RG, 13.04.1880 - II 334/79

Daten
Fall: 
Schmerzensgeld und Entschädigung für körperliche Verunstaltung neben Schadensersatz
Fundstellen: 
RGZ 1, 276
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
13.04.1880
Aktenzeichen: 
II 334/79
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • Handelsgericht Dresden
  • Appellationsgericht Dresden

1. Kann im Falle des §. 1 des Haftpflichtgesetzes außer dem nach §. 3 Ziffer 2 zu leistenden Schadensersatz noch Schmerzensgeld und Entschädigung für körperliche Verunstaltung auf Grund der Bestimmungen des sächsischen bürgerlichen Gesetzbuches beansprucht werden?
2. Ist ein eigenes Verschulden des verletzten, noch nicht sieben Jahre alten Kindes möglich?
3. Begriff der höheren Gewalt.

Aus den Gründen

"Durch das Zugeständnis der Beklagten steht fest, daß der Sohn des Klägers beim Überschreiten der Bahn von einem vorübergehenden Zuge erfaßt worden ist und dabei, mithin beim Betriebe der Eisenbahn, eine schwere Körperverletzung erlitten hat. Gemäß §§. 1 und 3 Nr. 2 des Reichsgesetzes vom 7. Juni 1871 haftet daher die Beklagte, sofern sie sich nicht durch den Beweis zu befreien vermag, daß der Unfall durch höhere Gewalt oder eigenes Verschulden des Verletzten verursacht sei, für den Ersatz der Heilungskosten und des Vermögensnachteiles, welchen der Verletzte durch die infolge der Verletzung eingetretene Verminderung der Erwerbsfähigkeit erleidet. Die Klage geht aber weiter, indem auf Grund der §§. 1489 und 1490 des sächsischen bürg. G.B.'s auch Schmerzensgeld und Ersatz für die erlittene körperliche Verunstaltung gefordert wird.

Was mm zunächst die Berufung der Beklagten betrifft, so muß der letzterwähnte, weiter gehende Klageanspruch mit dem vorigen Richter als zulässig erachtet werden. Laut §. 9 des Haftpflichtgesetzes bleiben die Bestimmungen der Landesgesetze, nach welchen außer den in diesem Gesetze vorgesehenen Fällen der Unternehmer einer in den §§. 1 und 2 bezeichneten Anlage, insbesondere wegen eines eigenen Verschuldens, für den bei dem Betriebe der Anlage durch Körperverletzung eines Menschen entstandenen Schaden haftet, unberührt, und die Schlußbestimmung des §. 9 hält in diesen Fällen ausdrücklich diejenigen Bestimmungen der Landesgesetze aufrecht, welche dem Beschädigten einen höheren Ersatzanspruch gewähren. Nun nimmt die sächsische Praxis an, daß wegen der besonderen, mit dem Betriebe einer Eisenbahn verbundenen Gefahren der Unternehmer einer Eisenbahn sich gefallen lassen müsse, für den bei dem Betriebe, sei es durch seine eigene oder seines Dienstpersonales Schuld entstandenen Schaden als Urheber haftbar gemacht zu werden, und diese Auslegung der §§. 1483 ff. des bürg. G.B.'s findet auch auf die Beklagte, ungeachtet ihrer Eigenschaft als Aktiengesellschaft, Anwendung, sofern ein Verschulden ihrer Vertreter oder ihres Personales dargethan werden kann. Zu den im §. 1 des Haftpflichtgesetzes enthaltenen Voraussetzungen tritt eine neue, das Verschulden, hinzu; es liegt mithin nicht ausschließlich der Fall des §. 1 vor, und hieraus rechtfertigt sich die Zulässigkeit des höheren Ersatzanspruches, ohne daß die im §. 9 gebrauchten Worte "außer den in diesem Gesetze vorgesehenen Fällen" entgegenstehen.

Mit Recht hat auch das Appellationsgericht entschieden, daß ein weiterer Beweis des Verschuldens mit Rücksicht auf die zugestandenen Thatsachen dem Kläger nicht obliege; ein solches vielmehr anzunehmen sei, wenn die vom Kläger unter Eidesantrag aufgestellte, von der Beklagten geleugnete Behauptung, daß der Knabe auf dem durch die Barriere nicht verschlossenen Theile des Weges den Bahnübergang betreten habe, in Wahrheit beruhen sollte.

Die Beklagte hat sich ferner darüber beschwert, daß ihr nur zur Entkräftung der auf Schmerzensgeld und Verunstaltungsentschädigung gerichteten, nicht auch der aus dem Reichsgesetze hergeleiteten Ansprüche gestattet worden sei, ihre abweichende Darstellung des Vorfalles in der Gewissensvertretung auszuführen und zugleich den Beweis ihres eigenen Vorbringens anzutreten. Dieses Vorbringen geht im wesentlichen dahin, daß der Knabe nicht aus dem ungesperrten Bahnübergang, sondern von einer anderen Richtung her, und zwar auf einem, dem Publikum unzugänglichen, nicht erlaubten Wege auf das Bahngeleis plötzlich in dem Momente gelangt sei, wo der Zug Nr. 7 eben den Niveauübergang passierte, daß der eine Flügel der Barriere wegen Umbaues derselben nicht geschlossen werden konnte, daß aber der Bahnwärter Z. den nicht geschlossenen Teil der Barriere aufmerksam bewacht habe. Indessen konnten diese Thatsachen nicht zu dem nach §. 1 des Haftpflichtgesetzes gestatteten Entlastungsbeweis dienen. Ein eigenes Verschulden des Knaben, welcher zur Zeit des Unfalles noch nicht 7 Jahre alt war, ist durch §§. 47. 81 und 119 des bürg. G.B.'s ausgeschlossen, und die Annahme höherer Gewalt läßt sich aus den angeführten Thatsachen, wenn dieselben auch in ihrem Zusammenhange je nach dem Ergebnis des Beweisverfahrens geeignet sein mögen, die Behauptung eines Verschuldens des Bahnpersonales zu widerlegen, nicht rechtfertigen. Der Mangel eines Verschuldens fällt mit dem Begriffe der höheren Gewalt keineswegs zusammen; es würde sich im Falle der Richtigkeit der Darstellung der Beklagten nicht einmal mit Sicherheit ergeben, daß der Unfall, welcher sich danach auf dem Niveauübergang ereignet hat, nicht durch Mittel, deren Anwendung nach den allgemeinen Verkehrsanschauungen für die Betriebsverwaltung ratsam und möglich gewesen wäre, hätte verhütet werden können. Die Beklagte kann sich daher auf "höhere Gewalt" nicht berufen, auch wenn man diese Worte nicht in der Bedeutung versteht, wonach dazu die objektive Unmöglichkeit der Abwendung des Unfalles gehört. - Ein eigenes Verschulden des Vaters des Verletzten könnte höchstens für dessen persönliche, auf Ersatz der Kur- und Wegekosten gerichtete Forderung von Erheblichkeit sein, kann aber nicht schon darin gefunden werden, daß der Knabe ohne Begleitung nach dem nahe gelegenen Orte entsendet worden ist."