RG, 22.12.1884 - IV 249/84

Daten
Fall: 
Relative Rechtskraft des Urteils
Fundstellen: 
RGZ 12, 408
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
22.12.1884
Aktenzeichen: 
IV 249/84
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Potsdam
  • KG Berlin

Ist der Berufungsrichter, welcher abändernd auf einen Eid des Berufungsklägers erkannt hatte, nachdem dieses Urteil auf die Revision des Gegners uneingeschränkt aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an ihn zurückverwiesen war, durch eine relative Rechtskraft jenes Urteiles verhindert, auf Grund der neuen Verhandlung unbedingt (ohne Eid) nach dem Antrage des Berufungsklägers zu erkennen?

Tatbestand

Der in erster Instanz nach dem Klagantrage verurteilte Beklagte, sowie der ihm assistierende Litisdenuntiat legten mit dem Antrage auf Abweisung des Klägers Berufung ein. Der Berufungsrichter erkannte auf einen dem Beklagten über den Klagegrund auferlegten richterlichen Eid und machte von dessen Ableistung die Abweisung der Klage abhängig. Hiergegen legten beide Teile Revision ein und beantragten Aufhebung des angefochtenen Urteiles und unbedingte Zusprechung bezw. Abweisung der Klage. Auf die Revision des Klägers wurde dann auch wegen Verletzung des §. 259 C.P.O. das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache in die zweite Instanz zurückverwiesen, während die Revision des Beklagten und Litisdenunziaten als unbegründet verworfen wurde. - Auf Grund der neuen Sachverhandlung, in welcher die Berufungskläger den früher gestellten Antrag wiederholten, erkannte nunmehr der Berufungsrichter auf unbedingte Abweisung des Klägers. Letzterer legte hiergegen wiederum Revision ein, welche jedoch zurückgewiesen wurde.

Aus den Gründen

"Der Revisionskläger fühlt sich dadurch beschwert, daß der Berufungsrichter, obschon das frühere Berufungsurteil zu seinen Gunsten aufgehoben worden und nur noch zu prüfen gewesen sei, ob nicht auf Grund erneuerter Beweiswürdigung auf einen Eid für ihn oder ohne weiteres nach seinem Antrage zu erkennen sei, gleichwohl durch unbedingte Abweisung der Klage in pejus reformiert habe.

Diese Beschwerde konnte jedoch nicht von Erfolg sein.

Zuvörderst kann von einer reformation in pejus im eigentlichen Sinne hier überhaupt nicht die Rede sein. Eine solche beziehungsweise eine reformatio ultra petitum würde vorliegen, wenn der Berufungsrichter das erste Urteil, ungeachtet eine Anschlußberufung nicht eingelegt worden, zu Ungunsten des Berufungsklägers oder über den Antrag des Berufungsklägers hinaus zu Ungunsten des Berufungsbeklagten abgeändert hätte (§. 498 C.P.O.). Keins von beiden ist hier der Fall, da der Beklagte und der Litisdenuntiat in ihrer gegen das Urteil erster Instanz eingelegten Berufung die Abweisung des Klägers - auf welche der Berufungsrichter gegenwärtig erkannt hat - beantragt und diesen Antrag bei der anderweiten Verhandlung der Sache wiederholt haben. Es kann sich vielmehr nur fragen, ob das zuerst gefällte Berufungsurteil, durch welches die Abweisung der Klage von der Ableistung eines dem Beklagten auferlegten Eides abhängig gemacht war, diesem und dem Litisdenuntiaten gegenüber dergestalt relative Rechtskraft erlangt und, trotz seiner uneingeschränkten Aufhebung, behalten hat, daß durch dasselbe der anderweit erkennende Berufungsrichter verhindert wurde, noch mehr zu Gunsten des Beklagten und Litisdenuntiaten zu entscheiden, als früher geschehen war. - Nach Lage der Sache und nach den maßgebenden Vorschriften der Civilprozeßordnung ist diese Frage zu verneinen.1 Das zuerst erlassene Berufungsurteil ist zwar allein auf die Revision des Klägers, unter ausdrücklicher Zurückweisung der gegnerischen Revision, durch das Revisionsurteil vom 7. Januar 1884 aufgehoben. Aber die Aufhebung war eine uneingeschränkte, und die Sache ist in vollem Umfange zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung in die Berufungsinstanz zurückverwiesen. Wenn nun auch für die Revisionsinstanz das Verbot der reformatio in pejus in dem vorangegebenen doppelten Sinne ohne Zweifel gleichfalls besteht und im §. 522 a. a. O. deutliche Anerkennung gefunden hat (vgl. Seuffert, Kommentar 2. Aufl. S. 1 zu diesem Paragraphen), so ist dasselbe doch selbstverständlich nur für die vom Revisionsgerichte zu treffende Entscheidung maßgebend, das heißt das Revisionsgericht darf nicht, ohne Anschlußrevision, zum Nachteile des Revisionsklägers und ebensowenig über die gestellten Anträge hinaus abändern oder aufheben; die Tragweite der ergangenen Entscheidung ist dagegen lediglich nach ihrem Inhalte festzustellen. Ist durch diese, wie im vorliegenden Falle (und zwar entsprechend dem damaligen Antrage des Klägers) die uneingeschränkte Aufhebung des Berufungsurteiles und die Zurückverweisung der Sache in die Berufungsinstanz erfolgt, so giebt es, da die Civilprozeßordnung weitere Vorschriften hierüber nicht enthält, für das anderweit erkennende Berufungsgericht nur die eine im §. 528 Abs. 2 a. a. O. aufgerichtete Schranke, daß dasselbe die rechtliche Beurteilung, welche der Aufhebung zu Grunde gelegt ist, auch seiner Entscheidung zu Grunde zu legen hat. Im übrigen wird die Sache, sofern nicht sonstige rechtskräftige Zwischenentscheidungen ergangen und von der Aufhebung unberührt geblieben sind, in die nämliche Lage zurückversetzt, als wenn der Berufungsrichter zum ersten Male zu erkennen hätte. So wenig daher die Parteien an neuem Vorbringen verhindert sind, ebensowenig ist der Richter an seine eigenen früheren Rechtsansichten, thatsächlichen Feststellungen oder Beweiswürdigungen gebunden.2

Von diesem Standpunkte aus hat es bereits der V. Civilsenat des Reichsgerichtes in dem Urteile vom 20. Dezember 1882 (i. S. Voigt w. Bauendahl, Rep. V. 544/82) mit Recht für zulässig erklärt, daß der Berufungsbeklagte, welcher sich bei dem zuerst ergangenen Berufungsurteile beruhigt hatte, nachdem dasselbe auf die Revision des Gegners ohne Einschränkung aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung in die zweite Instanz zurückgewiesen war, in dieser noch Anschlußberufung einlegen und hierdurch eine ihm noch günstigere Entscheidung erlangen könne. Ist nun aber dies den Vorschriften der Civilprozeßordnung durchaus entsprechend, so kann es dem Berufungsrichter auch sonst nicht verwehrt sein, auf Grund des Ergebnisses der neuen Verhandlung, sofern ihm die Berufungsanträge dies gestatten, noch mehr zu Gunsten des früheren Revisionsbeklagten zu erkennen, wobei es offenbar gleichgültig ist, ob dieser sich bei dem aufgehobenen Berufungsurteile beruhigt hatte oder mit der gleichfalls dagegen eingelegten Revision nicht durchgedrungen war. Wie notwendig es nach der Struktur des geltenden Prozeßrechtes ist, dem Berufungsrichter innerhalb der gedachten Grenzen Freiheit der Entscheidung zu gewähren, zeigt sich namentlich in dem Falle des Versäumnisverfahrens. Denn wenn der Berufungskläger, welcher die gänzliche Aufhebung eines in gewisser Hinsicht ihm günstigen Berufungsurteiles mittels der Revision beantragt und erlangt hatte, in dem anderweiten Verhandlungstermine ausbleibt, so muß, auf Antrag des erschienenen Gegners, die Berufung völlig zurückgewiesen (§§. 504. 295 a. a. O.), mithin für den Berufungskläger ungünstiger erkannt werden, als früher geschehen, wo wenigstens einigermaßen (z. B. durch Auferlegung eines Eides) seiner Berufungsbeschwerde stattgegeben war. Das nämliche wird der Fall sein müssen, wenn in dem aufgehobenen Urteile auf einen von dem früheren Revisionskläger dem Gegner zugeschobenen Eid erkannt war, die Eideszuschiebung in dem neuen Verfahren nicht wiederholt und im übrigen in der Sachlage nichts geändert ist. Giebt es aber Fälle, in denen eine Gebundenheit des Berufungsrichters durch die sogenannte relative Rechtskraft des aufgehobenen Urteiles unmöglich angenommen werden kann, so ist solche überhaupt nicht anzuerkennen, zumal sie mit dem Grundsatze der Freiheit der neuen Verhandlung, durch welche letztere erst wieder die thatsächliche Grundlage des neuen Urteiles hergestellt werden muß, an sich schwer zu vereinigen ist. Die entgegengesetzte Auffassung stützt sich vornehmlich auf die Annahme, daß das neue Verfahren in der Berufungsinstanz ein Teil des durch die Einlegung der (ersten) Revision eröffneten Verfahrens in der Revisionsinstanz sei. Allein diese Annahme findet in den Vorschriften der Civilprozeßordnung nicht die mindeste Rechtfertigung und ist mit der Zulässigkeit der Revision gegen das anderweite Berufungsurteil nicht verträglich. -

Auf die abweichende Praxis des- vormaligen preußischen Obertribunales,3 kann kein Gewicht gelegt werden, weil dieselbe auf einer durchaus verschiedenen Prozeßgesetzgebung beruhte. Die ausdrückliche Vorschrift der Strafprozeßordnung aber, daß, falls das aufgehobene Urteil nur von dem Angeklagten oder zu dessen Gunsten angefochten worden, das neue Urteil eine härtere Strafe, als früher erkannt war, nicht verhängen dürfe (§. 398 Abs. 2 a. a. O.), spricht bei dem nahen Zusammenhange derselben mit der Civilprozeßordnung (vgl. Motive der letzteren bei Hahn S. 145) mehr für, als gegen die Annahme, daß man einen entsprechenden Grundsatz für den Civilprozeß nicht hat aufstellen wollen. Die Frage, ob und inwieweit den möglicherweise für den Revisionskläger gefährlichen Folgen der totalen Aufhebung des Berufungsurteiles durch vorsichtige Fassung des Revisionsantrages und dem entsprechende Einschränkungen der Aufhebung vonseiten des Revisionsrichters vorgebeugt werden könne, steht hier nicht zur Erörterung und kann daher auf sich beruhen."

  • 1. Zu vgl. Wilmoski-Levy, Kommentar 3. Aufl. Note 3 zu § 528 C.P.O.; v. Kries, Rechtsmittel S. 333 flg. bes. 359: Vierhaus in Busch, Zeitschrift für Civilprozeß Bd. 8 S. 237 flg.; Struckmann, ebendaselbst S. 381 flg. D. E.
  • 2. Vgl. Entsch. des R.G.'s in Civils. Bd. 6 S. 374 flg.
  • 3. vgl. Entsch. des Obertrib. Bd. 38 S. 370; Striethorst, Arch. Bd. 18 S. 128, Bd. 80 S. 21.