnete, seinem Ansprüche zum Grunde liegende besondere Verhältnis, wonach er sie als Teile seines Guts benutzte, aufgehoben hat.

Es ist daher ungerechtfertigt, wenn er die fraglichen Nachteile dennoch als dauernde Schäden behandelt wissen will, für welche ihm eine Kapitalvergütung zu gewähren sei. Vielmehr war er nur befugt, dieselben für die Zeit zu berechnen, während welcher das gedachte Verhältnis für ihn bestand.

Da er dies nicht gethan hat, so muß er mit seinem Anspruche abgewiesen werden. Die Entscheidung des Appellationsrichters steht mit den erwähnten Vorschriften im Einklang."