RG, 27.09.1918 - VII 153/18

Daten
Fall: 
Übernahme des ganzen Grundstücks bei teilweiser Enteignung
Fundstellen: 
RGZ 93, 324
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
27.09.1918
Aktenzeichen: 
VII 153/18
Entscheidungstyp: 
Urteil

Kann der Eigentümer des teilweise enteigneten Grundstücks die Übernahme des ganzen Grundstücks auch dann verlangen, wenn das Grundstück noch nicht baureifes, sondern erst werdendes Bauland war und durch die neue Fluchtlinie so weit in Anspruch genommen wird, daß das Restgrundstück nach den baupolizeilichen Vorschriften des Ortes nicht mehr zur Bebauung geeignet ist?

Gründe

Die vorstehende Frage wurde bejaht aus folgenden Gründen:

... "Die Parteien streiten darüber, ob die Beklagte aus Anlaß der Enteignung, die zur Durchführung einer Fluchtlinie erfolgte, verpflichtet ist. die von der Enteignung nicht erfaßte Parzelle 312/13 gegen Entschädigung zu übernehmen. Die gesetzliche Übernahmepflicht ist für Enteignungen allgemein in § 9 preuß. EntG. und für den Fall der Fluchtlinienfestsetzung insbesondere im § 13 Abs. 3 und 4 preuß. FlLG. geregelt. Ist, wie im Streitfalle, die Enteignung zur Durchführung einer Fluchtlinie erfolgt, so ist nach ständiger Rechtsprechung das Übernahmeverlangen des Enteigneten nach den Bestimmungen beider Gesetze zu prüfen (RGZ. Bd. 79 S. 337). Läßt sich freilich der Anspruch schon aus einem dieser beiden Gesetze allein als begründet herleiten, so bedarf es selbstverständlich nicht erst der Heranziehung des anderen Gesetzes. So liegt der Fall hier. Der Berufungsrichter hält das Übernahmeverlangen schon nach § 13 FlLG. für begründet und läßt es ausdrücklich dahingestellt, ob die Übernahmepflicht auch aus dem § 9 EntG. begründet gewesen wäre. Eine Rechtsverletzung kann ihm mit Grund nicht zum Vorwurf gemacht werden. Die in den Absätzen 3 und 4 des § 13 bestimmten gesetzlichen Vorbedingungen für die Entstehung der Übernahmepflicht sind hier sämtlich gegeben. Die Beklagte hat durch die von ihr betriebene Enteignung ihr Verlangen, daß die enteigneten Flächen für den öffentlichen Verkehr abgetreten werden, deutlich bekundet. Mit diesen Flächen steht die Parzelle 312/13 in örtlichem und wirtschaftlichem Zusammenhange. Nach der Feststellung des Berufungsrichters ist das Restgrundstück einschließlich dieser Parzelle dadurch, daß das ganze Grundstück in dem vorliegenden Maße in Anspruch genommen wird, nach den baupolizeilichen Vorschriften der Stadt Frankfurt a. M. nicht mehr zur Bebauung geeignet.

Gegen diese letztere Annahme richten sich die Angriffe der Revision; sie können aber keinen Erfolg haben. Die Revision meint, der § 13 Abs. 3 verlange eine Feststellung, daß das Grundstück nach Form, Flächeninhalt, Lage usw. schon wirklich bebaubar war, als es von der Enteignung ergriffen wurde. Das treffe im vorliegenden Falle nicht zu, da der Grundbesitz des Klägers nach der Feststellung des Berufungsrichters nur "werdendes Bauland", also solches Land war, dessen Bebauung zwar für absehbare Zeit in sicherer Aussicht stand, das aber zur Zeit noch anderweitig, nämlich landwirtschaftlich genutzt wurde. Das Gesetz erfordert aber nicht, daß das Restgrundstück schon baulich genutzt werde oder daß doch seiner sofortigen Bebauung keine Hindernisse im Wege ständen, sondern nur, daß es vor der Enteignung zur Bebauung "geeignet" war, falls die baupolizeilichen Vorschriften zu der Zeit, in der die Bebauung erfolgen würde, beobachtet würden. Werdendes Bauland ist nach den maßgebenden Anschauungen des Verkehrs gerade solches Land, das sich zur Bebauung unter Wahrung der baupolizeilichen Vorschriften eignet, das aber noch nicht volle Baureife erlangt hat, weil die in Betracht kommende Gegend in der wirtschaftlichen Entwicklung noch nicht so weit vorgeschritten ist, daß das Grundstück zweckmäßig schon für die Bebauung in Anspruch zu nehmen sei. Verliert das Grundstück durch die Durchführung der Fluchtlinie diese Eigenschaft, so ist der Fall des § 13 Abs. 3 gegeben. Es mag sein, daß der Grundstückseigentümer in Fällen der vorliegenden Art für die Entwertung des Restgrundstücks im Falle der Enteignung dadurch entschädigt werden kann, daß ihm nach § 8 Abs. 2 EntG. bei der Entschädigungsfeststellung der Minderwert vergütet wird, der für das Restgrundstück durch die Enteignung entsteht. Diese Vergütung steht ihm zu, wenn er das Restgrundstück behalten will. Verlangt er aber die Abnahme, so tritt eine solche Erhöhung der Enteignungsentschädigung nicht ein, der Enteignete findet jedoch Ersatz seines Schadens darin, daß ihm der volle Wert des ganzen Grundstücks gegen Hingabe des entwerteten Restgrundstücks gewährt wird. Im vorliegenden Falle hat der Enteignete eine Vergütung für die Entwertung des Restgrundstücks bei der Feststellung der Enteignungsentschädigung nicht erhalten und darf deshalb die Abnahme des Restgrundstücks, wenn die gesetzlichen Vorbedingungen zutreffen, beanspruchen." ...