RG, 23.09.1918 - VI 142/18

Daten
Fall: 
Höheren Gewalt im Sinne des Haftpflichtgesetzes
Fundstellen: 
RGZ 93, 305
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
23.09.1918
Aktenzeichen: 
VI 142/18
Entscheidungstyp: 
Urteil

Zum Begriff der höheren Gewalt im Sinne des Haftpflichtgesetzes. Ist ein durch herabstürzende Felsmassen verursachter Einsturz eines Eisenbahntunnels ein außerhalb des Betriebsunternehmens wirkendes Ereignis?

Tatbestand

Am 14. September 1913 fuhr der Kläger mit dem um 10 Uhr 20 Min. abends von Frankenberg abfahrenden Zuge nach Chemnitz. Der Zug verunglückte auf der Fahrt gegen 1/211 Uhr dadurch, daß die Lokomotive beim Ausfahren aus dem auf der Strecke Gunnersdorf-Braunsdorf befindlichen Harrasfelsen-Tunnel in Fels- und Schuttmassen hineinfuhr, die über dem nach Braunsdorf zu gelegenen südlichen Tunnelportale sich vom Felsen losgelöst und die Gleise verschüttet hatten. Der Kläger, der hierdurch verletzt wurde, forderte vom sächsischen Staatsfiskus Schadensersatz.

Die Vorinstanzen hatten die Klage zunächst abgewiesen, weil der Unfall auf höhere Gewalt zurückzuführen sei. Durch Urteil des Reichsgerichts vom 15. November 1917 war das damalige Berufungsurteil aufgehoben worden. Nach erneuter Verhandlung erklärte das Oberlandesgericht den Klaganspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt. Die Revision des Beklagten blieb erfolglos.

Gründe

... "Das Berufungsgericht geht davon aus, daß an und für sich der Kläger einen Schaden an seinem Körper und an seiner Kleidung als Fahrgast des verunglückten Zuges erlitten hat, so daß ein Betriebsunfall im Sinne des § 3a HaftpflichtG. vorliege. Der Einwand des Beklagten, der Betriebsunfall sei auf höhere Gewalt zurückzuführen, treffe um deswillen nicht zu, weil es sich hier um Ereignisse handle, die mit dem Eisenbahnbetrieb und seinen Einrichtungen selbst in einem inneren Zusammenhange ständen. Zwar sei der Felsabsturz ein außergewöhnliches Naturereignis gewesen; dieser aber habe nicht die unmittelbare Ursache des Unfalls gebildet. Unmittelbare Ursache des Unfalls sei vielmehr die Tatsache, daß der aus dem Tunnel kommende Zug die Gleise am Tunnelausgang unfahrbar, die Tunnelausfahrt durch eine hohe Verschüttung versperrt gefunden habe und mangels einer Warnung in das den Lokomotivführern unbekannte und nicht erkennbare Hindernis hineingefahren sei. In dem Gebundensein der Wagen an die Schienen, der ungeheueren Schwere und doch leichten Beweglichkeit der Wagen sowie in der Schnelligkeit ihrer Fortbewegung lägen die dem Bahnbetriebe eigentümlichen Gefahren, die im vorliegenden Falle insofern zutage getreten seien, als die Lokomotive auf ein plötzliches Hindernis stieß, die Wagen des Zuges aus dem Gleise sprangen und mit der ihnen innewohnenden Schnelligkeit und Wucht nach vorwärts drängten und sich gegenseitig zerquetschten. Da somit der Unfall durch die Verschüttung der für den Betrieb erforderlichen Gleise herbeigeführt sei, habe er seine Ursache in der dem Eisenbahnbetrieb eigenen Gefährlichkeit. Er könne deshalb nicht als durch ein von außen eingreifendes Ereignis verursacht angesehen werden, und demnach sei der Einwand der höheren Gewalt unbegründet. Auch der ursächliche Zusammenhang zwischen dem Betrieb und dem Unfalle sei nicht etwa durch ein Ereignis unterbrochen worden, das kraft seiner Ungewöhnlichkeit nach menschlicher Voraussicht nicht in den Kreis der Berechnung habe aufgenommen werden können. Denn durch den Felsabsturz, in dem der Beklagte das Dazwischentreten einer höheren Gewalt erblicke, sei auch die Tunneleinfassung mit abgestürzt und auf die Gleise gefallen. Danach sei also der Einsturz eines dem Betriebe dienenden Bauwerks das schädigende Ereignis gewesen.

Diese Erwägungen bewegen sich durchaus in den Gedankengängen des reichsgerichtlichen Urteils vom 15. November 1917. Wenn die Revision darauf hinweist, das Berufungsgericht habe den § 565 Abs. 2 ZPO. insofern verletzt, als es entgegen den maßgebenden Ausführungen des Reichsgerichts nicht beachtet habe, daß nach seinen eigenen Feststellungen der Felseinsturz ein außergewöhnliches Naturereignis gewesen, und daß deshalb die Möglichkeit entfalle, den Unfall auf die Gefährlichkeit des Betriebes zurückzuführen, so ist die Rüge unbegründet. Denn in dem reichsgerichtlichen Urteile heißt es in dieser Hinsicht nur:

"Bei einer derartigen Sachlage kann auch ein Felseinsturz wie der vorliegende, der nicht etwa durch ein Erdbeben oder durch ein anderes außergewöhnliches Ereignis verursacht worden ist, dann nicht als höhere Gewalt angesehen werden, wenn er nicht den in der Fahrt befindlichen Zug getroffen, sondern lediglich eine Verschüttung der Gleise bewirkt hat. In diesem Falle wird man annehmen können, daß der Unfall auf die Gefährlichkeit des Eisenbahnbetriebs, der sich in ein für allemal festliegenden Schienen bewegt, zurückzuführen ist."

Mit diesen Darlegungen steht die Annahme des Berufungsgerichts nicht nur nicht in Widerspruch, sondern durchaus in Einklang, wenngleich es den Felseinsturz als ein außergewöhnliches Naturereignis bezeichnet, ohne daß indessen angegeben worden ist, auf welche Ursache er im vorliegenden Falle zurückzuführen sei. Das Reichsgericht hat keineswegs ausgesprochen, daß dann, wenn ein Felseinsturz durch ein außergewöhnliches Naturereignis herbeigeführt worden sei, die dadurch bewirkte Verschüttung der Gleise stets als höhere Gewalt angesehen werden müsse, sondern vielmehr umgekehrt den Satz aufgestellt, daß der vorliegende Felseinsturz nicht derart sei, daß dadurch mit Notwendigkeit die Annahme bedingt werde, der Betriebsunfall sei auf höhere Gewalt zurückzuführen.

Auch die weiter von der Revision beanstandeten Ausführungen des Berufungsgerichts, das in der Absperrung und Verschüttung der Gleise die unmittelbare Ursache des Betriebsunfalls erblickt und deshalb verneint, daß der Unfall auf höhere Gewalt zurückzuführen ist, stehen mit dem Inhalte des Urteils vom 15. November 1917 nicht in Widerspruch. Dieses unterscheidet, wie aus der oben mitgeteilten Stelle der Begründung deutlich hervorgeht, ausdrücklich zwischen dem Falle, wenn der Felseinsturz den fahrenden Zug trifft, und dem, wenn die Felsmasse das Gleis verschüttet hat. Damit völlig im Einklange heißt es in dem angefochtenen Urteil:

"Unmittelbare Ursache des Unfalls war vielmehr die Tatsache, daß der aus dem Tunnel kommende Zug die Gleise am Tunnelausgang unfahrbar und die Tunnelausfahrt durch eine hohe Verschüttung versperrt fand und mangels einer Warnung in das den Lokomotivführern unbekannte und nicht erkennbare Hindernis hineinfuhr."

Diese Erwägung wird auch dadurch nicht in ihrer Folgerichtigkeit beeinträchtigt, daß Fälle denkbar sind, in denen ein unmittelbar vor dem dahinfahrenden Zuge durch ein unabwendbares und unvorhersehbares Naturereignis, z. B. durch ein Erdbeben erfolgter Felseinsturz als ein Fall der höheren Gewalt angesehen werden kann, obwohl auch dann der Betriebsunfall in letzter Linie auf die Verschüttung der Gleise zurückzuführen ist. Im vorliegenden Falle hat aber nach den Feststellungen des Berufungsgerichts als gewiß zu gelten, daß der Absturz des Felsens vor der Ankunft des Zuges erfolgt ist, und es wäre Sache des Beklagten gewesen, dem für den Einwand der höheren Gewalt die Beweislast obliegt, seinerseits darzutun, daß der Absturz gerade in dem Augenblick erst stattgefunden habe, als der Zug den Tunnel durchfuhr.

Die übrigen Bemängelungen der Revision richten sich gegen die tatsächlichen Feststellungen und Erwägungen des Berufungsgerichts und können schon deshalb keine Beachtung finden.

Insbesondere kann es rechtlich nicht beanstandet werden, wenn das Berufungsgericht aus dem Umstande, daß durch den Felseinsturz die Tunneleinfassung teilweise eingestürzt ist und deren Bausteine gleichfalls die Gleise verschüttet haben, die Folgerung gezogen hat, der Einsturz eines dem Betriebe dienenden Bauwerks stelle das schädigende Ereignis dar. Auch der weitere Satz des Berufungsurteils, der Beklagte habe die Unversehrbarkeit seiner Betriebsbauten dem reisenden Publikum gegenüber insoweit zu vertreten, als eine besondere Beschädigungsgefahr daraus erwachse, daß er die Bahn durch gebirgige Gegenden, durch Tunnel und an steilen Abhängen vorüber führe, wo ein Ablösen und Niedergehen von Gestein, sei es infolge eines Zufalles oder eines außergewöhnlichen Naturereignisses oder einer schuldhaften Handlung oder Unterlassung möglich sei, gibt zu rechtlichen Bedenken keinen Anlaß. Denn diese Erwägungen dienen ausschließlich dazu, darzutun, daß der hier fragliche Unfall sich als ein Betriebsunfall darstellt, der die Annahme ausschließt, als habe es sich um ein von außerhalb des Betriebsunternehmens wirkendes Ereignis gehandelt (vgl. RGZ. Bd. 93 S. 66)." ...