RG, 08.03.1919 - I 231/18

Daten
Fall: 
Haftung des Empfängers im Frachtrecht
Fundstellen: 
RGZ 95, 122
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
08.03.1919
Aktenzeichen: 
I 231/18
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Hildesheim
  • OLG Celle

Unter welchen Voraussetzungen haftet der Empfänger von Frachtgut für Fracht und Nachnahme, auch wenn die Voraussetzungen des § 436 HGB. nicht vorliegen?

Tatbestand

Die Klägerin betreibt die Kleinbahn von P. nach Gr. I. Der Beklagte, war von S., dem Vertreter einer Bohrgesellschaft, beauftragt worden, von der Station Gr. I. Bohrgerät abzufahren, welches dort in zwei Eisenbahnwagen aus Köslin und Aschersleben eintraf. Der Wagen aus Köslin war mit einer Nachnahme von 6966,35 M beschwert. Die Bezahlung der Nachnahme wurde vom Beklagten, an den die Sendung adressiert war, verweigert. Als etwas später auch der Wagen aus Aschersleben in Gr. I. eingetroffen war und die Bahn ihm sowohl diesen als auch nochmals den Wagen aus Köslin angedient hatte, fuhr er das Bohrgerät des letzteren ab, ohne die Nachnahme einzulösen. Die Klägerin erhob gegen ihn Klage auf Zahlung des Nachnahmebetrags.

Das Landgericht gab der Klage statt. Das Oberlandesgericht wies die Klage ab. Auf die Revision wurde das landgerichtliche Urteil wieder hergestellt.

Gründe

"Das Berufungsgericht hat die Klage, soweit sie sich auf § 436 HGB. stützt, abgewiesen, weil der Empfänger nur dann zur Zahlung von Fracht und Nachnahme verpflichtet sei, wenn er das Frachtgut und den Frachtbrief angenommen habe; vorliegendenfalls stehe fest, daß der Frachtbrief nicht angenommen worden sei. Gegen diese Schlußfolgerung sind von der Revision Angriffe nicht erhoben; sie ist auch nach dem Gesetze nicht zu beanstanden.

Die Revision rügt aber, das Berufungsgericht habe verkannt, daß der Beklagte dem Frachtvertrage beigetreten sei, woraus seine vertragliche Haftung folge; eventuell sei übersehen, daß er aus unerlaubter Handlung hafte. Was den ersten Punkt angeht, so ist in der Rechtsprechung und im Schrifttum anerkannt, daß der Empfänger in vielfacher Weise anders als durch Annahme von Frachtgut und Frachtbrief in die Schuldnerstellung eintreten kann (vgl. Rundnagel in Ehrenbergs Handbuch. Bd. 5, 2, § 44 S. 158 flg.; Staub, § 436 Anm. 1). Das Berufungsgericht verneint jedoch, daß hier schlüssige Handlungen vorlägen, aus denen derartiges zu folgern sei; es begründet das damit, daß die Sendung nicht den Zwecken des Beklagten, sondern des Bohringenieurs S. gedient, daß Beklagter zweimal die Annahme verweigert, daß er nur infolge einer Verwechslung der beiden für S. angekommenen Sendungen die Entladung des Wagens aus Köslin in Angriff genommen habe, daß ihm sodann die weitere Fortsetzung der Entladung nicht verboten worden sei und er infolgedessen auch noch den Rest der Sendung aus dem Wagen herausgenommen habe. Diese Ausführungen werden von der Revision mit Recht angegriffen; sie werden dem Sachverhalte nicht gerecht.

Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß es. sich im Falle des § 436 HGB. auf seiten des Empfängers nicht um einen Eintritt in den Frachtvertrag handelt (so RGZ. Bd. 71 S. 345 und die herrschende Meinung mit Ausnahme von Eger, Eisenbahnverkehrsordnung, § 76 Anm. 387). Weder der Form nach handelt es sich um einen Eintritt in den Frachtvertrag (denn der Empfänger haftet nach § 436 nicht vertraglich, sondern kraft Gesetzes), noch der Sache nach (denn der Empfänger haftet nicht nach den Bestimmungen des Frachtvertrags, sondern nach den Bestimmungen des Frachtbriefs). Da nun aber § 436 auf den vorliegenden Streitfall keine unmittelbare Anwendung findet, weil der Empfänger nur das Gut, nicht auch den Frachtbrief angenommen hat, da jedoch anderseits, wie bereits erwähnt, einhellig angenommen wird, daß auch in anderen Fällen als dem des § 436 der Empfänger, der das Gut angenommen hat, zur Frachtzahlung verpflichtet sein kann, so fragt sich zunächst, auf welchem Rechtsgrunde in jenen anderen Fällen die Verpflichtung des Empfängers beruht. Als Rechtsgrund kann in erster Linie eine vertragliche Bindung in Betracht kommen. Das Berufungsgericht hat eine solche im vorliegenden Falle abgelehnt und zwar in der Erwägung, daß der Beklagte keineswegs den Willen gehabt oder geäußert habe, sich zur Frachtzahlung zu verpflichten. Hierdurch wird aber auf einen Umstand Gewicht gelegt, der nicht entscheidend ist. Es ist im heutigen Rechte anerkannt, daß jedermann seine Handlungen gegen sich gelten zu lassen hat, nicht nur so, wie er sie nach seinem inneren, nicht geäußerten Willen gemeint hat, sondern so, wie sie von der Verkehrssitte d. i. von den Verkehrsanschauungen aufgefaßt werden. Dieser Grundsatz hat für den Verkehr zwischen Kaufleuten seinen Niederschlag in § 346 HGB. gefunden; seine Anwendung ist aber nicht auf das Handelsrecht beschränkt, er gilt vielmehr zufolge § 157 BGB. allgemein für das bürgerliche Recht. Er führt in Anwendung auf den vorliegenden Streitfall zu folgenden Erwägungen. Der Beklagte hat nach den Feststellungen des Berufungsgerichts nicht den Willen gehabt, die Nachnahme zu bezahlen; er hat auch nur aus Irrtum mit der Entladung des falschen Wagens begonnen. Dann aber ist er auf seinen Irrtum aufmerksam gemacht worden und hat eingesehen, daß der Wagen, den er entlud, der aus Köslin gekommene, mit der Nachnahme belastete war. Trotz seiner Aufklärung hat er die Entladung fortgesetzt, hat die Bohrgeräte auf seinen Hof gefahren und dort gelagert. Bei den Verhandlungen, die sodann zwischen ihm und S. einerseits, der Klägerin anderseits über die Rücklieferung stattfanden, hat er sich niemals erboten, die Geräte zurückzugeben. Das ist vielmehr erst im Laufe des Rechtsstreits geschehen. Das angefochtene Urteil entschuldigt das Verhalten des Klägers damit, daß die Bahnbeamten ihn an der Fortsetzung der Entladung nicht verhindert hätten und daß er geglaubt habe, es werde mit der sofortigen Bezahlung der Nachnahme nicht so genau genommen; es sei deshalb nicht festzustellen, daß der Beklagte den Willen gehabt habe, in den Frachtvertrag einzutreten. Auf letzteres kommt es, wie dargelegt, nicht an. Entscheidend ist vielmehr, wie sein Verhalten von der Verkehrssitte und den Verkehrsanschauungen gewürdigt wird. In dieser Hinsicht kann es nun aber einem Zweifel nicht unterliegen, daß derjenige, der Frachtgut an sich nimmt, wissend, daß es mit einer Nachnahme belastet ist, zu deren Bezahlung er vorher aufgefordert war, und der dann trotz Aufforderung keine Anstalten macht, es herauszugeben, so anzusehen ist, wie einer, der sich zur Bezahlung der Nachnahme und der Fracht verpflichtet hat. Daran wird nichts durch den Umstand geändert, daß sich der Beklagte drei Monate später im Laufe des Rechtsstreits zur Herausgabe erboten hat, denn damals war seine Verpflichtung zur Zahlung schon eingetreten. Aus diesen Gründen konnte das die Klage abweisende Berufungsurteil nicht aufrecht erhalten werden, vielmehr war das erstinstanzliche Urteil wiederherzustellen."