RG, 09.03.1889 - I 22/89

Daten
Fall: 
Prozeßhindernde Einrede der Unzuständigkeit des Gerichtes
Fundstellen: 
RGZ 23, 371
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
09.03.1889
Aktenzeichen: 
I 22/89
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • Kammer für Handelssachen Bremerhaven
  • OLG Hamburg

Steht der Partei, deren Wohnsitz in dem örtlich abgegrenzten Gebiete einer Kammer für Handelssachen ist, welche ihren Sitz an einem anderen Orte hat, als demjenigen, an welchem der Sitz des betreffenden Landgerichtes sich befindet, die prozeßhindernde Einrede der Unzuständigkeit des Gerichtes zu, falls gegen sie bei einer anderen Kammer für Handelssachen desselben Landgerichtes Klage erhoben wird?

Tatbestand

In dem bremischen Staate sind vom 1. Oktober 1879 an nach den Bestimmungen des Gesetzes vom 17. Mai 1879, betreffend die Ausführung des Gerichtsverfassungsgesetzes, in Wirksamkeit getreten

ein Landgericht mit seinem Sitze zu Bremen,
ein Amtsgericht mit seinem Sitze zu Bremen,

dessen Bezirk sich auf die Stadt Bremen und Vegesack, sowie das Landgebiet erstreckt, ein Amtsgericht mit seinem Sitz zu Bremerhaven für den Bezirk des bisherigen Amtes daselbst.

Der §. 68 jenes Ausführungsgesetzes lautet:

"In Bremen und Bremerhaven werden Kammern für Handelssachen errichtet."

In den Motiven zu dem Entwurfe jenes Gesetzes wird gesagt:

"Der Bedeutung der Handels- und Schiffahrtsinteressen in Bremerhaven wird die Bildung einer Kammer für Handelssachen dortselbst nach Maßgabe der §§. 100. 110 G.V.G. entsprechen."

Demgemäß ist die Kammer für Handelssachen in Bremerhaven für einen örtlich abgegrenzten Teil des bremischen Staates, dessen ganzes Gebiet den Bezirk des Landgerichtes zu Bremen darstellt, gebildet, und zwar für denselben Teil, welcher früher der Bezirk des Amtes Bremerhaven war, und seit dem 1. Oktober 1879 der Bezirk des Amtsgerichtes Bremerhaven ist. Für den übrigen Teil des bremischen Staatsgebietes wurde zunächst nur eine Kammer für Handelssachen au dem Sitze des Landgerichtes in der Stadt Bremen organisiert. Vor jeder dieser beiden Kammern gelangten für den ihr zugeteilten örtlichen Bezirk alle bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten der im §. 101 G.V.G. bezeichneten Art zur Verhandlung, falls die in dem Gerichtsverfassungsgesetze bestimmten formellen Voraussetzungen für die Verhandlung des Rechtsstreites vor der Kammer für Handelssachen im Unterschiede von der Civilkammer gegeben waren.

In bezug auf richterliche Funktionen aus dem Gebiete der nichtstreitigen Gerichtsbarkeit bestimmt §. 83 des Ausführungsgesetzes:

"Das Handelsregister und Musterregister wird für den Bezirk des Amtsgerichtes zu Bremen bei der Kammer für Handelssachen daselbst, für den Bezirk des Amtsgerichtes zu Bremerhaven bei der dortigen Kammer für Handelssachen geführt. Die im §. 9 Absatz des Einführungsgesetzes zum Handelsgesetzbuche bezeichneten Funktionen üben die Vorsitzer der Kammern aus."

Der §. 82 jenes Ausführungsgesetzes lautet:

"Der Vorsitzer der Kammer für Handelssachen in Bremen wird von dem Präsidium des Landgerichtes nach Maßgabe der §§. 62, 63 G.V.G. bestellt."

Ein solches Bestellungsrecht ist dem Präsidium des Landgerichtes in bezug auf den Vorsitzer der Kammer für Handelssachen in Bremerhaven nicht gegeben. Der Senat des Staates Bremen, als oberste Landesjustizbehörde, hat im Einverständnisse mit der (nach den Normen des ersten Titels des mehrerwähnten Ausführungsgesetzes organisierten) Justizverwaltungskommission bisher den mit der Dienstaufsicht bei dem Amtsgerichte Bremerhaven beauftragten Amtsrichter zum Vorsitzer der Kammer für Handelssachen zu Bremerhaven ernannt.

Seit November 1887 sind an Stelle der früheren einzigen Kammer für Handelssachen mit dem Sitze in der Stadt Bremen zwei Kammern für Handelssachen mit dem Sitze in jener Stadt organisiert, unter welchen die in dem §. 101 G.V.G. bezeichneten bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten aus dem Bezirke jener früheren einzigen Kammer für Handelssachen nach Maßgabe von dem Senate verfügter Bestimmungen in folgender Weise verteilt sind.

Diejenigen streitigen Sachen, in denen der Name des Beklagten, oder, falls in einer Sache mehrere Beklagte vorhanden sind, der Name des in der Klage an erster Stelle genannten Beklagten mit einem der Buchstaben "A" bis "I" einschließlich beginnt, sind der ersten Kammer, die übrigen streitigen Sachen (Buchstaben "K" bis "Z") sind der zweiten Kammer zu übertragen. Jedoch ist bei Wechselsachen jedem der Vorsitzer beider Kammern die Ermächtigung erteilt, in Wechselsachen seiner Abteilung nach seinem Ermessen den ersten Verhandlungstermin auf den nächsten Sitzungstag der anderen Kammer zu legen und derselben damit die Erledigung der betreffenden Wechselsache zu übertragen.

Die nach §. 83 des Ausführungsgesetzes der früheren einzigen Kammer für Handelssachen mit dem Sitze in der Stadt Bremen überwiesenen Geschäfte der Gerichtsbarkeit in nichtstreitigen Sachen, sowie die ebendort dem Vorsitzer jener Kammer übertragenen Funktionen wurden bis zum 31. Dezember 1888 der ersten Kammer, bezw. deren Vorsitzer zugeteilt, während diese Geschäfte, bezw. Funktionen seit dem 1. Januar 1889 der zweiten Kammer, bezw. dem Vorsitzer derselben überwiesen worden sind.

Trotz dieser Normierung der Gerichtsorganisation des Staates Bremen hat der (in der Stadt Bremen wohnhafte) Kaufmann H. gegen den Kaufmann R., dessen Wohnsitz und Handelsniederlassungsort Bremerhaven ist, aus einem zwischen den Parteien abgeschlossenen Geschäfte, welches ans seiten beider Kontrahenten ein Handelsgeschäft war, ohne Grundlagen für einen besonderen Gerichtsstand zu behaupten, die auf Verurteilung des Beklagten zur Zahlung von 916,20 M nebst Zinsen gerichtete Klage nicht bei der Kammer für Handelssachen zu Bremerhaven, sondern bei der zweiten Kammer für Handelssachen zu Bremen erhoben.

Der Beklagte hat der Klage die prozeßhindernde Einrede der Unzuständigkeit des Gerichtes entgegenstellt und die Einlassung zur Hauptsache verweigert.

Die zweite Kammer für Handelssachen zu Bremen hat durch Urteil vom 22. Juli 1888 entschieden:

die von dem Beklagten vorgebrachte Einrede der Unzuständigkeit des Gerichtes wird verworfen.

Dieses Urteil ist auf folgende Erwägungen gegründet:
In Konsequenz der reichsrechtlichen Normen des siebenten Titels in dem Gerichtsverfassungsgesetze könnten die erste und zweite Kammer für Handelssachen in Bremen und die Kammer für Handelssachen zu Bremerhaven nur als Abteilungen desselben Landgerichtes (des Landgerichtes zu Bremen) gelten, unter welche die nach §. 101 G.V.G. durch bei einem Landgerichte etwa gebildete Kammern für Handelssachen zu erledigende, zur Zuständigkeit dieses Landgerichtes gehörige bürgerliche Rechtsstreitigkeiten nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten (örtliche Lage des Wohnsitzes einer Partei, Anfangsbuchstabe des Namens derselben, juristische Individualität des der Klage zu Grunde gelegten Geschäftes verwaltungsmäßig verteilt worden seien. Eine solche (wenn auch einem Landesgesetze einverleibte) Justizverwaltungsmaßregel könne die Kammern für Handelssachen nicht ihres reichsrechtlichen Wesens als interne Abteilungen eines Landgerichtes entkleiden und zu selbständigen Gerichten mit eigener Zuständigkeit im Sinne des §. 247 Nr. 1 C.P.O. für gewisse bürgerliche Rechtsstreitigkeiten erheben. Von einer Einrede der Unzuständigkeit des Gerichtes im Sinne letzterer Gesetzesstelle könne (infolge der Bestimmung des §. 12 G.V.G.) nur dann die Rede sein, wenn es streitig werde, ob ein bürgerlicher Rechtsstreit bei dem bestimmten selbständigen Gerichte erster Instanz (Amtsgerichte, Landgerichte), bei welchem der Kläger den betreffenden Rechtsstreit anhängig gemacht habe, nach den Nonnen über den Gerichtsstand anhängig gemacht werden dürfen. Für einen Fall der gegenwärtig vorliegenden Art sei die prozeßhindernde Einrede der Unzuständigkeit des Gerichtes überhaupt nicht gegeben. Die von dem Beklagten erhobene Einrede sei daher nicht statthaft und deswegen zu verwerfen.

Zusätzlich wird in dem Urteile bemerkt:

"Es würde allerdings dem Willen der bremischen Gesetzgebung, bezw. Landesjustizverwaltung, mehr entsprochen haben, wenn die Klage bei der Kammer für Handelssachen in Bremerhaven angebracht wäre."

Durch Urteil vom 27. November 1888 hat das Oberlandesgericht zu Hamburg auf die Berufung des Beklagten abändernd auf Abweisung der angestellten Klage wegen Unzuständigkeit der angegangenen Kammer für Handelssachen in Bremen erkannt. Das Berufungsurteil ist dahin begründet.

Nach dem ersichtlichen Willen der Reichsjustizgesetze sollten zwar die Kammern für Handelssachen im allgemeinen als Kammern eines Landgerichtes gelten, indessen in bezug auf die örtliche Zuständigkeit und diejenigen Behelfe, welche in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten zum Schutze beklagter Parteien dagegen gegeben seien, daß sie (bei Nichtexistenz von Voraussetzungen eines besonderen Gerichtsstandes) wider ihren Willen durch Klagerhebung vor ein anderes Gericht, als dasjenige ihres Wohnsitzes gezogen würden, dann wie selbständige Gerichte betrachtet werden sollten, wenn sie für örtlich abgegrenzte Teile des Landgerichtes gebildet worden seien. Zur Klarlegung der Richtigkeit dieser Gesetzesauslegung wird in den Entscheidungsgründen des Berufungsurteiles gesagt:

"Bedenkt man, daß das Gerichtsverfassungsgesetz über die Verweisung der Verhandlung abseiten einer Kammer für Handelssachen an eine andere Kammer für Handelssachen bei demselben Landgerichte Bestimmungen nicht enthält; so würde in einem Falle, in welchem, ohne daß ein besonderer Gerichtsstand begründet wäre, jemandem, der statt vor der an seinem Wohnsitze fungierenden Gerichtsabteilung, vor einer anderen Abteilung desselben Gerichtes, welche an einem anderen Orte ihren Sitz hat, belangt würde, keinerlei Rechtsbehelf zur Verfügung stehen, um sein rechtlich begründetes Interesse daran geltend zu machen, daß er nicht unnötigerweise gezwungen werde, sich an einem anderen Orte als seinem Domizil belangen zu lassen. Indem nun aber das Gerichtsverfassungsgesetz die Bildung der Kammern für Handelssachen für örtlich abgegrenzte Bezirke desselben Landgerichtsbezirkes ausdrücklich gestattet, behandelt es derartige Abteilungen desselben Gerichtes in der hier fraglichen Beziehung gewissermaßen als selbständige Gerichte, sodaß man geneigt sein wird, schon da, wo die Landesjustizverwaltung von solcher Befugnis Gebrauch gemacht hat, den Einwand der örtlichen Unzuständigkeit einer Abteilung des zuständigen Gerichtes als statthaft zu erachten; jedenfalls muß dies aber zulässig sein, wenn die Abgrenzung der üblichen Zuständigkeit verschiedener Abteilungen desselben Gerichtes auf einem Gesetze beruht."

Dies ist aber in dem bremischen Staatsgebiete der Fall. Die von dem Kläger eingelegte Revision ist zwar für zulässig erachtet, aber als unbegründet zurückgewiesen aus folgenden Gründen:

Gründe

"Wiewohl in dem Berufungsurteile darauf Gewicht gelegt worden ist, daß die Bildung der Kammer für Handelssachen zu Bremerhaven durch das bremische Ausführungsgesetz vom 17. Mai 1879 erfolgt sei und der Geltungsbereich dieses Gesetzes nicht über den Bezirk des Berufungsgerichtes sich hinaus erstreckt, so findet doch die Bestimmung des §.511 C.P.O. auf den vorliegenden Fall keine Anwendung. Die Grundsätze über die Bildung der Kammern für Handelssachen, deren Stellung in dem Organismus der Gerichte, das Wesen der ihnen zuzuweisenden bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten und die Voraussetzungen, unter denen diese Rechtsstreitigkeiten vor ihnen zur Verhandlung gelangen, sind in den Reichsjustizgesetzen geregelt. Diejenigen Bestimmungen des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetze, durch welche der Landesgesetzgebung gestattet ist, in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten gerichtsorganisatorische, von den im Gerichtsverfassungsgesetze als Regel bestimmten abweichende Einrichtungen zu treffen, passen nicht auf den vorliegenden Fall. Es würden daher (falls das bremische Ausführungsgesetz in bezug auf die Bildung der Kammer für Handelssachen in Bremerhaven eine derartige abweichende Einrichtung in das Leben gerufen hätte), die betreffenden Normen (nach dem im Art. 2 der Verfassungsurkunde für das Deutsche Reich festgestellten Grundsätze, "daß die Reichsgesetze den Landesgesetzen vorgehen") und die Begründung eines Urteiles auf solche landesgesetzliche Normen, als verbindlicher Gesetze, eine Verletzung der Reichsgesetze enthalten. Es ist daher in dem vorliegenden Falle (bei anzunehmender Zulässigkeit der Revision) zu prüfen, ob das Rechtsmittel begründet ist, d. h, es ist nach Lage des konkreten Falles die Frage zu beantworten, ob das Berufungsurteil auf Verletzung der Reichsjustizgesetze beruhe?

Diese Frage ist zu verneinen.

Nach den Lebensverhältnissen besitzt jede Person ein eminentes Interesse daran, regelmäßig in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten nur vor das Gericht ihres Wohnsitzes gezogen zu werden. Im Mittelpunkte ihres wirtschaftlichen privatrechtlichen Daseins wird ihr die Verteidigung (namentlich wegen der dabei mitwirkenden zeitlichen und räumlichen Faktoren, sowie der Gelegenheit zur Würdigung und Heranziehung von zum Beirat und zur Vertretung besonders geeigneter Persönlichkeiten) wesentlich erleichtert. Es hat daher schon die gemeinrechtliche Civilprozeßtheorie als allgemeinen Gerichtsstand der Person nur den Gerichtsstand ihres Wohnsitzes gelten lassen. Alle neueren Prozeßgesetze, namentlich die deutschen Reichsjustizgesetze (in dem §. 13 C.P.O.) haben diesen Grundsatz anerkannt. Der Bedeutung dieses Interesse entspricht es, daß diejenige Partei, welche (obgleich eine exzeptionelle Grundlage für einen besonderen Gerichtsstand nicht gegeben ist) ohne ihre Einwilligung nicht in dem Gerichtsstande ihres Wohnsitzes verklagt wird, die Verhandlung zur Hauptsache (unter Vorbringen der Einrede der Unzuständigkeit des Gerichtes) verweigern darf; sowie daß über diese Verteidigung nicht durch bloßen (unanfechtbaren oder etwa nur mit Beschwerde anfechtbaren) Gerichtsbeschluß, sondern durch Urteil zu entscheiden, und dem Beklagten das Recht erteilt ist (auch wenn jene prozeßhindernde Einrede nicht nur von dein Prozeßgerichte erster Instanz, sondern auch in dem Berufungsurteile eines Oberlandesgerichtes verworfen wird) ein solches Berufungsurteil mit der Revision anzugreifen, und zwar auch dann, wenn die Rechtsstreitigkeit über vermögensrechtliche Ansprüche erhoben ist und der Wert des Beschwerdegegenstandes nicht mehr beträgt als 1500 M (§§. 247. 248. 507. 508. 509 Nr. 2 C.P.O.). Nach dem sechsten (mit der Überschrift "Handelsgerichte" versehenen) Titel des Entwurfes eines Gerichtsverfassungsgesetzes sollten Handelsgerichte für örtlich begrenzte Bezirke errichtet werden können, insoweit die Landesjustizverwaltung ein Bedürfnis als vorhanden annehme. Wäre der Inhalt dieses Entwurfes in das Gerichtsverfassungsgesetz herübergenommen, so wäre kein Bedenken darüber möglich gewesen, daß, wenn eine Person (ohne Substanziierung der Existenz eines besonderen Gerichtsstandes) bei einem anderen Handelsgerichte verklagt werde, als demjenigen, in dessen Bezirke ihr Wohnsitz belegen sei, dieselbe ihr rechtliches Interesse, nur vor letzterem Handelsgerichte zu Recht stehen zu dürfen, gemäß §§.247.248.509 Nr. 2 C.P.O. zur Geltung zu bringen befugt sei.

Diese klare Lage des Verteidigungs-Rechtes und -Weges ist dadurch getrübt worden, daß (infolge der im Reichstage gegen den sechsten Titel des bezeichneten Entwurfes angeregten Bedenken) an dessen Stelle- die jetzt den siebenten des Gerichtsverfassungsgesetzes bildenden Bestimmungen gesetzt worden sind, welche aus Beschlüsse über successiv gestellte Anträge (bei sehr erregter Beratung) hervorgegangen sind. Die Grundlage dieser Bestimmungen bildete eine Reihe von Anträgen, welche von den Abgeordneten B., Dr. G., Dr. L., P., Dr. W., Dr. Z. gemeinschaftlich zum sechsten Titel des Entwurfes gestellt worden waren, und in der Sitzung der Kommission des Reichstages zur Vorberatung über die Entwürfe eines Gerichtsverfassungsgesetzes, einer Civilprozeßordnung und einer Strafprozeßordnung vom 3. November 1875 zuerst zur Diskussion gestellt worden sind. Unter denselben befand sich kein Antrag, Kammern für Handelssachen mit Sitz an Orten, an welchen das betreffende Landgericht seinen Sitz nicht habe, zu bilden. Es sollten vielmehr nach jenen Anträgen nur die Handelsgerichte des Entwurfes fortfallen, dagegen (soweit die Landesjustizverwaltung ein Bedürfnis als vorhanden annehme) bei einem Landgerichte für dessen ganzen Bezirk oder für örtlich abgegrenzte Teile desselben eine oder auch mehrere Kammern für Handelssachen gebildet werden können, welche in der Besetzung mit einem für dieses Amt bestimmten juristischen Mitgliede des Landgerichtes, als Vorsitzendem, und zwei (ihr Amt als Ehrenamt innehabenden) Handelsrichtern entscheiden sollten.

Während der Entwurf des Gerichtsverfassungsgesetzes (in dessen Sinne die Verteilung der Geschäfte der streitigen Gerichtsbarkeit unter die Civilkammern der Landgerichte eine rein interne Angelegenheit der Gerichtsverwaltung war) darüber, wie diese Geschäfte zu verteilen und unter sich abweichende Auffassungen der einzelnen Kammern über die Gehörigkeit einzelner Streitsachen vor diese oder jene Kammer zu erledigen seien, keine Bestimmungen enthielt, und zwar ersichtlich deswegen, weil derartige interne Geschäftsangelegenheiten durch Geschäftsinstruktionen und nicht gesetzlich zu regeln seien, mußte es bei der wesentlich verschiedenen Zusammensetzung des Richterpersonales der Civilkammern einerseits und der Kammern für Handelssachen andererseits, einer Verschiedenheit, welche in einem bedachten Verhältnisse zu dem verschiedenen Wesen der bei jeder dieser verschiedenen Gattungen von Kammern zu verhandelnden und zu entscheidenden Rechtsstreitigkeiten stand, und insofern ein Interesse der Parteien berührte, also keineswegs einer lediglich im Interesse des internen Geschäftsganges getroffenen Geschäftsverteilung nach Anfangsbuchstaben einer Partei und anderen für die Parteien unerheblichen Kriterien gleichzustellen war, angezeigt erscheinen, gesetzliche Normen zu geben über diejenigen Voraussetzungen und Formen, durch welche ein bürgerlicher Rechtsstreit bei Civilkammern oder Kammern für Handelssachen (diese beiden Arten von Kammern, nicht Kammern derselben Art, in ihrem Gegensatze gedacht) anhängig zu machen und Streitigkeiten darüber zu erledigen seien, ob ein Prozeß vor Civilkammern oder vor Kammern für Handelssachen zu verhandeln und zu entscheiden sei.

Da aber vorausgesetzt wurde, daß jedes Landgericht in allen seinen Kammern an einem und demselbem Orte seinen Sitz haben solle und werde, mithin ein solches vitales Parteiinteresse gar nicht zu wahren war, wie dasjenige, welches für die beklagte Partei darin liegt, nicht bei einem anderen Gerichte belangt zu werden, als demjenigen, in dessen Bezirke ihr Wohnsitz liegt, so konnte es den Antragstellern (bei ihren dementsprechenden Anträgen) genügend erscheinen, den Parteien durch Gewährung von Antragsrechten, sowie durch Bestimmung von Verweisungsentscheidungen, deren Anfechtung nicht statthaft und für die Kammer, an welche die Verweisung erfolge, bindend sei, einigen Schutz für das Interesse zu gewähren, daß der betreffende Prozeß nach seiner Eigenart civilkammermäßig oder handelskammermäßig behandelt werde.

Eine gesetzliche Norm darüber zu geben, ob (in dem, allerdings bei jenen Anträgen als möglich vorausgesetzten Falle der Bildung mehrerer Kammern für Handelssachen bei einem Landgerichte) eine Streitsache bei dieser oder jener Kammer für Handelssachen zu verhandeln sei, mußte (bei den gekennzeichneten Voraussetzungen jener Anträge) ebensowenig angezeigt erscheinen, als bezüglich der gleichartigen in bezug auf mehrere Civilkammern unter sich entstehenden Frage, und zwar selbst dann nicht, wenn mehrere Kammern für Handelssachen, eine jede für einen bestimmten Teil des Landgerichtsbezirkes gebildet würden; da ja vorausgesetzt wurde, daß alle diese Kammern an dem Orte, an welchem das Landgericht überhaupt seinen Sitz habe, sich befinden, die Parteien also immerhin jedenfalls an einem und demselben Orte vor Gericht zu stehen hätten, sodaß noch verständigerweise der Gesichtspunkt geltend gemacht werden konnte, es sei die Geschäftsverteilung unter die verschiedenen Kammern für Handelssachen nach den örtlichen Bezirken wesentlich eine innere Angelegenheit des Gerichtes.

Letzterer Gesichtspunkt traf aber (als bei der weiteren Kommissionsberatung beschlossen und dieser Beschluß demnächst von dem Reichstage angenommen wurde, daß eine oder mehrere Kammern für Handelssachen je für einen örtlich abgegrenzten Teil des betreffenden Landgerichtsbezirkes gebildet werden konnten, deren Sitz sich an anderen Orten befinde, als an demjenigen Orte, an welchem der Sitz des Landgerichtes in seinen sonstigen Kammern [abgesehen von etwaigen detachierten Strafkammern] konstituiert sei, und deren Vorsitzender auch ein Amtsrichter sein könne) für das Verhältnis dieser neuen Art von Kammern für Handelssachen unter sich und im Verhältnisse einer jeden derselben zu etwa am Sitze des Landgerichtshauptstammes gebildeten Kammern für Handelssachen, sowie letzterer Kammern zu einer jeden dieser Sonderart von Kammern nicht im geringsten zu. Im Falle es sich darum handelte, ob der gegen eine Partei angestrengte Prozeß bei derjenigen Kammer für Handelssachen verhandelt und entschieden werden solle, in deren örtlich abgegrenztem Sprengel der Sitz dieser Kammer und der Wohnsitz der Partei sich befand, oder vor einer Kammer für Handelssachen, bei welcher letztere Voraussetzungen nicht gegeben waren, handelte es sich in Wirklichkeit um ein ebenso eminentes vitales Interesse der Partei, wie in denjenigen Fällen, in welchen die Reichsjustizgesetze den Parteien der Wichtigkeit des Interesse entsprechende Schutzmittel durch die Bestimmungen der §§. 247. 248. 507. 508. 509 Nr. 1 C.P.O. ausdrücklich gegeben haben. Die zur Wahrung des Parteiinteresse in bezug darauf, ob ein Rechtsstreit vor Civilkammer oder Kammer für Handelssachen zu entscheiden sei, beantragten Normen waren gar nicht bestimmt, auf Fälle der vorgekennzeichneten Art angewendet zu werden, entsprachen auch (in ihrer verhältnismäßig geringen Kraft) durchaus nicht der Bedeutung dieser Fälle.

Die Normen des siebenten (mit der Überschrift "Kammern für Handelssachen" versehenen, die §§. 100-118 umfassenden) Titels des Gerichtsverfassungsgesetzes entsprechen in den gekennzeichneten Beziehungen den (vorstehend ihrer wesentlichen Eigentümlichkeit nach vergegenwärtigten) Beschlüssen der Kommission des Reichstages und des Reichstages selbst. Namentlich ergiebt die systematische Stellung der §§. 106. 107. in diesem siebenten Titel, sowie der Zusammenhang mit den §§. 102-105, daß bei den Worten "an eine andere Kammer" in dem ersten Absatze des §. 106, und bei den gleichlautenden Worten, sowie den Worten "für die Kammer" in dem zweiten Satze des §. 107, nicht an den Gegensatz von Landgerichtskammern überhaupt, sondern nur an den Gegensatz einer Civilkammer im engeren Sinne einerseits und einer Kammer für Handelssachen andererseits gedacht ist; wie denn in dem ganzen siebenten Titel die Ausdrücke Zivilkammer und Kammer für Handelssachen sich gegenseitig ausschließen, während in dem fünften (mit der Überschrift "Landgerichte" versehenen, die §§. 58-78 umfassenden) Titel des Gerichtsverfassungsgesetzes der Ausdruck "Civilkammern" auch in einem weiteren Sinne gebraucht wird, in welchem derselbe die Civilkammern im engeren Sinne und die Kammern für Handelssachen (in ihrem Gegensatze zu den Strafkammern) umfaßt.

Das Gerichtsverfassungsgesetz enthält hiernach keine ausgesprochene Norm zur Wahrung des wesentlichen, eines wirksamen Rechtsschutzes notwendig bedürfenden Interesses der Partei, daß eine nach §. 101 G.V.G. vor die Kammern für Handelssachen gehörige bürgerliche Rechtsstreitigkeit (obwohl keine Gründe geltend gemacht werden, welche geeignet sind einen besonderen Gerichtsstand zu begründen, im Falle mehrere Kammern für Handelssachen je mit örtlich abgegrenztem Gebiete bei dem Landgerichte gebildet sind, in dessen Bezirke der Wohnsitz der beklagten Partei sich befindet) wider den Willen dieser Partei nicht bei einer derjenigen Kammern für Handelssachen anhängig gemacht werden dürfe, in deren Gebiete sich das Domizil der beklagten Partei nicht befinde. Die Bestimmungen der §§. 102-107 G.V.G. sind für einen solchen Fall nicht gegeben.

Mit den bisher erörterten Bestimmungen des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Civilprozeßordnung sind zu verknüpfen die Bestimmungen der §§. 8. 9. 18 der Rechtsanwaltsordnung, welche im ganzen Umfange des Deutschen Reiches gleichzeitig mit dem Gerichtsverfassungsgesetze in Kraft getreten ist. Nach dem Inhalte jener Bestimmungen sind diejenigen Kammern für Handelssachen, welche ihren Sitz an einem anderen Orte, als an dem des Landgerichtssitzes haben, in der (bei dem Prinzipe der Lokalisierung der Rechtsanwaltschaft) für die Prozeßparteien höchst wesentlichen Beziehung auf die Zulassung der Rechtsanwälte reichsgesetzlich ausdrücklich als "besondere Gerichte" angesehen. Es können also bei einer Kammer für Handelssachen, deren Sitz verschieden ist von dem Sitze des Landgerichtes (in dessen Hauptstamm), der Vorsitzende ein Amtsrichter und die zugelassenen Rechtsanwälte andere sein, als die bei dem Landgerichte in dessen sonstigem Bestände zugelassenen Rechtsanwälte.

Es leuchtet ein, daß (bei diesem Inhalte der Reichsjustizgesetze) der (lediglich aus dem Inhalte der §§. 12-14 G.V.G. gezogene) Schluß, "daß von einem bei einer Kammer für Handelssachen, welche (mit örtlich abgegrenztem Gebiete) ihren Sitz an einem anderen Orte als dem Orte hat, an welchem der Sitz des Landgerichtes sich befindet, begründeten Gerichtsstände des Wohnsitzes im Sinne des §. 12 C.P.O, (welcher gegenüber dem Belangtwerden einer in dem Gebiete dieser Kammer domizilierten Partei bei einer anderen Kammer für Handelssachen desselben Landgerichtes, in deren Gebiete die beklagte Partei ihren Wohnsitz nicht habe, gemäß §§. 247. 248. 507. 508. 509 Nr. 1 C.P.O. zur Geltung gebracht werden dürfe) nicht die Rede sein könne," in keiner Weise zwingend ist, sondern der Überzeugungskraft entbehrt. Erwägt man, daß ein solcher Schluß zu dem (nur im Falle der Unabweislichkeit statthaften) Resultate führen würde, daß die Reichsjustizgesetze ihren Zweck in einer wichtigen Beziehung nicht erfüllen, so unterliegt es keinem Bedenken, der (durch den oben mitgeteilten Inhalt der Reichsjustizgesetze, bei adminikulierender Berücksichtigung der Entstehungsgeschichte der betreffenden Bestimmungen gerechtfertigt erscheinenden) Gesetzesauslegung den Vorzug zu geben, daß in den Reichsjustizgesetzen dasjenige, was in bezug auf die Zulassung der Rechtsanwälte ausdrücklich ausgesprochen worden ist, nämlich daß diejenigen Kammern für Handelssachen, welche ihren Sitz an einem anderen Orte als an dem des Landgerichtes haben, als besondere Gerichte anzusehen seien, in bezug auf die Anwendung der §§. 12. 247. 243. 507. 508. 509 Nr. 2 C.P.O. konkludent als Willen des Gesetzes dahin bestimmt sei, daß mehrere Kammern für Handelssachen, welche je mit örtlich abgegrenztem Gebiete bei einem Landgerichte gebildet sind, dann, wenn ihr Sitz ein verschiedener ist, im Verhältnisse zu einander als besondere Gerichte angesehen werden sollen.

Ob in derselben Weise auch in dem Falle zu entscheiden wäre, wenn etwa mehrere Kammern für Handelssachen, je für einen örtlich abgegrenzten Teil des Landgerichtsbezirkes mit Sitz am Orte des Landgerichtssitzes gebildet waren (ein Fall, welcher schwerlich praktische Wirklichkeit erlangen dürfte) oder ob in einem solchen Falle (wofür die geschichtliche Entstehung der einschlagenden Gesetzesbestimmungen herangezogen werden könnte) nur eine interne Geschäftsverteilung nach Regionen anzunehmen wäre, bedarf in dem gegenwärtigen Falle nicht der Entscheidung.

Wünschenswert wäre es allerdings, daß die für die Materie der bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vorerörterten und berührten Fragen ebensowohl durch ausdrückliche klare Gesetzesvorschriften geregelt würden, als die anklingenden Streitfragen, welche sich auf dem Gebiete des Strafprozesses infolge der Bestimmung des §. 78 G.V.G. entwickelt haben. In der Doktrin wird über die Tragweite letzterer Bestimmung Grundverschiedenes gelehrt. Während Keller in seinem Kommentar zum Gerichtsverfassungsgesetze, Löwe in seinem Kommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetze und Turnau in der Justizverfassung für Preußen die Reichsjustizgesetze dahin auslegen, daß (wenngleich die auswärtige Strafkammer eine Abteilung des Landgerichtes sei) dieselbe wegen besonders ausgeschiedener örtlicher Zuständigkeit der am Sitze des Landgerichtes befindlichen Strafkammer wie jeder Strafkammer eines anderen Landgerichtes gegenüberstehe, sodaß die mit der örtlichen Zuständigkeit konnexen Fragen sich zwischen ihnen in derselben Weise wie zwischen zwei verschiedenen Landgerichten regelten, vertreten Schwarze und Stenglein in ihren Kommentaren zur Strafprozeßordnung (der erstere etwas unbestimmter, der letztere mit voller Entschiedenheit) eine entgegengesetzte Gesetzesinterpretation. In bezug auf die Rechtsprechung der Strafsenate des Gerichtes heißt es in der neuesten diesbezüglichen, in dem Bd. 17 der Entsch, des R.G.'s in Strafs. unter Nr. 57 S. 230. 231 abgedruckten Entscheidung:

"Daß, nach den (gegenüber früheren abweichenden Anschauungen) später vom Reichsgerichte fortgesetzt beobachteten Grundsätzen, die in Gemäßheit des §. 78 G.V.G. durch Anordnung der Landesjustizverwaltung bei einem Amtsgerichte gebildeten Strafkammern, mögen sie im übrigen auch als landgerichtliche Strafkammern gelten, doch vermöge ihres selbständigen Gerichtssitzes und der ihnen gerichtsverfassungsmäßig eingeräumten besonderen örtlichen Zuständigkeit im Sinne des §. 394 R.P.O. (d. h. für den Fall der Zurückverweisung der Sache an ein demselben Bundesstaate ungehöriges Gericht gleicher Ordnung) als von den Landgerichten und den unmittelbar zu diesen gehörigen, am Landgerichtssitze fungierenden Strafkammern verschiedene Gerichtskörper anzusehen sind."

Auch auf strafrechtlichem Gebiete ist also die Würdigung des Gewichtes der Verhältnisse des wirklichen Lebens und die gebotene Voraussetzung, daß der Gesetzeswille dahin gehe, den Lebensverhältnissen gerecht zu werden, in der oberstrichterlichen Rechtsprechung gegenüber der abstrakten Deduktion für durchgreifend erachtet worden.

Die vorentwickelten Grundsätze führen zu dem Urteile, daß die Entscheidung des Berufungsgerichtes nicht auf Gesetzesverletzung beruht, sondern die von dem Kläger eingelegte Revision als unbegründet zurückzuweisen ist."