RG, 15.11.1883 - IV 308/83

Daten
Fall: 
Gefangene in städtischer Krankenanstalt
Fundstellen: 
RGZ 10, 230
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
15.11.1883
Aktenzeichen: 
IV 308/83
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Danzig
  • OLG Marienwerder

Unter welchen Voraussetzungen gilt der einer städtischen Krankenanstalt zugeführte gerichtliche Gefangene als entlassen aus der Haft, sodaß die Verpflichtung des Justizfiskus zu den Pflegekosten aufhört?

Tatbestand

Der von der Polizei vorläufig festgenommene S. ist am 4. Juni 1881 dem beklagten Amtsanwalt zugeführt und in das gerichtliche Gefängnis aufgenommen, jedoch bereits am 5. Juni, weil am Typhus leidend, in das städtische Lazarett überführt. Diese Überführung hat der Beklagte auf der über die vorläufige Festnahme lautenden Registratur vermerkt und, ohne irgend etwas Weiteres zu veranlassen, die Registratur urschriftlich an die Polizeidirektion zurückgegeben. S. ist darauf erst am 9. Juli durch eine Verfügung des Amtsrichters freigelassen.

Die Kosten der Verpflegung mit 42,5 M sind dem Magistrat von dem Justizfiskus gezahlt, und der letztere verlangt dieselben, als durch Versehen des Beklagten verursacht, von diesem mit der vorliegenden Klage erstattet. Das Versehen wird darin gefunden, daß der Beklagte den S. weder dem Amtsrichter vorgeführt, noch in Freiheit gesetzt habe, wie ihm nach Art. 29 der Geschäftsanweisung für die Amtsanwälte (preuß. Just.-Min.-Bl. 1879 S. 217) oblag.

Im Gegensatz zu den abweisenden Urteilen der Vorinstanzen hat das Reichsgericht den Anspruch für begründet erachtet aus folgenden Gründen:

Gründe

"Der Entscheidungsgrund des Berufungsgerichtes lautet: Eine am 7. Juni 1881 getroffene Anordnung auf Freilassung hätte in der That keine Wirkung gehabt, weil S. als Kranker nicht entlassen werden konnte. Nicht auf die Verfügung der Freilassung in den Akten, sondern auf die thatsächliche Entlassung kommt es an, und diese war damals nicht mehr ausführbar. S. würde vielmehr trotzdem, nach wie vor, im städtischen Lazarett verblieben und dort auf Kosten des Justizfiskus zu verpflegen gewesen sein.

Davon ist unzweifelhaft richtig, daß es auf die Verfügung der Freilassung in den Akten, wenn gar nichts weiter geschieht, nicht ankommt. Dagegen ist es unrichtig, daß S. als Kranker nicht entlassen werden konnte. Denn man muß unter Entlassung überhaupt solche Verfügung verstehen, durch welche die gegen den bisherigen Gefangenen ausgeübte Beschränkung seiner Freiheit aufgehoben wird. Bei der Überführung des S. in das städtische Lazarett ist dies nicht geschehen, sondern von dem ersten Staatsanwalte, als Vorsteher des Gefängnisses, an die Polizeidirektion das Ersuchen gerichtet, den S. nach erfolgter Genesung dem (gerichtlichen) Centralgefängnisse wieder zuzuführen. Anders konnte der gedachte Vorsteher nicht verfügen, da nicht er, sondern allein der Beklagte die Disposition über S. hatte. Diesen Geschäftsgang mußte der Beklagte kennen. Die Frage ist vielmehr für den vorliegenden Fall dahin zu stellen:

ob nicht die mit der Verfügung der Freilassung verbundene Mitteilung dieser Verfügung an die städtische Lazarettverwaltung oder den Magistrat die Wirkung gehabt haben würde, den klagenden Justizfiskus von da ab von der Erstattungspflicht zu befreien.

Diese Frage ist aber zu bejahen. Denn der Justizfiskus hat nur die durch die Definierung eines gerichtlichen Gefangenen entstehenden Kosten zu tragen, daher auch nur die Kosten, welche durch die Verpflegung eines Gefangenen in der Krankenanstalt entstehen. Allerdings wird man darunter auch einen solchen Gefangenen zu begreifen haben, welcher zwar mit der Überführung in die Krankenanstalt thatsächlich die Mauern des Gefängnisses verläßt, aber zugleich der Verwaltung der Anstalt zur Observation überwiesen wird. Denn in dieser Observation findet die gerichtliche Haft ihre Fortsetzung; ein solcher Gefangener bleibt zur Disposition des Gerichtes und der in der angeordneten Observation liegenden Beschränkung der Freiheit unterworfen; er ist nicht wirklich entlassen.

Nur für solchen Fall bestimmen die allgemeine Verfügung des Justizministers vom 13. März 1848 (J.M.Bl. S. 110), die speziell an den Oberstaatsanwalt zu Marienwerder gerichtete Verfügung desselben vom 29. September 1880 und die Verfügung dieses dem Beklagten übergeordneten Oberstaatsanwaltes vom 4. Oktober 1880. Die letztere Verfügung, welche als Instruktion seines Vorgesetzten für den Beklagten maßgebend war, drückt den Gegensatz richtig in der Anordnung aus:

daß der Ortsbehörde jedesmal bestimmt zu erklären sei, ob der erkrankte Gefangene wirklich aus der Haft entlassen ist, oder ob derselbe auch während der Dauer des Aufenthaltes im Krankenhause als Gefangener betrachtet werden soll.

Genau auf demselben Standpunkte steht das Bundesamt für Heimatswesen in zahlreichen Entscheidungen.1

In der ersten dieser Entscheidungen werden als Gegensätze hingestellt: einerseits eine solche Überweisung eines Gefangenen an die Krankenanstalt, welche mit dem Ersuchen, auf denselben zu achten und ihn nach beendigter Kur wieder an die Gefängnisinspektion abzuliefern, geschieht; andererseits die vorbehaltlose Überführung in die Krankenanstalt. Der gedachte Gerichtshof faßt die letztere Anordnung als eine wirkliche Entlassung auf und legt daher die von da ab erwachsenden Kur- und Verpflegungskosten dem Armenverbande zur Last. Es wird dabei als entscheidend bezeichnet: ob der Kranke noch zur Disposition des Gerichtes steht. So lange dies stattfindet, könne der Eintritt der Armenpflege nicht als vorhanden angenommen werden.

Die in der angeführten Wohlers'schen Sammlung (Heft 13 S. 140) mitgeteilte allgemeine Verfügung des Justizministers vom 21. Dezember 1881 kann für das angefochtene Urteil nicht herangezogen werden, einmal weil sie erst nach den erheblichen Hergängen erlassen ist; sodann aber auch, weil sie ebenfalls dem Entscheidungsgrunde des Berufungsgerichtes widerspricht. Denn diese Verfügung, welche gerade aus Veranlassung der obigen Judikatur des Bundesamtes erlassen ist, weist die Justizbehörden an, in solchen Fällen stets zu erwägen: ob die Untersuchungshaft aufzuheben? oder ob der Gefangene nur vorübergehend behufs seiner Verpflegung der Krankenanstalt zu überweisen ist. Dies ist genau der oben angenommene Standpunkt.

Hiernach hat der Beklagte dadurch, daß er den S. weder dem Amtsrichter zur Beschlußfassung über dessen Freilassung oder den Erlaß des Haftbefehls vorführte (d. h. nach der angeführten Instruktion: unter Mitteilung des Sachverhaltes zur Verfügung stellte), noch selbst die Freilassung anordnete, dem klagenden Fiskus die eingeklagten Kosten durch sein Versehen verursacht und ist nach §§. 85. 89 A.L.R. II. 10 dafür verhaftet."

  • 1. Vgl. Wohlers, Samml. der Entsch. des Bundesamtes für Heimatswesen Hft. 10 Nr. 24, Hft. 11 Nr. 27, Hft. 13 Nr. 22, Hft. 14 Nr. 29.