RG, 09.07.1920 - VII 73/20

Daten
Fall: 
Haftung eines Vorsorgeversicherers
Fundstellen: 
RGZ 100, 29
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
09.07.1920
Aktenzeichen: 
VII 73/20
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • Landgericht Stuttgart
  • Oberlandesgericht Stuttgart

Haftet bei der Vorsorgeversicherung der Versicherer, wenn der gefährliche, der behördlichen Genehmigung bedürfende Betrieb, durch den der Schaden verursacht worden ist, ohne behördliche Genehmigung erfolgt ist?

Tatbestand

Der Erblasser der jetzigen Klägerin, Wilhelm Sch., war in seiner Eigenschaft als Unternehmer einer Korkfabrik in Liebenzell bei der Beklagten von 1906 an auf 10 Jahre gegen gesetzliche Unfallhaftpflicht versichert. Damit war eine sogenannte Vorsorgeversicherung verbunden, wonach sich die Versicherung auf jede gesetzliche Haftpflicht wegen Tötung oder Beschädigung von Personen erstreckte, welcher der Versicherungsnehmer in anderen als den im Versicherungsschein genannten Eigenschaften ausgesetzt sein kann. Im Jahre 1908 begann Sch., der bis dahin nur Korkwaren hergestellt hatte, auch einen Handel mit Knallkorken, die er zunächst in fertigem Zustande von auswärts bezog; sie waren mit einer leicht entzündlichen Sprengmasse gefüllt und zersprangen beim Auswerfen auf dem Boden mit einem Knall. Im April 1911 ging Sch. dazu über, diese Knallkorken in seiner eigenen Fabrik herzustellen und zu vertreiben. Im Juni 1911 explodierten zwei seiner Sendungen mit Knallkorken. Dabei wurde ein Oberpostschaffner schwer verletzt und ein Rollkutscher getötet. Sch, ist dieserhalb wegen fahrlässiger Körperverletzung und fahrlässiger Tötung strafrechtlich verurteilt worden. Von dem Oberpostschaffner und den Hinterbliebenen des Rollkutschers wurden Schadensersatzansprüche angemeldet. Mit der jetzigen Klage verlangt die Klägerin von der Beklagten Ersatz oder Befreiung hinsichtlich der Leistungen, die sie wegen der Unfälle an die Beteiligten zu bewirken hat. Das Landgericht gab der Klage statt. Die Berufung wurde zurückgewiesen. Auf Revision der Beklagten wurde das Berufungsurteil aufgehoben aus folgenden

Gründen

Der Berufungsrichter erkennt den Klaganspruch als gerechtfertigt auf Grund der Annahme an. daß das Recht auf Versicherungsentschädigung für die hier eingetretenen Schäden aus dem Versicherungsvertrage und den darin in Bezug genommenen allgemeinen Versicherungsbedingungen sich ergebe und daß Sch. dies Recht auch nicht durch Zuwiderhandeln gegen diese Bedingungen verwirkt habe. Die dem Revisionsgericht zustehende Nachprüfung der durch den Berufungsrichter den Versicherungsbedingungen gegebenen Auslegung hat jedoch zu dem Ergebnis geführt, daß eine Entschädigungspflicht hinsichtlich der hier in Betracht kommenden Personenbeschädigungen für die Beklagte überhaupt nicht begründet ist. Die maßgebenden Versicherungsbedingungen bestimmen in § 11 unter der Überschrift "Hinzutritt neuer Risiken" Folgendes:

"Die Versicherung kann gegen besondere Prämie auf alle und jede gesetzliche Haftpflicht wegen Personenbeschädigung, welcher der Versicherungsnehmer nach Stellung des Versicherungsantrages auch aus anderen Risiken als den gemäß § 1 beurkundeten ausgesetzt werden kann, erstreckt werden (Vorsorgeversicherung)... Für die Vorsorgeversicherung gelten neben den allgemeinen Versicherungsbedingungen noch folgende besondere Bestimmungen: 1. a) Der Versicherungsschutz beginnt sofort mit dem Eintritt eines neuen Risikos, ohne daß es einer besonderen Anzeige bedarf. Der Versicherungsnehmer ist aber verpflichtet, auf Aufforderung der Gesellschaft, die auch durch einen der Prämienrechnung beigedruckten Hinweis erfolgen kann, binnen eines Monats nach Empfang dieser Aufforderung jedes neu eingetretene Risiko anzuzeigen, den Einschluß dieses Risikos in die Versicherung zu beantragen und die entsprechende, nach dem zur Zeit gültigen Tarif zu berechnende Mehrprämie vom Eintritt des Risikos ab binnen eines Monats nach Empfang der Prämienrechnung zu entrichten.

Unterläßt es der Versicherungsnehmer, innerhalb der vorbezeichneten Fristen die Anzeige eines neuen Risikos zu erstatten oder die berechnete Mehrprämie zu entrichten, so kommt der Versicherungsschutz für dieses Risiko vom Gefahreneintritt an in Wegfall. Für alle nach Ablauf der vorbestimmten Fristen neu eintretenden Risiken bleibt jedoch die Vorsorgeversicherung in Wirksamkeit."

Die Rechtslage des Versicherers ist nach diesen Vorschriften unter Umständen sehr ungünstig. Beginnt der Versicherungsnehmer nach erhaltener Aufforderung zur Anzeige neu eingetretene Risiken und wahrheitsgemäßer Beantwortung dahin, daß solche nicht entstanden seien, einen gefährlichen Betrieb, z. B. einer Dynamitfabrik innerhalb einer Großstadt, ohne die vorgeschriebene behördliche Erlaubnis nachzusuchen, so würde nach dem Wortlaute des § 11 der Versicherer sofort mit dem Beginn des ihm unbekannt bleibenden Betriebes Versicherungsschutz in Höhe von möglicherweise sehr großen Geldbeträgen zu gewähren haben. Erst nach Empfang einer Aufforderung - die regelmäßig und in bestimmten Zeiträumen sich wiederholen wird und z. B. im vorliegenden Falle in der Zeit vom Sommer 1910 bis zum Juni 1911 unstreitig, überhaupt nicht erfolgt ist - tritt die Verpflichtung zur Anzeige binnen eines Monats und dann binnen eines weiteren Monats nach Empfang der Prämienrechnung die Verpflichtung zur Zahlung der Mehrprämie ein. Während dieser ganzen Zeit würde der Versicherer die volle hohe Gefahr tragen, wenn der Versicherungsnehmer hinterher die erforderte Anzeige und Prämienzahlung bewirkt. Das würde auch dann gelten, wenn erst nach dem Eintritte des vollen Schadens die Aufforderung zur Anzeige und die letztere selbst ergehen. Daß die Absicht des Versicherers auf einen solchen ihm äußerst nachteiligen Erfolg nicht gerichtet sein kann, bedarf keiner Ausführung. Entscheidend für die Tragweite der Versicherung ist nun freilich nicht, wie der Versicherer die Vertragsbedingungen auslegt, sondern wie sie ein unbefangener, verständiger und redlicher Dritter verstehen muß; dessen Auffassung muß sich der Versicherer fügen, da er selbst es in der Hand halte, den Bedingungen eine andere Fassung zu geben. Aber auch ein solcher Dritter kann aus dem § 11, wenn er Treu und Glauben wahrt und die Verkehrssitte berücksichtigt, nicht entnehmen, daß der Versicherungsschutz hochgradig gefährlichen Betrieben, die wegen dieser Eigenschaft im öffentlichen Interesse nur nach vorheriger behördlicher Genehmigung begonnen werden dürfen, selbst dann zuteil werden soll, wenn der Versicherungsnehmer es in strafbarer Weise unterlassen hat, vor dem Beginn des dem Versicherer unbekannt gebliebenen Betriebs die erforderliche Genehmigung nachzusuchen. Denn durch dies Unterlassen wird die Betriebsgefahr außerordentlich erhöht, da es die Möglichkeit eröffnet, daß vertrauensunwürdige und nicht sachverständige Personen in hohem Grade gemeingefährliche Betriebe beginnen, ohne daß sie die durch die Erfahrung gebotenen Sicherungsmaßregeln treffen. Ein solcher gemeingefährlicher Betrieb war auch die hier in Betracht kommende Herstellung von Knallkorken und der Handel und Vertrieb solcher. Durch die Unterlassung der Erwirkung der behördlichen Genehmigung hatte Sch. gegen die gesetzlichen Vorschriften der §§ 16, 147 Nr. 1 GewO. und §§ 1, 9 des Sprengstoffgesetzes vom 9. Juni 1884 verstoßen. Würde in einem solchen Falle der Versicherungsschutz zugelassen, so würde damit ein starker Anreiz gegeben sein, zum Schaden des Gemeinwohls gefährliche Betriebe ohne Kenntnis und Aufsicht der Behörde zu führen. Eine Auslegung des Vertrages, die zu einem solchen - im vorliegenden Fall auch eingetretenen - Ergebnis zu führen geeignet ist, steht im Widerspruch mit der Vorschrift des § 157 BGB. und ist deshalb abzulehnen. Dem Entschädigungsanspruch der Klägerin fehlt es hiernach an der rechtlichen Grundlage.