RG, 22.11.1917 - VI 298/17

Daten
Fall: 
Telegraphenbauführer
Fundstellen: 
RGZ 91, 273
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
22.11.1917
Aktenzeichen: 
VI 298/17
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG II Berlin
  • Kammergericht Berlin

Ist das Reichsgesetz vom 22. Mai 1910 über die Haftung des Reichs für seine Beamten anwendbar, wenn ein Telegraphenbauführer bei Überwachung von Kabellegungsarbeiten die Fürsorge für die Sicherheit des Straßenverkehrs vernachlässigt?

Tatbestand

Im November 1914 stürzte der Kläger in eine Baugrube, die auf dem Bürgersteige zur Verlegung des Telegraphenkabels ausgehoben war, und zog sich Verletzungen zu. Die Kabelarbeiten wurden im Auftrage des verklagten Reichspostfiskus unter Aufsicht eines von der Telegraphenverwaltung bestellten Telegraphenbauführers vorgenommen. Gegenüber der Klage auf Schadensersatz trat der Beklagte hinsichtlich dieses Bauführers den Entlastungsbeweis des § 831 Abs. 1 Satz 2 BGB. an. Ohne hierauf einzugehen, gab das Kammergericht der Klage statt, indem es den Fall dem Reichsgesetz über die Haftung des Reichs für seine Beamten unterstellte. Auf die Revision des Beklagten wurde die Sache in die Vorinstanz zurückverwiesen.

Aus den Gründen

... "Die Anwendbarkeit des Reichsgesetzes vom 22. Mai 1910 ist entgegen der Rechtsansicht des Berufungsgerichts zu verneinen, weil sich der Telegraphenbauführer bei der in Betracht kommenden Amtsverrichtung im Sinne des Gesetzes nicht "in Ausübung öffentlicher Gewalt" befunden hat.

Der hervorgehobene Ausdruck ist im Gesetz im gleichen Sinne gebraucht wie in Art. 77 EG. z. BGB. und in § 1 des preußischen Gesetzes über die Haftung des Staates und anderer Verbände für Amtspflichtverletzungen von Beamten bei Ausübung der öffentlichen Gewalt vom 1. August 1909. Den Sinn der damit gemeinten Einschränkung bezeichnet schon die Regierungsbegründung zum Entwurfe des Gesetzes (§ 1) zutreffend als diejenige Sphäre staatlicher Wirksamkeit, die zum Unterschiede von anderen Seiten der Staatstätigkeit, welche dem allgemeinen Rechts- und Wirtschaftsverkehr angehören, dem Staate als solchem eigentümlich ist. Diese Unterscheidung ist auch in der Rechtsprechung des Reichsgerichts wiederholt erörtert worden, nicht nur mit Bezug auf Art. 77 EG. z. BGB. und auf die genannten Gesetze vom 1. August 1909 und 22. Mai 1910, sondern auch schon für das ältere Recht. Zum preußischen Rechte s. die in RGZ. Bd. 71 S. 46 angeführten Entscheidungen; zu code civil Art. 1384 vgl. RGZ. Bd. 54 S. 19, Bd. 56 S. 84, Bd. 57 S. 154 u. a; im übrigen sei aus der neueren Rechtsprechung auf RGZ. Bd. 55 S. 171. Bd. 56 S. 215, Ad. 67 S. 141. Bd. 68 S. 277, Bd. 71 S. 44, Bd. 72 S. 347, Bd. 78 S. 325 hingewiesen. Zum preußischen Gesetze vom 1. August 1909 vgl. namentlich RGZ. Bd. 84 S. 28, Bd. 89 S. 219, Leipz. Zeitschr. Bd. 8 S. 1714; zum Reichsgesetze vom 22. Mai 1910 vgl. RGZ. Bd. 86 S.122, Bd. 87 S. 347, auch Warneyer 1913 Nr. 271. In dieser jüngsten Rechtsprechung ist grundsätzlich hervorgehoben worden, daß der Ausdruck "öffentliche Gewalt" nicht etwa in dem engen Sinne zu deuten sei, als müsse es sich um Ausübung einer obrigkeitlichen Gewalt handeln. Getroffen werde das gesamte, nicht von §§ 31, 89 BGB. umspannte Gebiet amtlicher Tätigkeit des Beamten, mithin jede Amtsausübung, die sich nicht als Wahrnehmung privatrechtlicher Interessen des Staates, (oder sonstigen Verbandes) darstelle. Dieses gesamte übrige Gebiet sei es, auf dem der Beamte als "Träger öffentlicher Machtbefugnisse" oder "in Ausübung der ihm anvertrauten öffentlichen Gewalt" handle. Nicht nur die einen Zwangscharakter tragende obrigkeitliche Gewalt falle darunter, sondern auch jede Betätigung staatlichen Schutzes, staatlicher Fürsorge. Diese Haftung einerseits, jene aus §§ 31, 89 BGB. anderseits sollten zusammen das ganze Gebiet staatlicher Verwaltungstätigkeit decken; zu der Haftung aus §§ 31, 89 BGB. gehöre die privatrechtlich geordnete Seite, zu der aus Gewaltausübung alles übrige.

Diese in der Rechtsprechung des Reichsgerichts herausgestellten Grundsätze sind auch für die Entscheidung des vorliegenden Falles maßgebend.

Anlangend die rechtliche Eigenart der staatlichen Tätigkeit auf dem Gebiete der Post- und Telegraphenverwaltung, so tritt in der gegenwärtigen Lehre des öffentlichen Rechtes eine Meinungsverschiedenheit zutage. Nach der einen Auffassung betreibt das Reich (der Staat) die Post als privatwirtschaftliches Gewerbe. Dabei handelt es sich um keine Betätigung eines Hoheitsrechts, d. h. einer Herrschaft über Land und Leute. Der Staat übt keinen Zwang aus, tritt zu den Untertanen in ein rechtliches Verhältnis nur durch Vertrag, niemals durch Befehl, und steht ihnen bei allen von der Post- und Telegraphenverwaltung zu leistenden Verrichtungen nicht als übergeordneter Herr, sondern als gleichberechtigter Kontrahent gegenüber. Die öffentliche Gewalt, welche der (Reichs-)Beamte kraft des ihm übertragenen Amtes ausübt, wird in Gegensatz gestellt zu der Vertretung des Reichsfiskus in wirtschaftlichen oder technischen Amtsverrichtungen, namentlich in den Betriebsanstalten und wissenschaftlichen Anstalten des Reichs (so Laband, Staatsrecht des deutschen Reichs, 5. Aufl. Bd. 1 S. 479, Bd. 3 S.50 flg.; vgl. auch z.B. RGZ. Bd. 73 S. 270. Bd. 70 S. 397). Nach einer anderen Betrachtungsweise, ausschließlich auf öffentlichrechtliche Gesichtspunkte eingestellt, wird die gesamte Benutzung und Benutzbarkeit der Post als öffentlicher Anstalt unter Ablehnung zivilistischer Rechtskategorien wie Vertrag und Obligation auf öffentlichrechtliche Ordnung zurückgeführt, neben der übrigens auch bürgerliches Recht auf ihre Beziehungen anwendbar werden kann. Die öffentlichrechtlich geordnete Leistung der Anstalt als solcher gehört zur öffentlichen Verwaltung, im Gegensatz zu privatwirtschaftlicher, fiskalischer Tätigkeit, und fällt damit unter den Begriff der Ausübung öffentlicher Gewalt im Sinne der auf die Haftung des Staates usw. bezüglichen Gesetzgebung (vgl. Otto Mayer, Lehrbuch des deutschen Verwaltungsrechts, 2. Aufl. Bd. 2 §§ 51, 52, bes. S. 473, 513 und Anm. 32 das.).

Für die Beurteilung der vorliegenden Frage kommt es auf diese grundsätzliche Betrachtungsweise entscheidend nicht an. Daß nämlich auch bei einem im allgemeinen öffentlichrechtlich geordneten Anstaltsbetrieb innerhalb desselben privatrechtlich geordnete Beziehungen für die Post möglich sind, wird auch von den Vertretern der zweiten Auffassung nicht verkannt. Und daß anderseits auch bei einer im übrigen privatrechtlichen Betrachtungsweise die Ausübung öffentlicher Gewalt durch Beamte der staatlichen Post- und Telegraphenverwaltung nicht ausgeschlossen ist, zeigen zum mindesten die Zwangsbefugnisse, die jener in mancher Beziehung eingeräumt sind und von denen hier, wo es sich um die Legung eines Telegraphenkabels handelt, insbesondere die des Telegraphenweggesetzes vom 18. Dezember 1899 §§ 1, 8, 11, 12, § 19 Abs. 2 hervorgehoben sein mögen. Sie sind nur mittels öffentlicher "Gewalt" durchzusetzen, können also jedenfalls zur Ausübung solcher führen. Wie daher auch die Staatstätigkeit auf dem Gebiete der Post- und Telegraphenverwaltung im allgemeinen betrachtet werden mag, jedenfalls erhellt so viel, daß in gewisser Richtung auch bei der Amtstätigkeit der Post- und Telegraphenbeamten die Ausübung öffentlicher Gewalt hervortreten kann. Nur da aber, wo es sich um einen von dem Beamten in Ausübung der ihm anvertrauten öffentlichen Gewalt zugefügten Schaden handelt ist die Haftung des Reichs aus dem Gesetze vom 22. Mai 1910 gegeben.

Die Entscheidung im gegebenen Falle hängt mithin davon ab, ob die konkrete schadenstiftende Handlung des Telegraphenbauführers in Ausübung öffentlicher Gewalt geschehen ist. Dies ist zu verneinen. Unstreitig hatte er die Arbeiten zur Legung eines Telegraphenkabels zu leiten und hierbei, da sie auf öffentlicher Straße geschahen, die zur Sicherung des Verkehrs vorgeschriebenen Maßnahmen zu treffen. Indem er dies nur unvollkommen tat, hat er den Unfall des Klägers verschuldet. Bei dieser Verrichtung hatte er nur zur Wahrnehmung privatrechtlicher Interessen der Telegraphenverwaltung tätig zu sein, nämlich zur Erfüllung der ihr für die Sicherung des Straßenverkehrs obliegenden privatrechtlichen Verpflichtungen. Bei der Vornahme der fraglichen Arbeit auf der Straße war die Telegraphenverwaltung insoweit rechtlich nicht anders gestellt als ein privater Unternehmer, ihr Bauführer nicht anders als der Angestellte eines privaten Unternehmers. Wie diese war er der privatrechtlichen Verpflichtung, die körperliche Unversehrtheit und das Eigentum der Straßenpassanten zu achten, sowie der Strafvorschrift des § 367 Nr. 12 StGB, unterworfen. Die Aufgabe, den durch die Arbeiten gestörten und gefährdeten Straßenverkehr zu sichern, gehörte insgesamt lediglich dem privatrechtlichen Gebiet an. Davon, daß der Telegraphenbauführer hier als Staatsorgan zur Ausübung von Machtbefugnissen des Reiches gehandelt oder zu handeln gehabt hätte, erhellt nichts. Die oben erwähnten Zwangsbefugnisse (TelWG. bes.- § 1) sind rechtlich bestimmend für das Verhältnis der Telegraphenverwaltung zur Stadtgemeinde; diese kann unter den im Gesetze geregelten Voraussetzungen die Arbeiten auf ihren Straßen nicht verhindern oder verbieten. Dem Straßenpublikum gegenüber steht dagegen die Telegraphenverwaltung schlechthin unter Privatrecht, wie dies auch ihre Dienstvorschriften (Telegraphenbauordnung S. 159 Abs. 6, Allgemeine Dienstanweisung für die Post Abschn. VII 1 § 12) anerkennen. Für die Haftung hiernach aber sind dem Reichsfiskus gegenüber die §§ 31, 89, 831 BGB. maßgebend (vgl. auch die in anderem Zusammenhange stehenden Ausführungen RGZ. Bd. 84 S. 86 unter 1).

Für die entgegengesetzte Auffassung beruft sich der Vorderrichter zu Unrecht auf die Entscheidung des III. Zivilsenats bei Warneyer 1912 Nr. 74. die einen anderen Fall betrifft, indem sie sich auf § 39 Nr. 3 des preußischen AG. z. GVG. (GS. 1878 S. 230) verb. mit § 517 Nr. 2 ZPO. gründet. Dort wird von einem für die Leitung von Telephonarbeiten verantwortlichen Postbeamten gesagt, daß die ihm zur Last fallende Unterlassung seine Amtspflichten d. h. Pflichten verletzt habe, die ihm kraft seines Amtes als Postassistent und Leiters der Telephonarbeiten oblagen und insoweit in öffentlichrechtlichen Normen wurzelten. Daß aber um deswillen auch ein Fall der Ausübung öffentlicher Gemalt vorgelegen habe, ein in diesem Sinne engerer Ausschnitt jener Amtstätigkeit, wird nicht ausgesprochen. Nach der Betrachtungsweise jener Entscheidung wird lediglich die öffentlichrechtliche Beamtenstellung als solche im Sinne des § 39 Nr. 3 preuß. AG. z. GVG. in Gegensatz gestellt zu der Stellung eines bloß privatrechtlichen Erfüllungsgehilfen in einem wenngleich staatlichen Gewerbebetrieb im Sinne des § 278 BGB." ...