RG, 08.05.1919 - VI 346/18

Daten
Fall: 
Prozeßverzögerung als Verstoß gegen die guten Sitten
Fundstellen: 
RGZ 95, 310
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
08.05.1919
Aktenzeichen: 
VI 346/18
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG I Berlin
  • KG Berlin

Unter welchen Voraussetzungen ist eine planmäßig mittels wissentlich unrichtiger Einwendungen bewirkte Prozeßverzögerung als Verstoß gegen die guten Sitten im Sinne des § 826 BGB. zu beurteilen?

Gründe

"Der Kaufmann Benjamin M. reichte am 30. Dezember 1913 bei dem Landgericht I in Berlin eine auf Zahlung von 17599 M (aus Darlehen und Dienstvertrag) gerichtete Klage gegen die F. & Co. G. m. b. H. und gegen die Gesellschaft für Präzisionstechnik m. b. H. ein, deren beider Geschäftsführer der jetzige Beklagte F. war. Die beklagten Gesellschaften - in der Person ihres Geschäftsführers - bestritten zunächst nur die Aktivlegitimation des Klägers M.: dieser habe die Klagforderung an seinen Vater Hermann M., in Krajowa (Rumänien) wohnhaft, abgetreten. Der Kläger M. gab dies zu, behauptete aber, sein Vater habe ihm noch vor der Klagerhebung die Forderung zurückübertragen, was auch dem Beklagten sogleich mitgeteilt worden sei. Nachdem hierüber Hermann M. durch das zuständige rumänische Gericht am 29. Mai 1914 als Zeuge vernommen worden war, wurden im Schriftsatze der Beklagten vom 28. Juli 1914 fünf Einwendungen angekündigt. Bezüglich zweier (Beträge von 154,90 und 133.60 M betr.) wurde durch Beschluß vom 31. Juli 1914 Beweiserhebung angeordnet, in der Folge aber nicht vollzogen, da der Kläger M. seinen Anspruch um jene Beträge mit zusammen 288,50 M ermäßigte. Bezüglich der drei weiteren Einwendungen - einer Provisionsforderung von 3000 M (5000), einer Schadensersatzforderung von 8477,90 M (anfänglich 20000 M) und der Behauptung des Verzichts auf die eingeklagte Gehaltsforderung - wurde durch den Beschluß vom 31. Juli 1914 nähere tatsächliche Begründung angeordnet. Hierauf bezügliche Ausführungen wurden in dem Schriftsatze der Beklagten vom 8. Dezember 1914 gegeben. Nach weiterem Schriftwechsel erging am 15. Januar 1915 ein Beschluß dahin, daß, wenn die Parteien nicht den vom Gerichte vorgeschlagenen Vergleich schlössen - Klagermäßigung auf 13000 M, zahlbar 4000 M sofort, der Rest in Dreimonatteilbeträgen von 3000 M, Verzicht der Beklagten auf die Gegenforderungen, Kostenregelung - der Geschäftsführer der beklagten Gesellschaften einen Eid dahin zu leisten habe, es sei nicht wahr, daß er dem Kläger M. gesagt habe, die von ihm verlangten 15000 M müßten die Beklagten ja doch zahlen, er werde aber den Prozeß hinzuziehen wissen. Der Vergleich kam am 28. Januar 1915 zustande. Schon die erste Zahlung indessen wurde nicht geleistet; beide Beklagten gerieten am 27. März 1915 in Konkurs.

Für den Ausfall macht der Kläger N. im vorliegenden Rechtsstreit aus abgetretenen Rechten des Benjamin M. den Beklagten F. verantwortlich. Die Klage erhebt unter Berufung auf § 826 BGB. den Vorwurf, der Beklagte habe bei der Führung des Vorprozesses als Geschäftsführer der damals beklagten beiden Gesellschaften dem Kläger dadurch in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise vorsätzlich Schaden zugefügt, daß er wider besseres Wissen gegen den damaligen Klaganspruch Einwendungen erhoben und dadurch geflissentlich den Prozeß verzögert habe, wodurch es dann gekommen sei, daß der damalige Kläger M. aus dem Vergleiche vom 28. Januar 1915 nichts mehr habe beitreiben können....

Der erste Richter findet in dem Bestreiten der Klagbefugnis des M., wie geschehen, keinen Sittenverstoß, vielmehr eine nach den Umständen sachlich gebotene Maßnahme. Auf die weiter vorgeschützten Einwendungen des Vorprozesses brauche nicht eingegangen zu werden, da zwischen ihrer Geltendmachung und dem eingetretenen Schaden kein ursächlicher Zusammenhang bestehe. Wäre auch nur die Aktivlegitimation bestritten worden, so hätte ein nach Erledigung der hierüber angeordneten Beweiserhebung ergehendes vollstreckbares Erkenntnis dem Kläger frühestens Ende Juli 1914 zur Verfügung gestanden, damals aber seien die beklagten Gesellschaften bereits zahlungsunfähig gewesen.

Das Berufungsgericht verkennt im allgemeinen nicht, daß in der wider besseres Wissen und zum Zwecke der Prozeßverschleppung erfolgenden Erhebung unbegründeter Einwendungen unter Umständen ein Verstoß gegen die guten Sitten liegen könne. Bezüglich der Bestreitung der Klagbefugnis indessen glaubt das Berufungsgericht weder einen Sittenverstoß noch den Schädigungsvorsatz noch den ursächlichen Zusammenhang mit dem eingetretenen Schaden annehmen zu können. Bezüglich der weiteren Einwendungen hält das Berufungsgericht dafür, daß sie überhaupt nicht ohne weiteres unbegründet gewesen seien, wofür auf die Ermäßigung der Klagansprüche im Vorprozesse (um 288,50 M) und im Vergleiche vom 28. Januar 1915 (um 4000 M) hingewiesen wird. In allen diesen Richtungen hat die Revision Einwendungen erhoben. Sie konnte indessen keinen Erfolg haben.

Anlangend die Bestreitung der Klagbefugnis hat das Berufungsgericht die Behauptung des jetzigen Klägers als richtig unterstellt, daß der im Vorprozesse von den beklagten Gesellschaften erhobene Einwand, Benjamin M. habe die Forderung an seinen Vater abgetreten, insofern unbegründet gewesen sei, als dieser sie noch vor der Klagerhebung an seinen Sohn zurückübertragen gehabt, daß der Beklagte hiervon auch schon bei der Erhebung des Einwandes hinreichende Kenntnis gehabt habe. Aus den dafür vom Kläger vorgetragenen Äußerungen des Beklagten schließt das Berufungsgericht auch im Sinne der Klage, daß der Beklagte die Absicht gehabt habe, den Vorprozeß durch unbegründete Einwendungen, hinzuziehen, nicht aber, daß der Beklagte dies tun wollte, um den Kläger M. um seine Forderung zu bringen. Im Gegenteil lassen jene im angefochtenen Urteil angeführten Äußerungen nach Ansicht des Berufungsgerichts gerade die Absicht des Beklagten hervortreten, M. zu befriedigen; nur daß der Beklagte für die Zahlung eine für die von ihm vertretenen beiden Gesellschaften günstigere Zeit habe abwarten wollen, in der ihnen die Zahlung leichter als gegenwärtig fallen würde. Eine Prozeßverschleppung aber, auch mit Hilfe wissentlich unrichtiger Einwendungen, verstoße nicht schon dann gegen die guten Sitten, wenn dadurch wie hier der Schuldner vorläufig gegen die Beitreibung geschützt und eine bessere wirtschaftliche Lage, die dem Schuldner die Befriedigung des Gläubigers erleichtere, abgewartet werden solle. Der gesetzliche Vertreter einer Gesellschaft habe doch auch zunächst die Interessen der von ihm vertretenen Gesellschaft zu wahren und erst in zweiter Linie die Interessen ihrer Gläubiger. Möchten auch die beiden vom Beklagten vertretenen Gesellschaften zu Beginn des Vorprozesses oder auch noch im Juli 1914 in der Lage gewesen sein, Benjamin M. zu befriedigen, und möge auch der Beklagte dies gewußt haben, so habe der Beklagte doch, ohne damit gegen die guten Sitten zu verstoßen, die Befriedigung durch Prozeßverschleppung auch mit wissentlich unrichtigen Einwendungen auf eine spätere Zeit verschieben können, von der er hoffen mochte, daß die Gesellschaften dann in einer wirtschaftlich günstigeren Lage sich befinden würden. Daß er keinen Grund zu einer solchen Hoffnung gehabt hätte, lasse weder das Klagvorbringen noch das Beweisergebnis der ersten Instanz (über die Vermögenslage der Gesellschaften Ende Juli 1914) erkennen.

Der Revision ist zuzugeben, daß diese Sätze in der Allgemeinheit, die ihre Fassung aufweist, Bedenken erregen.

Angesichts einer planmäßig mittels wissentlich unrichtiger Einwendungen bewirkten Prozeßverzögerung wird grundsätzlich davon auszugehen sein, daß ein solches Verhalten gegen die guten Sitten verstößt, sofern nicht besondere Umstände des Falles nach dem allgemeinen und durchschnittlichen Maßstab der herrschenden sittlichen Anschauungen eine andere Beurteilung rechtfertigen. Nach diesem Maßstabe wird, wenngleich in der maßgebenden Verfahrensordnung (§ 138 Abs. 1 ZPO.) eine Wahrheitspflicht nicht ausdrücklich aufgestellt ist, doch in aller Regel anzunehmen sein, daß die Mißbilligung der bewußten Unwahrheit, der Lüge, ebenso wie sie aus dem Prozeßzwecke, der auf die Wege des Rechtes gerichtet ist, folgt1, auch dem Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden entspricht, zumal dann, wenn mittels solchen wahrheitswidrigen Verhaltens dem Gläubiger die ihm rechtlich zustehende, im geordneten Verfahren verfolgte Befriedigung über den Zeitpunkt, zu dem sie geschuldet ist, hinaus vorenthalten wird. Daran könnte auch an und für sich die vom Berufungsgericht ausgesprochene Erwägung, daß der Beklagte als gesetzlicher Vertreter der Schuldner zunächst für deren Interessen, nicht für die ihrer Gläubiger zu sorgen gehabt habe, nichts ändern. Diese Interessenlage wäre, jedenfalls für sich allein, nicht genügend, das in Rede stehende Verhalten des Beklagten zu entschuldigen. Dagegen wird allerdings der Beweggrund, die Absicht als allgemeine Zweckrichtung des Willens, für diese Beurteilung ins Gewicht fallen können. Es kann daher nicht für ohne weiteres rechtsirrig erachtet werden, wenn das Berufungsgericht auf die im übrigen tatsächliche und insoweit hier nicht nachzuprüfende Annahme abgestellt hat, der Beklagte habe bei jener Prozeßverzögerung nicht die Absicht verfolgt, den Kläger M. zu schädigen oder gar um seine Forderung zu bringen, "im Gegenteil" ihn zu befriedigen beabsichtigt zu einer den Schuldnern günstigeren Zeit. Die Revision vermißt eine Feststellung darüber, ob der Beklagte einen Anhalt dafür gehabt habe, daß die Lage der Schuldner sich bessern werde, und weist darauf hin, daß die Nichtzahlung einer fälligen Forderung immer eine Schädigung des Gläubigers darstelle. Es kann in der Tat bezweifelt werden, ob nicht nach Umständen, außer dem vom Berufungsgerichte hervorgehobenen Mangel einer böswilligen Absicht der Prozeßverschleppung, weiter zu verlangen sein wird, daß der Schuldner die volle Überzeugung habe, sein Verhalten werde zu keiner Schädigung des Gläubigers - auch nicht etwa gegen seine, des Schuldners, Absicht - führen. Eine Feststellung in dieser Hinsicht liegt im Berufungsurteile nicht vor; die Annahme, daß der Beklagte eine Besserung der Lage erhofft haben möge, ist, wie keiner Ausführung bedarf, dem nicht für gleichwertig zu erachten.

Es bedarf indessen einer weiteren Verfolgung dieses Gesichtspunkts hier nicht, da das Berufungsgericht weiter festgestellt hat, der Beklagte sei sich, indem er durch den unbegründeten Einwand der mangelnden Aktivlegitimation den Prozeß hinzog, keineswegs dessen bewußt gewesen, daß er dem Kläger M. hierdurch Schaden zufüge. Damit ist das in § 826 BGB. erforderte subjektive Tatbestandsmoment des Schädigungsvorsatzes ausgeschlossen. Ob die insoweit in Rede stehende Würdigung des Berufungsgerichts in den Tatsachen ihre völlige Stütze findet, ist in der Revisionsinstanz nicht nachzuprüfen. Ein Rechts- oder Prozeßverstoß erhellt insoweit nicht. Insbesondere kann die Beurteilung des Berufungsgerichts zu diesem Punkte nicht etwa schon damit ausgeräumt werden, daß, wie die Revision hervorhebt, die Nichtzahlung einer fälligen Schuld immer eine Schädigung des Gläubigers darstelle. Darüber, worin solcher Schaden, insbesondere ein etwaiger Schaden aus der Verzögerung der Leistung, bestanden habe, ob dieser nicht etwa durch den gesetzlichen Zinslauf als ausgeglichen zu gelten habe, und über damit Zusammenhängendes waren keine Behauptungen aufgestellt.

Durch die Feststellung, daß der Beklagte sich bei seinem Verhalten einer Schädigung des Klägers M. nicht bewußt gewesen sei, wird auch der weitere von der Revision geltend gemachte rechtliche Gesichtspunkt erledigt, die Erhebung eines wissentlich unwahren Einwandes stellte eine Täuschung des Gerichts dar, womit für die beklagten Gesellschaften ein rechtswidriger Vermögensvorteil verfolgt und das Vermögen des Klägers M. beschädigt worden sei. daher auch § 823 Abs. 2 BGB. verb. mit § 263 StGB, eingreife (vgl. RGSt. Bd. 19 S. 93 mit Nachw., Bd. 51 S. 211 u. ä.). Es braucht daher hierauf nicht näher eingegangen zu werden (vgl. RGSt. Bd. 5 S. 321, Bd. 20 S. 391, Bd. 26 S. 28, Bd. 32 S. 3, Bd. 36 S. 118 mit weiteren Anführungen, Bd. 40 S. 9).... Daß durch die Annahme, die weiteren Einwendungen seien nicht völlig unbegründet gewesen, der Vorwurf des Sittenverstoßes hinfällig wird und auch die Feststellung eines Schädigungsvorsatzes im Sinne des § 826 BGB. damit ausgeschlossen erscheint, bedarf keiner Ausführung." ...

  • 1. Über die prozeßrechtliche Beurteilung der "Lüge im Prozeß" vgl. bes. Hellwig, Lehrbuch des ZP. Bd. 2 § 71 S. 40 flg.; Stein, ZPO. vor § 128 unter V 7, auch IV 3 zu Fußnote 63 flg.; Neumann, Jur. Wochenschr. 1908 S.641, 665; Hellwig das. S. 664 u. D. Jur.-Zeit. I909 Sp. 137; Rich. Schmidt das. Sp. 39 u. 255; Binding das. Sp. 161. Ihre Mißbilligung folgt (nach Hellwig, Stein) aus dem Prozeßzweck, der Pflege des Rechtes ist; daß dies nicht dazu geführt hat, im geltenden Rechte Rechtssätze zu schaffen, die es gestatten, lügnerisches Prozeßvorbringen als unbeachtlich beiseite zu schieben, steht im übrigen außer Streit und Zweifel. - Über die standesdienstliche Beurteilung des Rechtsanwalts, der im Prozesse wissentlich unwahre Behauptungen aufgestellt hat, s. bes. Entsch. des EGH. für deutsche Rechtsanwälte Bd. 4 S. 25, 81, Bd. 5 S.76, Bd. 7 S. 95, Bd. 8 S. 41, 178, Bd. 16 S. 447. D. E.