RG, 22.06.1880 - IVa 107/79

Daten
Fall: 
Begrenzung der Anwendbarkeit des Art. 319 I HGB
Fundstellen: 
RGZ 2, 43
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
22.06.1880
Aktenzeichen: 
IVa 107/79
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • KreisG Dramburg
  • Appellationsgericht Köslin

Begrenzung der Anwendbarkeit des Art. 319 Abs. 1 H.G.B.

Aus den Gründen

"Der Appellationsrichter hat thatsächlich festgestellt, daß der Beklagte von seinem Wohnsitz in Pommern aus mittels Postkarte vom 2. Mai 1878 bei der in Staßfurt (Prov. Sachsen) domizilierenden Klägerin umgehende Sendung von 100 Ztr. guten Kainit bestellt, daß die Klägerin diese Postkarte am 4, Mai nachmittags erhalten und die Ware, weil der 5. Mai ein Sonntag war, am 6. rechtzeitig abgesendet hat. Er nimmt jedoch an:

die Klägerin sei nach Art. 319 H.G.B. verpflichtet gewesen, dem Beklagten alsbald die Annahme des Antrages zu erklären; sie hätte also ein Annahmeschreiben noch am 4. Mai auf die Post geben müssen. Hätte sie dies gethan, so wäre dasselbe spätestens am 7. Mai bei dem Beklagten eingetroffen. Bis zu diesem Tage sei daher der Beklagte gebunden gewesen. Die Klägerin habe aber erst durch Schreiben vom 8. Mai, also zu spät, und zwar unter Übersendung der Faktur, dahin geantwortet, daß sie die Sendung effektuiert habe. Die Absendung der Ware enthalte zwar eine stillschweigende Annahme des Antrages. Diese stillschweigende Annahme könne aber dem Beklagten gegenüber erst von dem Zeitpunkte an in Betracht kommen, wo er davon Kenntnis erhielt; dies sei nach der - vom Beklagten bestrittenen - Behauptung der Klägerin erst am 9. Mai, also zu einer Zeit geschehen, wo der Beklagte an seinen Antrag nicht mehr gebunden gewesen sei.

Diese Ausführung enthält eine unpassende Anwendung des Art. 319, den der Appellationsrichter mißverstanden hat.

Der Art. 319 Abs. 1, wonach bei einem unter Abwesenden gestellten Antrage der Antragende bis zu dem Zeitpunkte gebunden bleibt, in welchem er bei ordnungsmäßiger rechtzeitiger Absendung der Antwort den Eingang der letzteren erwarten darf, bezieht sich sowohl nach seiner Fassung, als nach dem Zusammenhange mit den nachfolgenden Artt. 320-322, auf die Fälle, in welchen der Antragende eine Antwort, das heißt eine Annahmeerklärung erwartet. In diesen Fällen entbindet stillschweigende Annahme, durch Beginn der Erfüllung, also bei Bestellung von Waren Absendung der Ware, nicht von der Annahme erklärung. Die Vorschrift bezieht sich aber nicht auf die im Geschäftsverkehr viel häufigeren Fälle, in denen die Effektuierung der Bestellung die Annahme sein soll und eine Erklärung nur dann erwartet wird, wenn der Bestellungsempfänger die Effektuierung ablehnt. In solchen Fällen bringt die Effektuierung der Bestellung als stillschweigende Annahme den Vertrag sofort zur Perfektion.

Entsch. des R.O.H.G. Bd. 14 S. 301, Bd. 18 S. 246; von Hahn, Kommentar 2. Aufl. Bd. II zu Art. 319 §. 13, zu Art. 320 §. 4; Sohm in der Zeitschrift für das ges. Handelsrecht Bd. 17 S. 93-95,106; Anschütz und Völderndorff, Kommentar Bd. III S. 223 subVII. (Abweichend: Thöl, Handelsrecht 6. Aufl. Bd. I S. 745 und Note 6 S. 749.)

Der Appellationsrichter hätte daher zunächst den Sinn der vorliegenden Bestellung in dieser Richtung untersuchen müssen, nicht aber, wie geschehen, ohne die Feststellung, daß der Klägerin das Verlangen einer Annahme erklärung erkennbar oder letztere nach der Lage des Falls erforderlich gewesen sei, den Art. 319 wie eine absolute Regel anwenden dürfen.

Die Rüge einer Verletzung dieser Gesetzesvorschrift ist also begründet, und das angefochtene Erkenntnis muß vernichtet werden.

In der Sache selbst erscheint der Anspruch der Klägerin begründet. Die Bestellung des Beklagten lautete:

"Senden Sie mir umgehend 100 Ztr. guten Kainit, Bezahlung nach Ihrer Bestimmung." Die Postkarte traf unbestritten am 4. Mai bei der Klägerin ein, der 5. Mai war ein Sonntag, am 6. Mai erfolgte die Absendung. Daß diese Absendung eine rechtzeitige gewesen, anerkennt auch der Beklagte. Er hält sich nur deshalb nicht gebunden, weil Klägerin die Antwort auf den Antrag nicht rechtzeitig abgesandt habe. Die Weigerung ist aber unbegründet. Denn die Bestellung ergiebt klar, daß der Beklagte eine Antwort (Annahme- Erklärung) nicht erwartet hat; er hat die umgehende Absendung verlangt und damit ausgedrückt, daß die Absendung allein die Annahme der Offerte sein soll; eine Annahme-Erklärung außerdem hat er so wenig erwartet, daß er sich im Bestellschreiben schon im voraus der Bestimmung der Klägerin über die Zahlung unterwarf.

Auf einen solchen Fall findet Art. 319, wie bei Prüfung der Nichtigkeitsbeschwerde gezeigt worden ist, keine Anwendung.

Der Vertrag ist daher durch die rechtzeitige Absendung der Ware zustande gekommen. Das Schreiben der Klägerin vom 8. Mai 1873 ist keine Annahmeerklärung, sondern das geschäftsübliche Avisschreiben über die erfolgte Absendung der Ware, Die Weigerung der Vertragserfüllung ist also unbegründet."