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Aktuelle Rechtsthemen und was eine Großkanzlei sonst bewegt
Letztes Update: vor 54 Minuten 37 Sekunden

EuG: DSA-Pflicht zur Publikation von Werbeinfos ausgesetzt

Mi, 17.01.2024 - 07:48

Der Digital Services Act (DSA) formuliert zahlreiche Pflichten für Anbieter von Online-Diensten. Die meisten Vermittlungsdienste haben noch bis zum 17. Februar 2024 Zeit, um die neuen Vorgaben umzusetzen. Anders sieht es für die sog. sehr großen Online-Plattformen (SGOP) aus: Diese müssen bereits jetzt die teils sehr weitreichenden Kontroll- und Informationspflichten umsetzen.

Bisher hat die Kommission 20 SGOP (und zudem zwei sehr große Online-Suchmaschinen) benannt, unter anderem Amazon Store (Marketplace) und Zalando. Beide haben gegen diese Einstufung beim Europäischen Gericht (EuG) geklagt. Eine erste Entscheidung fiel Ende letzten Jahres bzgl. der Amazon-Klage (Beschluss v. 27. September 2023 – T-367/23 R). Amazon ist demnach vorläufig nicht mehr verpflichtet, ein Archiv für Online-Werbung zu veröffentlichen. 

Klage gegen SGOP-Pflichten zu Profiling und Werbearchiven 

Amazon wehrt sich mit der Klage sowohl gegen die generelle Benennung als SGOP als auch gegen spezifische SGOP-Pflichten aus Art. 38, 39 DSA: 

  • Art. 38 DSA bestimmt, dass SGOP ihre Empfehlungssysteme dergestalt einrichten müssen, dass zumindest eine Option kein Profiling i.S.d. DSGVO darstellt. Im Kern geht es darum, dass Nutzer der SGOP der Anwendung von targeted advertising widersprechen können und so keine Empfehlungen erhalten, die auf ihrem Nutzerverhalten basieren. Wichtigster Anwendungsfall ist dabei die Anordnung von Suchergebnissen. Für das Geschäftsmodell von E-Commerce-Plattformen sind Empfehlungssysteme von zentraler Bedeutung und die neue Pflicht somit ein empfindlicher Eingriff.
  • Art. 39 DSA verpflichtet SGOP dazu, weitgehende Informationen zu Werbung auf ihren Plattformen zu sammeln und diese auch öffentlich zugänglich zu machen. Dazu zählen beispielsweise Angaben zum Inhalt der Werbung, dem Zeitraum, in dem die Werbung angezeigt wurde und der Gesamtzahl der erreichten Nutzer. Diese Informationen müssen für den gesamten Zeitraum, in dem die Werbung angezeigt wird, und ein Jahr lang nach der letzten Anzeige für die Öffentlichkeit verfügbar gemacht werden. Der DSA verfolgt damit das Ziel, die Aufsichtsbehörden und die Forschung zu neu entstehenden Risiken im Zusammenhang mit der Online-Verbreitung von Werbung zu unterstützen (Erwägungsgrund 95). Auch diese Bestimmung kann gravierende Auswirkungen auf SGOP haben, die zu Wettbewerbsnachteilen führen können.  

Bezüglich der Aussetzung der Pflichten aus Art. 38, 39 DSA stellte Amazon zudem einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz nach Art. 278, 279 AEUV.

EuG: Opt-Out-Pflicht für Targeted Advertising bleibt bestehen

Über das einstweilige Rechtsschutzbegehren hat der EuG im September 2023 entschieden. Für den Erlass einer einstweiligen Anordnung formulierte das Gericht drei Voraussetzungen: (1) Der Erlass muss dringlich sein, der Antragstellerin müssen also andernfalls „schwere und nicht wiedergutzumachende Schäden“ drohen; (2) die Klage darf nicht von vornherein völlig unsubstantiiert sein; (3) das Interesse der Antragstellerin muss gegenüber dem Interesse an der sofortigen Geltung der Regelung überwiegen. Auf dieser Grundlage entschied das Gericht teilweise zugunsten von Amazon.

Zunächst bleibt die Pflicht aus Art. 38 DSA bestehen. Amazon machte insofern geltend, dass der Opt-Out für das targeted advertising Auswirkungen auf die Shopping-Erfahrung der Nutzer*innen hätte und diese sich daher für andere Plattformen entscheiden würden. Zudem wies Amazon auf den erheblichen Wettbewerbsnachteil hin, den diese Pflicht im Verhältnis zu anderen Online-Marktplätzen mit sich bringe, die keine SGOP seien. Das Gericht folgte Amazon insofern nicht und wies darauf hin, dass zum einen die Möglichkeit bestehe, Kunden durch umfassende Informationen von einem Opt-Out abzubringen. Zum anderen seien Amazons Ausführungen bzgl. des drohenden Schadens nicht substantiiert genug: Der Verlust von Marktanteilen sei für sich genommen nicht ausreichend, um schwere und nicht wiedergutzumachende Schäden zu belegen.

EuG: Pflicht zur Veröffentlichung des Werbearchivs vorläufig ausgesetzt

Bezüglich der Pflicht zur Erstellung und Veröffentlichung eines Online-Werbearchivs berief Amazon sich auf die erhebliche Bedeutung von Online-Werbung für ihr Geschäftsmodell und auf den vertraulichen Charakter der zu veröffentlichenden Informationen. So hätten Wettbewerber die Möglichkeit, Werbestrategien und -algorithmen zu kopieren. Gleichzeitig drohe der Verlust von Werbepartnern, die zu anderen Plattformen wechseln würden, die nicht den Anforderungen des Art. 39 DSA unterliegen. Das Gericht folgte dieser Argumentation in Bezug auf die Veröffentlichung des Werbearchivs und sah sogar „erhebliche Geschäftsgeheimnisse“ durch die Veröffentlichung der Informationen gefährdet:

It must be held that the obligations relating to the advertisement repository (…), enable third parties to access significant trade secrets concerning the advertising strategies of the applicant’s advertising customers. It reveals strategic information such as campaign duration, campaign reach and targeting parameters. By doing so, it will allow competitors and the applicant’s advertising partners to draw market insights on an ongoing basis, to the detriment of the applicant and its advertising partners.

Die Pflicht zur Erstellung des Werbearchivs bleibt hingegen bestehen. Das Gericht führte weiter aus, dass für das Hauptsacheverfahren mitentscheidend sei, ob Amazon bereits durch andere Rechtsakte zur Veröffentlichung von Werbeinformationen verpflichtet sei, z.B. aus der E-Commerce-RL und der DSGVO. Es kommt aber zu dem Schluss, dass zumindest ein Teil der nach Art. 39 DSA zu veröffentlichenden Informationen nicht bereits Gegenstand anderer Gesetzgebungsakte sind. Die abschließende rechtliche Beurteilung ist dem Hauptsachverfahren vorbehalten, die Klage ist aber jedenfalls nicht von vornherein unsubstantiiert.

Erste DSA-Gerichtsentscheidung kritisch gegenüber SGOP-Pflichten

Der Beschluss des EuG in Sachen Amazon ist die erste Gerichtsentscheidung, die sich inhaltlich mit den neuen SGOP-Pflichten aus dem DSA beschäftigt. Und dies durchaus kritisch – die Aussetzung der Pflicht zur Veröffentlichung des Werbearchivs kann als erster kleiner Fingerzeig gewertet werden, dass die europäische Judikative ihren Kontrollauftrag auch in Bezug auf den DSA ernst nimmt. 

Von deutlich größerer Tragweite werden die Entscheidungen in der Hauptsache von Amazon Store und Zalando sein. Dort geht es nämlich insbesondere um die Frage, ob die SGOP-Pflichten des DSA für E-Commerce-Marktplätze angemessen sind. Die insofern geäußerte Kritik von Amazon und Zalando ist berechtigt: Die strukturelle Gefahr für die Verbreitung rechtswidriger Inhalte ist zum Beispiel bei Social-Media-Plattformen ungleich höher und das Risikopotenzial von Online-Marktplätzen viel geringer. Gleichwohl sind Compliance-Aufwand und Bußgeldrisiko identisch. Online-Marktplätze mit Sozialen Medien insofern gleichzustellen und ihnen dieselben weitreichenden Pflichten aufzuerlegen, ist nicht gerechtfertigt. 

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Die Beweiskraft einer AU-Bescheinigung – Anforderungen der Rechtsprechung – Update #3

Mo, 15.01.2024 - 07:53

Die Corona-Pandemie hat gerade in der Gesundheitsbranche für zahlreiche Veränderungen gesorgt. Noch bis zum 31. Dezember 2021 galten Sonderregelungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA), wonach eine telefonische Krankschreibung bei leichten Atemwegserkrankungen für bis zu sieben Tage telefonisch möglich war und auf demselben Weg um weitere sieben Kalendertage verlängert werden konnte. Der kontaktierte Arzt konnte hiernach die Arbeitsunfähigkeits-Bescheinigung (AU) ausstellen, die der Patient dem Arbeitgeber vorlegt. Für in Arztpraxen bekannte Versicherte bestand daneben auch die Möglichkeit der Krankschreibung per Videosprechstunde, sofern die spezifische Erkrankung dies zuließ und es sich nicht um eine Folgekrankschreibung handelte. 

Aus Sicht der Bundesregierung hat sich die telefonische Krankschreibung bewährt, Arztpraxen wurden entlastet. Dies hat zur Folge, dass es aufgrund mehrerer Beschlüsse des GBA, zuletzt vom 7. Dezember 2023, Versicherten nunmehr möglich, sich bis zu sieben Tage im Rahmen einer Videosprechstunde oder bei Erkrankungen, die keine schwere Symptomatik vorweisen, nach telefonischer Anamnese für bis zu fünf Tage (erst-) krankschreiben zu lassen. Sind die Versicherten dem Vertragsarzt nicht bekannt (bei einer Gemeinschaftspraxis genügt die Kenntnis eines der Vertragsärzte), besteht die Möglichkeit der (Erst-) Krankschreibung lediglich für bis zu drei Tage.

Eine telefonische Verlängerung (Folgekrankschreibung) ist grundsätzlich nicht möglich; nur ausnahmsweise, wenn die Erstkrankschreibung im Rahmen eines Praxisbesuchs ausgestellt wurde. Gleiches gilt für Folgekrankschreibungen via Videosprechstunde.

Die aufgezeigten Möglichkeiten der telemedizinischen Krankschreibung gelten seit dem 18. Dezember 2023 überdies auch für die Krankschreibung versicherter Kinder (Kindkrankschreibung). Diese ist unter anderem Voraussetzung für die Gewährung von Kinderkrankengeld gemäß § 45 SGB V sowie für den Anspruch auf Freistellung gegen den Arbeitgeber.

Bei Krankschreibung ohne jeglichen Arztkontakt: Beweiskraft beeinträchtigt

Hiervon unabhängig stellt sich die Frage, inwieweit Arbeitgeber verpflichtet sind, die im elektronischen Wege ausgestellten AU-Bescheinigungen als hinreichenden Nachweis für das tatsächliche Vorliegen der Arbeitsunfähigkeit anzuerkennen. Die Beschlüsse des GBA sind jedenfalls für den Arbeitnehmer* und den Arbeitgeber nicht bindend; hier ist das individuelle Vertragsverhältnis zwischen beiden Parteien maßgeblich.

Auch unabhängig von den Besonderheiten während der pandemischen Lage stellt sich die Frage für Arbeitgeber, welche Hürden regelmäßig an den Nachweis zur Krankschreibung zu stellen sind.

Bereits vor dem Höhepunkt der Pandemie war nach Ansicht der Rechtsprechung die Beweiskraft einer AU-Bescheinigung ohne jeglichen Arztkontakt erschüttert (vgl. LG Hamburg, Urteil v. 3. September 2019 – 406 HKO 56/29, in der Berufungsinstanz bestätigt: OLG Hamburg, Urteil v. 5. November 2020 – 5 U 175/19). Dies hatte für den betroffenen Arbeitnehmer zur Folge, dass die Fehlzeiten als nicht ausreichend entschuldigt anzusehen waren und somit auch der Anspruch auf Entgeltfortzahlung leerlief.

Grundsätzlich kommt der AU-Bescheinigung ein hoher Beweiswert zugute. Prozessual betrachtet spricht ein Anscheinsbeweis zugunsten des Arbeitnehmers dafür, dass mit der Vorlage der Bescheinigung die krankheitsbedingte Arbeitsunfähigkeit vermutet wird (ständige Rechtsprechung vgl. beispielhaft BAG, Urteil v. 26. Oktober 2016 – 5 AZR 167/16). Der Arbeitgeber hat dann gegebenenfalls die Möglichkeit, den Beweiswert zu erschüttern, indem er konkrete Tatsachen vorträgt, die einen ernsthaften Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers begründen. Dies soll nach der dargestellten Rechtsprechung jedenfalls der Fall sein, sofern die Arbeitsunfähigkeit ohne jegliche ärztliche Untersuchung festgestellt wurde. Andere anerkannte Fällen sind beispielhaft regelmäßig die Rückdatierung von AU-Bescheinigungen (vgl. LAG Rheinland-Pfalz, Urteil v. 13. Januar 2015 – 8 Sa 373/14), die Ausübung mit einer Erkrankung unvereinbare Nebentätigkeiten (vgl. LAG Hamm, Urteil v. 8. Oktober 1970 – 4 Sa 534/70) oder im Falle einer Ankündigung der Erkrankung durch den Arbeitnehmer selbst (vgl. BAG, Urteil v. 4. Oktober 1989 – 5 AZR 326/77). Es bleibt jedoch wichtig zu betonen, dass an die Erschütterung hohe Anforderungen gestellt werden, da andernfalls bei jeder belastenden Maßnahme durch den Arbeitgeber im Arbeitsalltag und anschließender Erkrankung die AU-Bescheinigung nicht den hinreichenden Nachweis erbringen würde (z.B. bei Erkrankung in zeitlicher Nähe zur Abmahnung, LAG Köln, Urteil v. 25. Juni 2020 – 6 Sa 664/19).

Es besteht daher gerade für Arbeitnehmer in Einzelfällen das Risiko, am Ende ohne den Anspruch auf Entgeltfortzahlung dazustehen. Dies hat auch das Arbeitsgericht Berlin (Urteil v. 1. April 2021 – 42 Ca 16289/20) in einem Fall entschieden, in dem gewerbliche Angebote zur Krankschreibung genutzt wurden. Ein Arbeitnehmer aus Berlin hatte sich mithilfe des Anbieters über WhatsApp die Arbeitsunfähigkeit bescheinigen lassen, ohne dass er Kontakt zu einem Arzt hatte. Der Arbeitnehmer konnte auf der Website aus 12 Grunderkrankungen wählen, mit denen dann nach Eingabe der persönlichen Daten die Arbeitsunfähigkeit durch einen Arzt – im konkreten Fall durch eine Gynäkologin in Hamburg – ohne persönliche Untersuchung bescheinigt wurde. Vor Gericht gab der Arbeitnehmer an, an den betroffenen Tagen an starkem Schnupfen und Kopfschmerzen gelitten und aufgrund der Corona-Pandemie auf einen Arztbesuch verzichtet zu haben. 

Im Ergebnis sah das Arbeitsgericht die Beweiskraft der AU-Bescheinigung als erschüttert an, weil es vorliegend keinen Kontakt im Rahmen einer ärztlichen Begutachtung gegeben hatte. Die Corona-Pandemie ändere daran im Grundsatz nichts, auch wenn es Erleichterungen bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit im gesetzlichen Gesundheitssystem gab. Sofern kein unmittelbarer Kontakt zwischen Arbeitnehmer und Arzt stattfindet, kann sich letztgenannter keine persönliche Überzeugung über den Gesundheitszustand des Arbeitnehmers machen. Insoweit besteht grundsätzlich die Gefahr, dass eine Feststellung der Arbeitsunfähigkeit „ins Blaue hinein“ möglich ist und die Beweiskraft der AU-Bescheinigung erheblich abnimmt. Die Entscheidung des Gerichts ist insofern konsequent und verhindert Missbrauch.

Keine allgemeingültige Aussage zu telemedizinischen Behandlungen getroffen

Letztlich muss jedoch betont werden, dass das Arbeitsgericht Berlin in der dargestellten Entscheidung keine generellen Aussagen zur Zulässigkeit von Telemedizin bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit getroffen hat. Spätestens seit Corona gibt es zahlreiche Unternehmen auf dem Markt, die eine ärztliche Beratung und Behandlung im Wege der (Video-)Telefonie anbieten. Diese werden mittlerweile von den gesetzlichen Kassen bezahlt und können – soweit erforderlich – auch AU-Bescheinigungen ausstellen. Der wesentliche Unterschied zum geschilderten Fall vor dem Arbeitsgericht Berlin ist jedoch derjenige, dass eine direkte Vorstellung bei einem Arzt mittels (Video-)Telefonie erfolgt und insoweit für den Arzt im Grundsatz die Möglichkeit besteht, sich eine persönliche Überzeugung über den Arbeitnehmer zu verschaffen.

Von der Rechtsprechung noch nicht entschieden bleibt daher die Frage, ob die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit via Telemedizin die Beweiskraft der AU-Bescheinigung erschüttert oder inwieweit Einschränkungen zu berücksichtigen sind. So kann sich unter Umständen der langjährige Hausarzt ein deutlich umfassenderes Bild über einen Arbeitnehmer machen als der erstmalige digitale Kontakt mit einem Arzt, der irgendwo im gesamten Bundesgebiet praktiziert. Auch bei den verschiedenen Symptomen und Diagnosen könnte im Einzelfall eine unterschiedliche Bewertung vorzunehmen sein – so vermag beispielsweise die ärztliche Behandlung mittels Telemedizin bei einem Magen-Darm-Infekt mit einem persönlichem Arztbesuch als annähernd gleichwertig, im Falle des Verdachts auf Blutvergiftung dagegen als wesentlich geringwertiger zu bewerten sein. 

Nicht zu verwechseln ist die rechtliche Einschätzung mit der Frage der Einführung der elektronischen AU-Bescheinigung. Seit dem 1. Juli 2022 verlangt der Gesetzgeber von allen Vertragsärzten in der gesetzlichen Krankenversicherung, dass entsprechende Bescheinigungen nur noch digital an die Krankenkassen und durch diese dann wiederum an den Arbeitgeber übermittelt werden. Damit wird allerdings lediglich die Übermittlung der AU-Bescheinigung und nicht der grundlegende Ablauf zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit angepasst.

Rechtsprechung des BAG reduziert Missbrauchsmöglichkeit beim Krankfeiern nach Kündigung

In seiner Entscheidung vom 8. September 2021 hatte das Bundesarbeitsgericht die Position des Arbeitgebers gestärkt und zugleich die Grenzen der Beweiskraft einer AU-Bescheinigung aufgezeigt (vgl. BAG, Urteil v. 8. September 2021 – 5 AZR 149/21). In dem konkreten Fall kündigte eine Arbeitnehmerin ihr Arbeitsverhältnis und reichte noch am Tage des Zugangs der Kündigungserklärung bei ihrem Arbeitgeber eine Krankschreibung ein, die zeitlich gesehen auf den Tag genau der Länge der Kündigungsfrist entsprach. Daraufhin verweigerte der Arbeitgeber die Entgeltfortzahlung mit der Begründung, dass aufgrund dieser passgenauen Krankschreibung der Beweiswert der AU-Bescheinigung erschüttert sei. Während die ersten beiden Instanzen der Zahlungsklage der Arbeitnehmerin stattgegeben hatten, hob das BAG diese Entscheidungen (zuletzt LAG Niedersachsen, Urteil v. 13. Oktober 2020 – 10 Sa 619/19) auf. 

Der Arbeitgeber konnte vor Gericht erfolgreich den Beweiswert der eingereichten AU-Bescheinigung erschüttern, weil die „passende“ Krankschreibung ernsthafte Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit der Arbeitnehmerin erweckte. Da dem Arbeitgeber dies im gegebenen Fall gelang, oblag es wiederum der Arbeitnehmerin ihre Arbeitsunfähigkeit im Rechtsstreit darzulegen und zu beweisen (z.B. durch Zeugenvernehmung des behandelnden Arztes nach entsprechender Schweigepflichtentbindung), was ihr allerdings in dem konkreten Fall nicht gelungen war.

Diese Linie führte das BAG nun mit seinem Urteil vom 13. Dezember 2023 (5 AZR 137/23) fort. Erneut gelang es einem Arbeitgeber, die Beweiskraft der vorgelegten AU-Bescheinigungen zu erschüttern. Der Entscheidung lag ein ähnlicher, jedoch nicht identischer Sachverhalt zugrunde.

Dem Arbeitnehmer war zunächst für fünf Tage seine Arbeitsunfähigkeit attestiert worden. Erst tags darauf erfolgte die arbeitgeberseitige Kündigung. Nach Ablauf der ersten Krankschreibung ließ sich der – nunmehr gekündigte – Arbeitnehmer zweifach folgekrankschreiben. Die beiden Folgekrankschreibungen umfassten zusammen exakt den Zeitraum der Kündigungsfrist und endeten am 31. Mai 2022, einem Dienstag. Am 1. Juni 2022 nahm der Arbeitnehmer eine neue Beschäftigung bei einem neuen Arbeitgeber auf. 

Während das BAG die erste AU-Bescheinigung – wie auch die Vorinstanzen – insbesondere mangels zeitlicher Koinzidenz nicht beanstandete, sah es – anders als die Vorinstanzen – den Beweiswert der beiden Folgekrankschreibungen als erschüttert an. Dabei komme es ebenso wenig darauf an, ob es sich um eine arbeitgeber- oder arbeitnehmerseitige Kündigung handele, wie darauf, ob es sich um eine Erst- oder Folgekrankschreibung handele. Ausschlaggebend sei stets eine Einzelfallbetrachtung unter Würdigung der Gesamtumstände.

Konkretisierung zu den Anforderungen einer AU-Bescheinigung wünschenswert

Die gegenwärtige Rechtslage trifft nicht nur den Arbeitgeber – insbesondere für die betroffenen Arbeitnehmer besteht die missliche Situation, dass sie bei Nutzung der gewerblichen Angebote die Erwartung an eine hinreichende AU-Bescheinigung haben, mit denen sie im Ergebnis allerdings nicht den Nachweisanforderungen zum Erhalt der Entgeltfortzahlung genügen. Insoweit ist es aus Gründen des Arbeitnehmerschutzes wünschenswert, wenn der Gesetzgeber zeitnah eine entsprechende Klarstellung vornimmt und die Rechtsunsicherheit somit beseitigt.

* Gemeint sind Beschäftigte jeder Geschlechtsidentität. Lediglich der leichteren Lesbarkeit halber wird künftig bei allen Bezeichnungen nur noch die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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Tokenisierte Genussrechte – Die Zukunft der Mitarbeiterbeteiligung?

Fr, 12.01.2024 - 14:24

Das Gewinnen und Halten von Mitarbeitern* im „War for Talents“ sowie die ständige Motivation zu Bestleistungen ist für Unternehmen und insbesondere für Startups eine besondere Herausforderung. Ein geeignetes Mittel ist die Beteiligung von Mitarbeitern am Unternehmenserfolg in Form eines Mitarbeiterbeteiligungsprogramms.

Genussrechte sind eine attraktive Form der Mitarbeiterbeteiligung

Beteiligungsähnliche Genussrechte ermöglichen eine dynamische Ausgabe von Mitarbeiterbeteiligungen unter gleichzeitigem Ausschluss von Einflussnahmemöglichkeiten der Mitarbeiter auf die Unternehmenssteuerung und -politik. Sie vereinen die (steuerlichen) Vorteile von echten Anteilen mit der Flexibilität rein schuldrechtlicher Beteiligungsinstrumente.

  • Vergleich mit echten Anteilen: Genussrechte sind in der Regel lediglich mit bloßen Informationsrechten unter Ausschluss von sonstigen Einflussnahmemöglichkeiten versehen. Im Gegensatz zu echten Anteilen wird der Mitarbeiter bei beteiligungsähnlichen Genussrechten nicht Gesellschafter des Arbeitgeberunternehmens und ihm stehen folglich auch nicht die Vermögens- und Verwaltungsrechte eines Gesellschafters zu. Er wird vielmehr auf Grundlage eines Schuldrechtsverhältnisses am Unternehmenserfolg – vergleichbar einem Gesellschafter – beteiligt. Insofern bedarf es – anders als bei GmbH-Geschäftsanteilen – keines von den Hauptgesellschaftern kontrollierten Bündelungsvehikels oder einer gesonderten stimmrechtslosen Anteilsklasse. 

    Ferner ist bei der Einräumung und Übertragung von Genussrechten im Gegensatz zu GmbH-Geschäftsanteilen keine notarielle Beurkundung erforderlich. Genussrechte sind folglich deutlich flexibler einsetzbar und können grds. jederzeit direkt gewährt oder eingezogen werden.

    Zudem werden die von den Mitarbeitern erzielten Erträge aus den beteiligungsähnlichen Genussrechten (einschließlich Partizipation an Wertsteigerungen nach Einräumung) vergleichbar zu Beteiligungserträgen aus echten Anteilen versteuert, d.h. sie unterliegen dem Abgeltungstarif von rd. 26,4% bzw. Veräußerungsgewinne bei einer Mindestbeteiligung von 1% rd. 28,5% (jeweils ohne Kirchensteuer). Auch die Besteuerung bei der Einräumung von beteiligungsähnlichen Genussrechten ist weitgehend identisch wie bei echten Anteilen und kann unter bestimmten Voraussetzungen steuerbegünstigt sein (s.u.).

  • Vergleich mit VSOP und ESOP: Virtuelle Beteiligungen und Optionsprogramme sind ebenfalls sehr flexibel in ihrer Ausgestaltung und Handhabe, wobei bei Optionen auf GmbH-Geschäftsanteile eine notarielle Beurkundung aufgrund von bestehenden Unsicherheiten ratsam ist. Aus Sicht des begünstigten Mitarbeiters vorteilhaft ist die Vermeidung einer Sofortbesteuerung ohne korrespondierenden Liquiditätszufluss (sog. Dry Income), wie dies bei der unentgeltlichen oder verbilligten Ausgabe von Anteilen oder Genussrechten (vorbehaltlich eines Besteuerungsaufschubs, s.u.) der Fall ist. Nachteilig ist allerdings die Ertragsbesteuerung als Arbeitslohn zum progressiven Steuersatz von bis zu rd. 47,5% in der Spitze (ohne Kirchensteuer), was zu einer Differenz bei der Nachsteuerrendite von bis zu ca. 21% führt (ohne Betrachtung von Opportunitätskosten).
Genussrechte können mit Optionen kombiniert werden

Zur weiteren Flexibilisierung kann die Ausgabe von Genussrechten mit Optionen verbunden werden. Durch eine diskretionäre Optionsausübung kann dem Mitarbeiter die Möglichkeit eingeräumt werden, den Zeitpunkt der Zuteilung des Genussrechts und somit auch des lohnsteuerpflichtigen Zuflusses eines geldwerten Vorteils mitzubestimmen und an seiner persönlichen Liquiditätslage auszurichten. Gewisse praktische Einschränkungen ergeben sich jedoch hinsichtlich des Ausgabezeitpunkts aufgrund von Bewertungserfordernissen der zugeteilten Genussrechte.

Genussrechte können als digitales Asset tokenisiert werden

Als technische Ergänzung können die Genussrechte als digitaler Vermögenswert in Form eines Security Token ausgestaltet werden. Hierdurch können die Genussrechte mittels Blockchain an weitere Personen übertragen werden und der Mitarbeiter kann das Genussrecht bereits vor Eintritt eines Exit-Events monetarisieren, ohne dass es zu einem Liquiditätsabfluss beim Arbeitgeberunternehmen kommt. Zudem lässt sich die Abwicklung von Genussrechtszahlungen über Smart Contracts automatisieren. 

Im Optionsmodell kann die Optionsausübung mit dem Minten der Genussrechts-Token verbunden und durch den Mitarbeiter selbst gesteuert werden. Relevanter Zeitpunkt für den Lohnzufluss ist das Einbuchen des Tokens in der Wallet; hierdurch erlangt der Mitarbeiter die wirtschaftliche Verfügungsbefugnis über das Genussrecht.

Von jungen Unternehmen an Mitarbeiter ausgegebene beteiligungsähnliche Genussrechte sind steuerlich privilegiert

Seit Juli 2021 wird die unentgeltliche oder verbilligte Gewährung einer qualifizierten Unternehmensbeteiligung nach Maßgabe des § 19a Einkommensteuergesetz (EStG) nicht der sofortigen Besteuerung unterworfen, sondern ein Besteuerungsaufschub gewährt. Der Anwendungsbereich wurde durch das Zukunftsfinanzierungsgesetz (ZuFinG) mit Wirkung ab 2024 erweitert. Zu den qualifizierten Vermögensbeteiligungen zählen neben Aktien und GmbH-Anteilen auch beteiligungsähnliche Genussrechte am Unternehmen des inländischen Arbeitgebers, sofern eine Rückzahlung zum Nennwert nicht zugesagt ist; eine gewinnunabhängige Mindestverzinsung ist in begrenztem Umfang möglich (vgl. § 2 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. l) i.V.m. Abs. 4 des Fünften Vermögensbildungsgesetzes). Der im Zeitpunkt der Übertragung nicht besteuerte Arbeitslohn unterliegt erst dann der Besteuerung und dem Lohnsteuerabzug, wenn:

  • das Genussrecht ganz oder teilweise entgeltlich oder unentgeltlich übertragen wird,
  • seit der Einräumung des Genussrechts 15 Jahre vergangen sind oder
  • das Dienstverhältnis zu dem bisherigen Arbeitgeber beendet wird.

Ist der gemeine Wert des Genussrechts (abzüglich geleisteter Zuzahlungen des Mitarbeiters) bei der späteren Übertragung niedriger als der aufgeschoben besteuerte Arbeitslohn bei Genussrechtseinräumung, so unterliegt nur der niedrigere gemeine Wert des Genussrechts (abzüglich geleisteter Zuzahlungen des Mitarbeiters) der Besteuerung bzw. im Falle eines Rückerwerbs des Genussrechts bei Dienstverhältnisbeendigung die tatsächlich gewährte Vergütung (unter Berücksichtigung von Bad Leaver-Abschlägen). 

Die Besteuerung durch Zeitablauf nach 15 Jahren oder bei Beendigung des Dienstverhältnisses verschiebt sich auf eine spätere Übertragung des Genussrechts, wenn der Arbeitgeber spätestens mit der dem betreffenden Ereignis folgenden Lohnsteuer-Anmeldung unwiderruflich erklärt, bei Eintritt der späteren Genussrechtsübertragung für die Lohnsteuer zu haften.

Voraussetzung für die Gewährung des Besteuerungsaufschubs ist, dass 

  • die qualifizierte Unternehmensbeteiligung von seinem Arbeitgeber (oder einem Gesellschafter seines Arbeitgebers) zusätzlich zum ohnehin geschuldeten Arbeitslohn an dem Unternehmen des Arbeitgebers unentgeltlich oder verbilligt eingeräumt wird (d.h. keine Entgeltumwandlung),
  • die Gründung des Arbeitgebers nicht mehr als 20 Jahre zurückliegt und
  • der Arbeitgeber folgende Schwellenwerte im Zeitpunkt der Genussrechtseinräumung nicht überschreitet bzw. in einem der sechs vorangegangenen Kalenderjahre nicht überschritten hat: Jahresumsatz EUR 100 Mio., Jahresbilanzsumme EUR 86 Mio. und 1.000 Mitarbeiter.

Arbeitgeber und Mitarbeiter haben die Möglichkeit, sich für Zwecke des Lohnsteuerabzugsverfahrens die Höhe des vom Arbeitgeber nicht besteuerten Vorteils im Rahmen einer gebührenfreien Anrufungsauskunft nach § 42e EStG durch das Betriebsstättenfinanzamt bestätigen zu lassen. Dies setzt voraus, dass dem Betriebsstättenfinanzamt sowohl der ermittelte Wert als auch die Unterlagen zur Wertermittlung vorgelegt werden und der vom Arbeitgeber gewählte Wertansatz den geltenden Bestimmungen entspricht.

Genussrechte können bis EUR 2.000 p.a. steuerfrei an Mitarbeiter ausgegeben werden

Die unentgeltliche oder verbilligte Gewährung von beteiligungsähnlichen Genussrechten am Arbeitgeberunternehmen ist bis zu einem Freibetrag von EUR 2.000 gemäß § 3 Nr. 39 EStG steuerfrei, wenn der geldwerte Vorteil im Rahmen eines gegenwärtigen Dienstverhältnisses zufließt. Voraussetzung für die Steuerfreiheit ist, dass die Beteiligung mindestens allen Arbeitnehmern offensteht, die im Zeitpunkt der Bekanntgabe des Angebots ein Jahr oder länger ununterbrochen in einem gegenwärtigen Dienstverhältnis zum Unternehmen stehen. Ein Freibetrag nach § 3 Nr. 39 EStG ist für die Ermittlung des dem Besteuerungsaufschub nach § 19a EStG unterliegenden Vorteils abzuziehen.

Ob für tokenisierte Genussrechte neben oder zusätzlich zur Steuerfreiheit nach § 3 Nr. 39 EStG auch noch die Freigrenze für steuerfreie Sachbezüge nach § 8 Abs. 2 Satz 11 EStG zur Anwendung kommt, ist fraglich. Dies wäre jedoch nur bei einer monatlichen Ausgabe von Genussrechten sinnvoll, da die Freigrenze von EUR 50 monatlich bemessen wird und nicht in die Folgemonate vorgetragen oder auf einen Jahresbetrag hochgerechnet werden kann. Im Hinblick auf laufende Bewertungserfordernisse ist die monatliche Genussrechtsausgabe jedoch in der technischen Umsetzung limitiert und daher für die Praxis unerheblich. 

Genussrechtseinräumung führt zu steuerlich abzugsfähigem Lohnaufwand 

In der Steuerbilanz des Arbeitgebers sind die an Mitarbeiter ausgegebenen beteiligungsähnlichen Genussrechte als Fremdkapital auszuweisen. Von einer wirtschaftlichen Belastung sollte insbesondere bei einer Kündigungsmöglichkeit nach einer Mindestlaufzeit, einem Andienungsrecht oder einer Exitbeteiligung regelmäßig auszugehen sein. Die erstmalige Passivierung sollte zum gemeinen Wert des ausgegebenen Genussrechts erfolgen und einen in Höhe des geldwerten Vorteils (d.h. abzüglich geleisteter Zuzahlungen des Mitarbeiters) steuerlich abzugsfähigen Lohnaufwand darstellen.

Im Vergleich zur Gewährung eigener Anteile kann die verbilligte Ausgabe von beteiligungsähnlichen Genussrechten an Mitarbeiter auf Ebene des Arbeitnehmerunternehmens steuerlich vorteilhaft sein. Nach Ausgabe des Genussrechts erfolgt die Besteuerung nach den für Genussrechte allgemein geltenden Bilanzierungs- und Einkommensermittlungsvorschriften (vgl. BMF-Schreiben vom 11.April 2023).

Fazit: Tokenisierte Genussrechte sind ein ideales Instrument der Mitarbeiterbeteiligung

Tokenisierte Genussrechte stellen ein neues Instrument der Mitarbeiterbeteiligung mit vielfältigen Möglichkeiten dar. Neben der steuerlich privilegierten Behandlung vergleichbar mit echten Anteilen bieten diese die Flexibilität rein schuldrechtlicher Beteiligungsinstrumente und erfordern zudem bei Einräumung und Übertragung – im Gegensatz zu GmbH-Geschäftsanteilen – keine notarielle Beurkundung.

Maßgeblich für die künftige Erfolgsgeschichte wird u. E. die steuerliche Begünstigung nach § 19a EStG bei der Ausgabe durch junge Unternehmen (insbesondere Startups) sein. Diese sollte durch die jüngste Erweiterung des Anwendungsbereichs durch das Zukunftsfinanzierungsgesetz zusätzlichen Rückenwind bekommen.

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Das Datenschutzjahr 2023

Fr, 12.01.2024 - 10:27

Ein Blick zurück auf die großen Themen im Datenschutzrecht der vergangenen 12 Monate ist für das Jahr 2023 kaum möglich ohne gleichzeitigen Ausblick auf 2024 und auf das, was die Zukunft bringt: Sowohl der Einsatz virtueller Realitäten mit dem Metaverse und von Künstlicher Intelligenz (KI) als auch die politische Einigung zur KI-Verordnung und der Data Act standen im Fokus. Die Vernetzung dieser aktuellen Themen miteinander und die Vorbereitungen auf anstehende rechtliche Neuerungen haben begonnen und werden in den nächsten Jahren Auswirkungen auf das Datenschutzrecht haben.

Im Frühling des Jahres 2023 konnte jedoch zunächst auf das fünfjährige Bestehen der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) zurückgeblickt werden und deutsche Datenschutzbehörden zogen ihre Bilanz für die Zeit seit dem 25. Mai 2018 – so etwa die Konferenz der unabhängigen Datenschutzaufsichtsbehörden des Bundes und der Länder (DSK), der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit (BfDI) sowie die Landesbeauftragten aus Baden-WürttembergHessenRheinland-Pfalz und Nordrhein-Westfalen. Außerdem hat die EU-Kommission im Jahr 2023 eine Initiative zur Evaluierung der Anwendung der DSGVO-Vorschriften gestartet, die auf den im Jahr 2020 veröffentlichten Vorgängerbericht aufsetzen und im zweiten Quartal 2024 erscheinen soll. Der Europäische Datenschutzausschuss (European Data Protection Board, EDPB) hat seinen Beitrag hierzu bereits im Dezember 2023 veröffentlicht. Einige Datenschutzbehörden äußerten sich anlässlich des fünfjährigen Bestehens der DSGVO zudem zu den anstehenden Entwicklungen des Datenschutzrechts hin zu einem Datenrecht.

Datenrecht ergänzt Datenschutzrecht: Unsere Blog-Serie #CMSdatalaw

Mit der Blog-Serie „#CMSdatalaw“ werfen wir einen genaueren Blick auf diese Entwicklungen. Zusammen mit dem Data Governance Act bildet der Data Act eine der wichtigsten Säulen der Europäischen Digital- und Datenstrategien, die einen Binnenmarkt für Daten in der Europäischen Union (EU) schaffen und den Datenaustausch fördern sollen. Nachdem das Europäische Parlament am 9. November 2023 den Data Act, auf den sich Parlament und Rat bereits informell geeinigt hatten, mit 481 zu 31 Stimmen bei 71 Enthaltungen angenommen hat und nach der am 27. November 2023 erfolgten offiziellen Zustimmung des Rates entwickelt sich ein neues, die Datennutzung ermöglichendes Datenrecht, das sich nicht nur auf personenbezogene, sondern auch auf nicht-personenbezogene Daten konzentriert. Der Data Act wurde noch Ende 2023 im EU-Amtsblatt veröffentlicht. 2024 wird daher das Jahr der Vorbereitungen und Umsetzungen sein: Es werden umfangreiche Datenzugangsansprüche geschaffen, betroffene Unternehmen müssen u.a. Data-Access-by-Design und gleichzeitig den Schutz personenbezogener Daten gewährleisten und ihrer Geschäftsgeheimnisse sichern. Aus datenschutzrechtlicher Sicht wird zudem das Auskunftsrecht des Art. 15 DSGVO in 2024 weiter an Bedeutung gewinnen.

EDPB macht das Auskunftsrecht nach Art. 15 DSGVO zu einem Top-Thema für 2024

Mit Meldung vom 17. Oktober 2023 hat der EDPB das Thema der dritten koordinierten Durchsetzungsmaßnahme angekündigt. Diese wird zum Jahr 2024 durchgeführt und konzentriert sich auf die Umsetzung des Auskunftsrechts aus Art. 15 DSGVO. Damit macht der EDPB dies zu einer Priorität für die nationalen Datenschutzbehörden im kommenden Jahr. Unternehmen sollten daher ihre Datenstrategie und ihren Umgang mit der Beantwortung von Auskunftsersuchen durch Betroffene prüfen und ggf. optimieren. 

Art. 15 DSGVO gewinnt durch EuGH-Rechtsprechung im Jahr 2023 an Kontur

Passend hierzu hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) im vergangenen Jahr 2023 durch verschiedene Urteile die Konturen des Auskunftsanspruchs des Art. 15 DSGVO geschärft. Mit Urteil vom 12. Januar 2023 (C-154/21) entschied der EuGH direkt zu Beginn des Jahres, dass einen Verantwortlichen, der personenbezogene Daten gegenüber Empfängern offenlegt oder offenlegen wird, die Pflicht trifft, auf Anfrage des Betroffenen Auskunft über die Identität der Empfänger zu geben. Mit Urteil vom 4. Mai 2023 (C-487/21) hat sich der EuGH sodann im Laufe des Frühjahrs zum Begriff der „Kopie“ im Sinne des Art. 15 DSGVO geäußert: Das Recht, eine Kopie der personenbezogenen Daten zu erhalten, bedeute, dass dem Betroffenen eine originalgetreue und verständliche Reproduktion der Daten ausgefolgt werden müsse. Am 22. Juni 2023 urteilte der EuGH sodann erneut zum Auskunftsrecht nach Art. 15 DSGVO (C-579/21) und wies darauf hin, dass jede betroffene Person das Recht habe, zu erfahren, zu welchem Zeitpunkt und aus welchen Gründen ihre personenbezogenen Daten abgefragt worden sind. Hierzu gehören dem Gerichtshof zufolge auch sog. Protokolldateien (Logdateien). 

Im Herbst hatte der EuGH dann Vorlagefragen des BGH u.a. zu den Kosten einer Auskunft und zum Verhältnis von Art. 15 DSGVO zu § 630g Abs. 2 Satz 2 BGB zu beantworten. Mit Urteil vom 26. Oktober 2023 (C-307/22) entschied der EuGH, dass einem Patienten aus Art. 15 DSGVO das Recht zustehe, eine erste Kopie seiner vollständigen Patientenakte inklusive Diagnosen, Untersuchungsergebnissen, Befunden, Angaben zu Behandlungen oder Eingriffen unentgeltlich zu erhalten. Dies gelte auch dann, wenn der Betroffene einen datenschutzfremden und anderen als den in Satz 1 des 63. Erwägungsgrundes der DSGVO genannten Zweck verfolge. In dem Fall verlangte ein Patient von seiner Zahnärztin die unentgeltliche Zurverfügungstellung einer Kopie seiner Patientenakte zur Geltendmachung etwaiger Haftungsansprüche wegen einer möglicherweise fehlerhaften Behandlung, während die Ärztin die Akte nur gegen Übernahme der Kopierkosten gemäß § 630g Abs. 2 Satz 2 BGB bereitstellen wollte. Dem Luxemburger Gericht zufolge seien Kosten aber nur dann zu erstatten, wenn der Patient über diese erste unentgeltliche Auskunft hinaus erneut einen Antrag auf Einsicht stelle.

Während die DSGVO-Auskunft bereits in der Vergangenheit wichtig war und in der Zukunft bleibt, haben auch internationale Datentransfers die Datenschutzwelt weiter beschäftigt – ein weiteres Top-Thema das trotz des Angemessenheitsbeschlusses der EU-Kommission für die USA nicht an Brisanz verlieren wird.

EU-Kommission: Angemessenheitsbeschluss für die USA

Am 10. Juli 2023 hat die EU-Kommission das EU-US Data Privacy Framework (DPF) und den Angemessenheitsbeschluss für die USA angenommen. Dies soll den Datenverkehr zwischen der EU und den USA erleichtern, nachdem das vorherige sog. Privacy Shield durch das Schrems II-Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) im Juli 2020 für ungültig erklärt wurde. Damit liegt für die USA ein mit der EU vergleichbares Schutzniveau für personenbezogene Daten vor, wenn diese im Rahmen des DPF übermittelt werden. Der Angemessenheitsbeschluss dient somit als Grundlage für Datenübermittlungen an nach dem DPF zertifizierte US-Organisationen, sodass in diesen Fällen der bisher notwendige Rückgriff auf zusätzliche Maßnahmen wie die EU-Standardvertragsklauseln (SCC) von 2021 und die Daten-Transfer-Folgenabschätzung entfallen soll. 

Jedoch werden zum neuen DPF bereits Bedenken geäußert: Noch am 10. Juli 2023 teilte die NGO um Maximilian Schrems „My Privacy is None of Your Business“ (NOYB) mit, verschiedene Verfahrensoptionen gegen das neue Abkommen bis zum EuGH vorbereitet zu haben, da dieses weitgehend eine Kopie des ungültigen alten Abkommens sei. Der Digitalverband Bitkom e.V. geht ebenfalls von einer Überprüfung durch die Gerichte aus. Unter Beteiligung der deutschen Datenschutzbehörden hatten zudem der EDPB im Frühjahr 2023 eine kritische Stellungnahme zum DPF und die DSK Anwendungshinweise vom 4. September 2023 veröffentlicht. Der Thüringer Landesbeauftragte für Datenschutz (TLfDI) weicht in einer Stellungnahme von dem Votum der DSK zu den Anwendungshinweisen ab und stuft die Wahrscheinlichkeit, dass der EuGH den Angemessenheitsbeschluss aufheben werde, als „recht hoch“ ein. Der TLfDI wurde in einer Pressemitteilung vom 14. Juli 2023 besonders deutlich:

Nicht vorenthalten werden soll ein Zitat von dem bekannten Juristen Maximilian Schrems […]: „Man sagt, die Definition von Wahnsinn ist, dass man immer wieder das Gleiche tut und dennoch ein anderes Ergebnis erwartet“.

Als eines der ersten deutschen Gerichte nutzt das Oberlandesgericht (OLG) Köln ein Urteil vom 3. November 2023 (6 U 58/23) für Kritik am DPF. Mehr zum DPF erfahren Sie hier in unserem Blog

Bis der EuGH Gelegenheit bekommt, sich zum DPF zu äußern, wird angesichts der üblichen Verfahrensdauer wohl noch einige Zeit verstreichen. Zunächst hat der EuGH im vergangenen Jahr ein mit Spannung erwartetes Urteil zu DSGVO-Bußgeldern gefällt.

EuGH äußert sich zu DSGVO-Bußgeldern

Mit Entscheidung vom 5. Dezember 2023 hat sich der EuGH in den Rechtssachen C-683/21 und C-807/21 zu den Voraussetzungen geäußert, unter denen die nationalen Datenschutzbehörden Bußgelder nach der DSGVO gegen Unternehmen verhängen können. So hat der Gerichtshof festgestellt, dass die Verhängung einer Geldbuße ein schuldhaftes Verhalten voraussetze, d.h. ein zu ahndender DSGVO-Verstoß muss vorsätzlich oder fahrlässig begangen worden sein. Dies sei dann zu bejahen, wenn 

sich der Verantwortliche über die Rechtswidrigkeit seines Verhaltens nicht im Unklaren sein konnte, gleichviel, ob ihm dabei bewusst war, dass es gegen die Bestimmungen der DSGVO verstößt.

Für Unternehmen besonders wichtig: Bei juristischen Personen sei es nach der Auslegung der DSGVO durch den EuGH für ein Bußgeld nicht erforderlich, dass der DSGVO-Verstoß von einem leitenden Organ selbst begangen wurde oder ob dieses davon Kenntnis hatte. Diese sollen sowohl für von ihren Vertretern, Leitungspersonen oder Geschäftsführern als auch für von jeder sonstigen Person, die im Rahmen ihrer unternehmerischen Tätigkeit in ihrem Namen handelt, begangene Verstöße haften. Eine vorherige Feststellung des Begehens eines Verstoßes durch eine identifizierbare natürliche Person sei dabei laut EuGH nicht notwendig. Zudem könnte der Verantwortliche für ihm zurechenbare Verarbeitungsverstöße von Auftragsverarbeitern haften. In Fällen, in denen der Bußgeld-Adressat Teil eines Konzerns ist, sei auf den wettbewerbsrechtlichen Unternehmensbegriff sowie auf den gesamten weltweiten Jahresumsatz des Konzerns aus dem vorherigen Geschäftsjahr abzustellen. 

Den Verfahren, in deren Zuge dem EuGH Vorlagenfragen aus Deutschland vorgelegt wurde, liegt ein Bußgeldbescheid der Berliner Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit (BlnBDI) zugrunde, die sich in einer Pressemitteilung vom 5. Dezember 2023 zu der Entscheidung äußert und die Praxis der deutschen Datenschutzbehörden durch den EuGH bestätigt sieht. Auch der Hessische Beauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit (HBDI) begrüßt die Entscheidung in einer Pressemitteilung vom 5. Dezember 2023. Diese Entscheidung des EuGH ist von besonderer Praxisrelevanz, da die nationalen Datenschutzbehörden der EU-Mitgliedstaaten auch im Jahr 2023 von ihrer Befugnis, Bußgelder bei DSGVO-Verstößen zu verhängen, reichlich Gebrauch machten und in Zukunft machen werden.

Enforcement Tracking: DSGVO-Bußgelder im Jahr 2023

Bußgelder nach der DSGVO können bis zu EUR 20 Mio. oder 4 % des weltweiten Jahresumsatzes eines Unternehmens betragen. Der EDPB veröffentlichte am 24. Mai 2023 eine Aktualisierung der Guidelines 04/2022 zur Berechnung von DSGVO-Bußgeldern, um die Methoden zur Ermittlung der Höhe der Bußgelder, die durch die verschiedenen Datenschutzbehörden ausgesprochen werden können, zu harmonisieren. Das EDPB hat hierfür ein Fünf-Schritte-System entwickelt, das in den Guidelines näher erläutert wird und u.a. auf die Schwere des DSGVO-Verstoßes, aber auch auf mildernde Umstände abstellt. 

Ebenfalls im Mai verhängte die irische Datenschutzbehörde ein Bußgeld in Höhe von EUR 1,2 Mrd. gegen Meta Platforms Ireland Limited aufgrund der Übertragung von personenbezogenen Daten europäischer Nutzer in die USA und der potentiellen Zugriffsmöglichkeiten für US-Geheimdienste. Der Volltext der Entscheidung der irischen Datenschutzbehörde beläuft sich auf über 200 Seiten. Meta hat in einer Pressemitteilung angekündigt, gegen das Bußgeld vorzugehen und einschlägige Datenübertragungen in die USA seit September auf das DPF zu stützen. Mit einer Höhe von EUR 1,2 Mrd. ist das genannte Bußgeld aus Irland das höchste bekannte DSGVO-Bußgeld des Jahres 2023. Wegen unerfüllter Betroffenenrechte wie dem o.g. Auskunftsanspruch gemäß Art. 15 DSGVO erging eines der höchsten in Deutschland bekannten DSGVO-Bußgelder des Jahres 2023: Eine Bank wurde mit einem Bußgeld in Höhe von EUR 300.000 belegt. Rechtzeitig zum fünften Geburtstag der DSGVO hat CMS 2023 die vierte Ausgabe des Enforcement Tracker Reports veröffentlicht. Die fünfte Ausgabe für den nächsten Untersuchungszeitraum wird bald folgen. 

Neben behördlichen Bußgeldern können DSGVO-Verstöße auch die neuen zivilrechtlichen Abhilfeklagen und Schadensersatzansprüche von Betroffenen gegenüber Unternehmen nach sich ziehen.

DSGVO-Schadensersatz beschäftigt weiterhin die Gerichte

Die höchsten bekannten Summen, die durch Gerichte im Jahr 2023 als Schadensersatz Art. 82 DSGVO zugesprochen wurden, belaufen sich auf bis zu EUR 10.000 und wurden durch die Arbeitsgerichte bejaht. Ein solcher Betrag wurde beispielsweise einem Arbeitnehmer für eine von dessen ehemaligen Arbeitgeber um 20 Monate verspätet erteilte Auskunft nach Art. 15 DSGVO durch das Arbeitsgericht (ArbG) Oldenburg mit Urteil vom 9. Februar 2023 (3 Ca 150/21) zugesprochen. Das Gericht setzt für jeden Monat der Verspätung einen Betrag von EUR 500 an. Mit Urteil vom 23. März 2023 (3 Ca 44/23) verpflichtete das ArbG Duisburg einen Arbeitgeber dazu, ebenfalls Schadensersatz in Höhe von EUR 10.000 an einen ehemaligen Arbeitnehmer wegen einer verspäteten und unvollständig erteilten Auskunft zu leisten. Für die Weiterverwendung von Foto- und Filmmaterial des ehemaligen Arbeitnehmers u.a. auf der Homepage und in Sozialen Medien gegen dessen Willen für einen Zeitraum von neun Monaten nach Beendigung des Arbeitsverhältnisses sprach das Landesarbeitsgericht (LArbG) Baden-Württemberg mit Urteil vom 27. Juli 2023 (3 Sa 33/22) ebenfalls Schadensersatz in Höhe von EUR 10.000 zu. 

Von Kiel bis Memmingen: Social Media-Scraping bundesweit vor den Gerichten 

Während Ende des Jahres 2022 und zu Beginn des Jahres 2023 die massenhaft erfolgten Abmahnungen wegen der dynamischen Einbindung von Schriftarten auf Webseiten die datenschutzrechtlichen Gemüter erhitzten (wir berichteten in unserem Blog), beschäftigt seit derselben Zeit ein weiteres Thema die Gerichte von Nord- bis Süddeutschland: die sog. Scraping-Fälle. Sie alle basieren auf demselben Vorfall, in dem es zu Datenabflüssen auf einer Social-Media-Plattform von dort eingetragenen Daten wie u.a. Namen, Telefonnummer, Beziehungsstatus gekommen war und weswegen einige Betroffene Schadensersatz nach Art. 82 DSGVO von der Plattform fordern. Das Jahr 2023 begann mit ersten Gerichtsentscheidungen, die den Anspruch bejahten, wie z.B. das LG Lüneburg mit Urteilen vom 24. Januar 2023 (3 O 74/223 O 81/22) in Höhe von EUR 300, das LG Stuttgart mit Urteil vom 26. Januar 2023 (53 O 95/22) ebenfalls in Höhe von EUR 300 oder das LG Heidelberg mit Urteil vom 31. März 2023 (7 O 10/22) in Höhe von EUR 250, während andere Gerichte einen Schadensersatzanspruch aus Art. 82 DSGVO ablehnten, wie z.B. das LG Berlin mit Urteil vom 7. März 2023 (13 O 79/22), das LG Detmold mit Urteil vom 7. März 2023 (02 O 67/22) oder das LG Offenburg mit Urteil vom 28. Februar 2023 (2 O 98/22). 

In einem lesenswerten Obiter dictum hat das LG Limburg begründet, warum es mit Urteil vom 24. Januar 2023 (4 O 278/22) einen Schadensersatzanspruch in diesen Fällen ablehnte: 

[…] Wollte man – entgegen der Auffassung der Kammer – jedem einzelnen betroffenen Nutzer beispielsweise einen Schadensersatzanspruch i.H.v. […] 100 EUR zuerkennen, würde dies in Summe einen Betrag i.H.v. 53.300.000.000 (in Worten: dreiundfünfzig Milliarden dreihundert Millionen Euro) bedeuten. Dies stünde außer Verhältnis zur Schwere eines möglichen Datenschutzverstoßes der Beklagten. Im Ergebnis liefe dies auf einen Strafschadensersatz (punitive damages) hinaus, der jedenfalls dem deutschen Zivilrecht fremd ist […]. 

Mit dem OLG Hamm im August (7 U 19/23), September (7 U 77/23) und November (7 U 71/23), dem OLG Stuttgart mit Urteilen vom 22. November 2023 an (4 U 17/23 und 4 U 20/23) und dem OLG Köln mit Urteil vom 7. Dezember 2023 (15 U 33/23) haben die ersten Oberlandesgerichte begonnen, die geltend gemachten Schadensersatzansprüche mangels Nachweises eines (immateriellen) Schadens in den Scraping-Fällen abzuweisen. In einem Fall bejahte das OLG Stuttgart lediglich den Feststellungsantrag des Betroffenen hinsichtlich eines Schadensersatzanspruchs etwaiger künftiger Schäden. Mit Pressemitteilung aus November 2023 informierte das OLG Stuttgart darüber, dass vor dessen 4. Zivilsenat bereits 100 Fälle dieser Art anhängig seien, während sich die Zahl der bundesweit anhängigen Verfahren auf über 6.000 belaufe. Es ist also mit weiteren Gerichtsentscheidungen zu dem Thema zu rechnen. 

Voraussetzungen des Art. 82 DSGVO, die in u.a. in diesen Scraping-Fällen relevant werden, wie z.B. wann ein ersatzfähiger immaterieller Schaden nach der DSGVO vorliegt, blieben lange ohne Klärung durch den EuGH. Nicht zuletzt deswegen hat der BGH dem EuGH im September 2023 neue Fragen zu Art. 82 DSGVO vorgelegt. Doch im Jahr 2023 fällte das Luxemburger Gericht einige relevante Urteile zu Art. 82 DSGVO, während weitere zur Entscheidung anstehen. Als sich das Jahr 2023 dem Ende zuneigte, hat der EuGH noch kurz vor Jahresende in weiteren Verfahren geurteilt, zu denen die Entscheidungen aufgrund der hohen Relevanz für die datenschutzrechtliche Praxis lange erwartet wurden.

EuGH: Die DSGVO steht zwei Datenverarbeitungspraktiken von Wirtschaftsauskunfteien entgegen

In der Rechtssache C-634/21 (SCHUFA Holding (Scoring)) sowie in den verbundenen Rechtssachen C-26/22 und C-64/22 (SCHUFA Holding (Restschuldbefreiung)) entschied der EuGH mit Urteil vom 7. Dezember 2023, dass die Datenverarbeitungspraktiken der Wirtschaftsauskunfteien nicht mit den Vorgaben der DSGVO vereinbar seien. Der EuGH führte aus, dass das Scoring nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig und der SCHUFA-Score nicht der einzige Faktor bei der Bonitätsprüfung sein könne, während die Speicherung von Informationen über die Erteilung einer Restschuldbefreiung der DSGVO widerspreche, wenn sie länger andauere als die Speicherung im öffentlichen Insolvenzregister. Nach sechs Monaten seien diese Daten unverzüglich zu löschen. Vor Ablauf der sechs Monate habe eine Abwägung der Interessen der Wirtschaftsauskunftei und des Betroffenen zu erfolgen. Die Verfahren gehen nun zurück an das Verwaltungsgericht (VG) Wiesbaden, das dem EuGH Fragen zur Auslegung der DSGVO vorgelegt hatte. 

Die deutschen Datenschutzbehörden haben sich hierzu bereits geäußert: Der HmbBfDI sieht seiner Pressemitteilung vom 7. Dezember 2023 zufolge in der EuGH-Rechtsprechung zum Scoring außerdem die „wegweisende Bedeutung“ für Entscheidungen, die auf dem Einsatz von KI basieren. Der Landesbeauftragte für den Datenschutz Niedersachsen sowie der TLfDI sehen den Datenschutz durch den EuGH gestärkt. Auch der TLfDI erkennt die Relevanz für KI-Systeme. Der HBDI, der die ursprünglichen Beschwerden von Betroffenen in den o.g. Verfahren abgelehnt hatte und gegen dessen ablehnende Entscheidung sich die Klagen vor dem VG richteten, fasst das Verfahren in einer Pressemitteilung vom 7. Dezember 2023 zusammen.

Die Zukunft wird geprägt sein von der Vernetzung aktueller Themen wie KIMetaverse und daten(schutz)rechtlicher Themen. Auch im Jahr 2024 wird sich daher einiges bewegen. Bleiben Sie mit unserem Blog und unserem Newsletter auf dem Laufenden.

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IKT-Drittdienstleister im Anwendungsbereich des DORA

Do, 11.01.2024 - 12:17

Seit Anfang des Jahres 2023 ist der europäische Digital Operational Resilience Act (DORA) in Kraft und stimmt die Finanzdienstleister auf eine Anpassung ihrer digitalen Infrastruktur auf ein neues IT-Sicherheitsniveau ein. Mit diesem regulatorischen Update reagiert der europäische Gesetzgeber auf aktuelle Bedrohungen und Risiken bei der Nutzung von Informations- und Kommunikationstechnologie, um die Cyberresilience im gesamten Finanzsektor zu stärken. Dabei denkt man – zurecht – an immer häufiger werdende Hackerangriffe und schwerwiegende Datenverluste, welche die Stabilität der Finanzinstitute und damit das Vertrauen in die Finanzmärkte stark beschädigen können. 

Allerdings adressiert DORA auch ein anderes Risiko, dem sogar ein eigenes Kapitel (V.) gewidmet ist: Das Outsourcing und die Nutzung von IT-Systemen bereitgestellt durch (große) Technologieanbieter, also das sogenannte IKT-Drittparteienrisiko (Art. 3 Nr. 18 DORA). Dieser Beitrag beleuchtet explizit diesen Regelungsgegenstand und zeigt auf, was Finanzunternehmen und IKT-Drittdienstleister beachten müssen.

Konkrete Regelungsadressaten: Finanzdienstleister und Bereitsteller von IKT-Dienstleistungen für die Finanzindustrie

In den Anwendungsbereich von DORA fallen nicht nur Finanzdienstleister, sondern auch Unternehmen, welche IKT-Dienstleistungen für die Finanzindustrie bereitstellen. Letztere werden in Art. 3 Nr. 21 DORA definiert als

digitale Dienste und Datendienste, die über IKT-Systeme einem oder mehreren internen oder externen Nutzern dauerhaft bereitgestellt werden, einschließlich Hardware als Dienstleistung oder Hardwaredienstleistung.

Damit gilt die Verordnung für ein breites Spektrum von Drittdienstleistern, sodass insbesondere auch Cloud-Service-Provider, Softwareanbieter, Datenanalysedienste und Rechenzentren miteingeschlossen sind. Explizit erfasst werden Anbieter, welche Zahlungen abwickeln oder Zahlungsinfrastrukturen betreiben. 

Einem besonders strikten Überwachungsregime sind solche IKT-Drittdienstleister unterworfen, die von DORA als „kritisch“ eingestuft werden. Die Einstufung als „kritischer IKT-Dienstleister“ erfolgt nach festgelegten, objektiven Kriterien, welche sowohl an den Dienstleistenden als auch an den Empfänger anknüpfen. Entscheidungsrelevant sind sowohl die Substituierbarkeit des Drittdienstleisters als auch die Abhängigkeit der Empfänger auf der einen Seite. Auf der anderen Seite fließt die relative Bedeutung des den betreffenden Dienstleister nutzenden Finanzunternehmens im europäischen Finanzsektor und die Auswirkungen etwaiger in den IT-Dienstleistungen angesiedelten Betriebsstörungen in die Bewertung mit ein, Art. 3 Ziff. 23 i.V.m. Art. 31 DORA.

Herausforderungen und Chancen für Finanzunternehmen im Drittparteienmanagement 

Hierbei prägen zwei Grundprinzipien das Risikomanagement: Zum einen entscheiden sich die Anforderungen an eine Überwachung nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und damit je nach Einzelfall. Zum anderen tragen die Finanzunternehmen die volle Verantwortung, wenn sie ihre Pflichten aus der Verordnung aufgrund einer Risikoverwirklichung aus der Sphäre des Drittanbieters nicht einhalten.

Dafür stellt die Verordnung den Finanzunternehmen eine Reihe an Instrumenten zur Verfügung. Bereits vor Vertragsschluss müssen sie mittels einer umfassenden Analyse die Kritikalität oder Bedeutung der ausgelagerten Dienste als auch die Eignung des IKT-Drittdienstleisters auf Eignung hinsichtlich der Einhaltung von Qualitätsstandards für Informationssicherheit bewerten. Die Sorgfaltsanforderungen steigen, wenn es sich bei den übertragenen Diensten um „wichtige oder kritische Funktionen“ nach Art. 3 Ziff. 22 DORA handelt, also um solche, deren Ausfall die finanzielle Leistungsfähigkeit erheblich beeinträchtigen könnte und daher unter den aktuellen und höchsten Sicherheitsstandards vorgenommen werden muss.

Beachtlich für die Bewertung ist außerdem das Konzentrationsrisiko, also die Abhängigkeitsprognose des Finanzunternehmens von einem Drittdienstleister, Art. 28 Abs. 4 lit. c, 29 DORA. Damit dabei die Vertragsfreiheit nicht zu sehr eingeschränkt wird, verfolgt DORA einen flexiblen Ansatz ohne vorgeschriebene starre Obergrenzen oder strenge Beschränkungen. Für den Fall, dass eine ursprünglich vorhandene Eignung nachträglich wegfällt, fordert DORA die Einräumung von umfassenden Kündigungsmöglichkeiten und die Ausarbeitung einer Exitstrategie. Um die Einhaltung vertraglicher Bestimmungen zu kontrollieren, sollen den Finanzunternehmen umfangreiche Zugangs-, Inspektions- und Auditrechte eingeräumt werden, Art, 30 Abs. 3 lit. e DORA.

DORA hat außerdem klare inhaltliche Vorstellungen von den wesentlichen Vertragsbedingungen, welche der in Art. 30 DORA niedergeschriebene Katalog äußert. Neben einem Formerfordernis wird etwa eine Spezifikation aller Funktionen und Dienstleistungen oder die Beschreibung der Dienstleistungsgüte verlangt. Auch sollen Bestimmungen zur Zugänglichkeit, Sicherheit und Schutz personenbezogener Daten enthalten sein. Zudem sind bei kritischen Auslagerungen auch z. B. konkretere Anforderungen an Leistungsgüte Berichtspflichten, Implementierung von Notfallplänen, Teilnahme an TLPT-Tests, umfangreiche Auditrechte, Kooperationsverpflichtungen und Ausstiegsstrategien in den Verträgen festzulegen; vgl. Art. 30 Abs. 3 DORA. Außerdem ist in bestimmten Fällen die Möglichkeit der Zwangskündigung einer Kooperation durch die Behörden vorgesehen, vgl. Art. 39 Abs. 7 DORA.

Durch diese zahlreichen Instrumente wird im Ergebnis die Verhandlungsposition der Finanzunternehmen gestärkt, indem sie bei der Verhandlung der Verträge auf die zwingenden, dem Schutz der Finanzinstitute dienenden, vertraglichen Mindestinhalte verweisen können. 

Ein spezielles Überwachungskonzept für kritische IKT-Drittdienstleister

Wie bereits erwähnt, unterscheidet DORA zwischen „normalen“ und kritischen IKT-Drittdienstleistern, indem letztere schärferen Vorschriften und einer direkten Überwachung durch die Finanzaufsichtsbehörden unterworfen werden. DORA begründet hier ein besonderes Aufsichtskonzept zur Sicherung der Stabilität und Integrität des Finanzsektors. Es soll explizit nur im Kontext von digitaler, operativer Resilienz und nicht als (allgemeines) Modell zur Beaufsichtigung von Finanzdienstleistungen gelten (Erwägungsgrund 76).

Die Verordnung reagiert auf den länger anhaltenden Trend der wachsenden Abhängigkeit von bestimmten IKT-Drittdienstleistern in einem noch nie dagewesenen Ausmaß und spielt damit auf die Marktmacht der sogenannten Hyperscaler, also der großen internationalen Cloud Service Provider, an (Erwägungsgrund 79; BKR 2021, 424, 426; RDi 2023, 164). Es liegt in der Natur von Cybervorfällen, dass sie sich erheblich schneller ausbreiten und mit heftigen Auswirkungen den gesamten Finanzsektor betreffen können. Damit bedarf es eines angepassten Überwachungsrahmens zur Eindämmung der Sicherheitsrisiken, dessen wesentliche Bestandteile im Folgenden vorgestellt werden.

Um ein umfassendes und operatives Verständnis des IKT-Risikomanagements des kritischen IKT-Drittdienstleisters zu erhalten, werden die federführenden Behörden, die European Supervisory Authorities (ESA), mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet. Konkret umfasst das weitreichende Auskunfts-, Untersuchungs- und Inspektionsrechte, Art. 35 i.V.m. Art. 37 bis 39 DORA. Insbesondere wird die zuständige Aufsichtsbehörde gemäß Art. 39 DORA auch zur Durchführung von Vor-Ort-Inspektionen, bis hin zu sogenannten Dawn Raids, ermächtigt. Um dem kooperativen Ansatz mehr Wirkung zu verleihen, können bei Nichteinhaltung der Maßnahmen Zwangsgelder ausgesprochen werden. Sie können täglich verhängt werden und dabei einen Umfang von 1% des weltweiten Tagesumsatzes des jeweiligen IT-Dienstleisters erreichen.

DORA ist sich zudem der Ortsunabhängigkeit der Dienstleistungserbringung bewusst und fordert von kritischen IKT-Drittdienstleistern mit Sitz und Niederlassungen in Drittstaaten die Gründung eines Tochterunternehmens in der Europäischen Union (EU), um das Überwachungskonzept so effektiv wie möglich umsetzen zu können. Ergänzend sollen die EBA, ESMA oder die EIOPA Kooperationsverträge mit Drittstaaten schließen, um die Befugnisse auch in anderen Territorien neben der EU auszuüben, Art. 36 Abs. 2 DORA.

Ausblick: Die Verantwortung verbleibt grundsätzlich bei den Finanzunternehmen

DORA reguliert den Umgang mit Cyberrisiken in der Finanzbranche. Hierzu gehören auch solche Risiken, die gerade durch das Outsourcing von IKT-Dienstleistungen an Dritte entstehen. Dabei belässt sie die Verantwortung grundsätzlich bei den Finanzunternehmen, stellt ihnen jedoch zahlreiche Instrumente zur Steuerung dieser Dritt-Risiken zur Verfügung. Ab dem Zeitpunkt, in dem ein Unternehmen als „kritischer IKT-Drittdienstleister“ bewertet wird, greift außerdem ein Überwachungsrahmen, um die Stabilität und Integrität des europäischen Finanzsystems erfolgreich zu schützen.

Die Verordnung wird ab dem 17. Januar 2025 von den Aufsichtsbehörden durchgesetzt werden. Bis dahin ist es interessant zu beobachten, wie Finanzunternehmen als auch IKT-Drittdienstleister die Anforderungen umsetzen oder sich die Behörden zur Wahrnehmung ihrer Überwachungsfunktion aufstellen.

Der Beitrag wurde mit Hilfe von Jonathan Beyer erstellt.

In unserem CMS-Blog informieren wir Sie in unserer Blog-Serie „Digital Operational Resilience Act (DORA)“ fortlaufend mit aktuellen Beiträgen zu diesen Themen, beginnend mit einem Überblick. Sie können diese Blog-Serie über den RSS-Feed abonnieren und werden von uns über neue Beiträge informiert. 

Auch die Verordnung über Märkte für Kryptowerte (MiCA-Verordnung) ist Teil des Maßnahmenpakets zur Förderung des Innovations- und Wettbewerbspotentials des digitalen Finanzwesens. Mehr zur MiCA-Verordnung erfahren Sie hier in unserem Blog.

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Haushaltskrise und staatliche Förderungen

Mi, 10.01.2024 - 10:21

Das Bundesverfassungsgericht hatte mit Urteil vom 15. November 2023 – 2 BvF 1/22 entschieden, dass das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 verfassungswidrig und nichtig ist. Mit dem Gesetz sollte eine im Bundeshaushalt 2021 als Reaktion auf die Corona-Pandemie vorgesehene, jedoch im Haushaltsjahr 2021 nicht unmittelbar benötigte Kreditermächtigung in Höhe von EUR 60 Milliarden rückwirkend dem sog. „Energie- und Klimafonds“ (EKF) zugeführt werden. Damit sollten die Mittel als Teil eines Sondervermögens auch für zukünftige Haushaltsjahre nutzbar gemacht werden. 

Aufgrund der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts fehlen die Mittel in dem inzwischen in „Klima- und Transformationsfonds“ (KTF) umbenannten Fonds. Das Volumen des Sondervermögens hat sich erheblich um ca. zwei Drittel verringert. In vielen Förderprogrammen stellt sich seither die Finanzierungsfrage. 

Was gilt bis zum Erlass des Haushaltsgesetzes 2024?

Zusätzlich angefacht wird die Thematik durch den Umstand, dass der Bundeshaushalt 2024 noch nicht beschlossen ist. Die Bundesregierung hat sich zwischenzeitlich zwar auf die Kernpunkte des Haushalts geeinigt. Das Haushaltsgesetz 2024 wird aber erst im bereits laufenden neuen Jahr in Kraft treten. Bis dahin verbleibt eine Unsicherheit, ob und in welchem Umfang bereits bestehende Förderungen fortgesetzt oder neue Förderungen bewilligt werden können.

Klar ist lediglich, dass das staatliche Handeln aufgrund der Haushaltskrise nicht zum Erliegen kommt. Bis zum Inkrafttreten des Haushaltsgesetzes 2024 macht die Bundesregierung von ihrem Recht zur vorläufigen Haushaltsführung gemäß Art. 111 GG Gebrauch. Demnach kann die Bundesregierung im Rahmen eines Nothaushaltsrechts in beschränktem Umfang Ausgaben vornehmen und Kredite aufnehmen. Ausgaben, die nötig sind, um gesetzlich bestehende Einrichtungen zu erhalten und gesetzlich beschlossene Maßnahmen durchzuführen oder um die rechtlich begründeten Verpflichtungen des Bundes zu erfüllen, können weiter getätigt werden. Gleiches gilt für bereits im Haushaltsjahr 2023 bewilligte Ausgaben für die Fortsetzung von Bauten, Beschaffungen und sonstigen Leistungen oder Beihilfen für diese Zwecke. 

Neue Verpflichtungen oder Verträge darf der Bund während der vorläufigen Haushaltsführung jedoch grundsätzlich nicht eingehen.

Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Konkretisierung der Schuldenbremse

Für zukünftige Förderungen, insbesondere auf der Grundlage des KTF, ist das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 in den Blick zu nehmen. Das Bundesverfassungsgericht hat darin die in Art. 109 Abs. 3 GG verfassungsrechtlich verankerte Schuldenbremse konkretisiert und dem Gesetzgeber neue Leitlinien vorgegeben, die er bei der Planung zukünftiger Haushalte berücksichtigen muss. Grundsätzlich besagt die Schuldenbremse, dass der Haushalt ohne eine erneute Kreditaufnahme geplant werden muss, es sei denn es liegt eine außergewöhnliche Notsituation vor, die sich der Kontrolle des Staates entzieht und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigt (Art. 115 Abs. 2 Satz 5 GG).

Das Gericht begründete die Verfassungswidrigkeit des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 im Wesentlichen mit folgenden Erwägungen:

  • Dem Gesetz fehle es an einem sog. sachlichen Veranlassungszusammenhang. Ein Zusammenhang zwischen der festgestellten Notsituation und der ergriffenen Krisenbewältigungsmaßnahme müsse ausreichend dargelegt werden. 
  • Bei der Übertragung in den EKF seien die Kreditermächtigungen zeitlich von der gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 5 GG festgestellten Notlage abgekoppelt. Dies widerspreche den verfassungsrechtlichen Grundsätzen der Jährlichkeit und Jährigkeit, die auch für notlagenkreditfinanzierte Sondervermögen gälten. 
  • Durch die Verabschiedung des Zweiten Nachtraghaushaltsgesetzes 2021 im Februar 2022 – also nach Ablauf des Haushaltsjahres 2021 – habe der Gesetzgeber gegen den Haushaltsgrundsatz der Vorherigkeit nach Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG verstoßen.

Das Gericht stellte klar, dass eine faktisch unbegrenzte Weiternutzung von notlagebedingten Kreditermächtigungen in nachfolgenden Haushaltsjahren ohne Anrechnung auf die Schuldenbremse bei gleichzeitiger Anrechnung als Schulden im Haushaltsjahr 2021 unzulässig ist. 

Welche Auswirkungen das Urteil zur Verfassungswidrigkeit des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 auf zukünftige staatliche Förderungen hat, ist weiter ungewiss

Zwischenzeitlich galt eine vom Bundesfinanzminister verhängte haushaltswirtschaftliche Sperre gemäß § 41 Bundeshaushaltsordnung (BHO) für Verpflichtungsermächtigungen im Bundeshaushalt 2023 sowie im KTF. Das hatte für viele Förderprojekte einen Antrags- und Bewilligungsstopp zur Folge. Die Haushaltssperre wurde am 14. Dezember 2023 zwar wieder aufgehoben. Es ist aber weiterhin nicht geklärt, welche Förderprojekte von der Reduzierung des KTF-Umfangs konkret betroffen sind, und welche Kriterien für den Fortbestand oder Wegfall der Förderung gelten sollen. Die weitere Entwicklung muss abgewartet werden, insbesondere im Hinblick auf die ausstehenden Haushaltsbeschlüsse des Bundestags.

Die inzwischen getroffene politische Entscheidung, weitgehend auf eine weitere Aussetzung der Schuldenbremse zu verzichten, wird unweigerlich zu Kürzungen führen, die auch Förderprogramme betreffen werden. In Ungnade ist bereits die als klimaschädlich charakterisierte Plastikabgabe gefallen, die zukünftig von den Unternehmen als Inverkehrbringern des Plastiks getragen werden soll. 

Mögliche weitere Programme könnten folgen

Nicht auszuschließen ist, dass neben dem KTF auch andere Sondervermögen des Bundes oder der Länder aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts auf den Prüfstand gestellt werden könnten. Denkbar sind außerdem Auswirkungen auf Förderprogramme, deren Mittel nunmehr für Förderungen eingeplant werden, die ursprünglich aus dem KTF finanziert werden sollten.

Auswirkungen auf bestehende Förderungen sind im Einzelfall zu prüfen

Für Zuwendungsempfänger, denen bereits Fördermittel bewilligt wurden, ist die gute Nachricht, dass sich an ihrer Förderung nichts ändert, sofern sie eine gefestigte Rechtsposition erlangt haben. Ein Rechtsanspruch auf eine Förderung kann sich insbesondere aus einem Zuwendungsbescheid oder einem Fördervertrag ergeben. 

Dabei sind jedoch die konkreten Förderbedingungen im Einzelfall zu beachten. Häufig ermöglichen es Widerrufsvorbehalte im Zuwendungsbescheid dem Zuwendungsgeber, den Zuwendungsbescheid – auch nach Eintritt der Bestandskraft – zu widerrufen. Hinzu kommt, dass die Förderung häufig unter den Vorbehalt der Verfügbarkeit der Haushaltmittel gestellt und nach pflichtgemäßem Ermessen gewährt wird.

Auch für bereits bestehende Förderungen kann das Urteil des Bundesverfassungsgerichts daher nachteilige Folgen haben, wobei stets der konkrete Einzelfall zu prüfen ist.

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Quiet Quitting ist kein Schicksal

Mo, 08.01.2024 - 10:57

Quiet Quitting ist kein neues Phänomen, hat aber in jüngster Vergangenheit durch die Online-Plattform TikTok als Trend unter jungen Arbeitnehmern* wieder an Aufmerksamkeit gewonnen.

Der Begriff beschreibt weniger eine äußere Handlung als vielmehr eine innere Einstellung zur Arbeit. Im Kern bedeutet Quiet Quitting nicht zwangsläufig eine schlechte Arbeitsleistung der Beschäftigten, sondern zeigt sich vielmehr darin, dass Beschäftigte nur noch das Nötigste tun, ohne sich darüber hinaus für den eigenen Arbeitgeber zu engagieren. Es manifestiert sich im Vermeiden von Überstunden und im reinen „Dienst nach Vorschrift“ – ein Phänomen, das subtiler ist als der offensichtliche Verlust des Arbeitsplatzes, aber langfristig ebenso gravierende Auswirkungen auf das gesamte Betriebsklima haben kann. Insoweit ist das Quiet Quitting nicht gleichzusetzen mit einer „inneren Kündigung“. Denn grundsätzlich sind die Quiet Quitter mit ihrem Tätigkeitsbereich einverstanden, sie sind einfach nur nicht bereit zu zusätzlichem Engagement.

Diese Form des Quiet Quitting spiegelt auch den Wandel in der Arbeitsmoral der Generation Z wider, die sich von traditionellen Vorstellungen von Engagement für und Loyalität zum Arbeitgeber unterscheidet. Für ältere Generationen mag dies mitunter schwer nachvollziehbar sein, da die Generation Z mehr Wert auf Flexibilität, Sinnstiftung und eine ausgewogene Work-Life-Balance legt, als sich ausschließlich an konventionellen Arbeitsnormen zu orientieren.

Gefahren des Quiet Quittings

Die Risiken des Quiet Quittings sind facettenreich und können erhebliche negative Auswirkungen auf das Arbeitsumfeld haben. 

Die eingeschränkte Zusammenarbeit im Team, die aus fehlender Kommunikation und Engagement resultiert, birgt ein hohes Konfliktpotenzial. Die Haltung eines Quiet Quitters kann zudem zu einer ungleichmäßigen Arbeitsbelastung führen, wenn sich einige Teammitglieder darauf beschränken, nur das Mindestmaß zu leisten, während andere versuchen, die entstehenden Lücken durch zusätzlichen Arbeitseinsatz zu kompensieren. Konsequenzen hieraus können geringere Arbeitserfolge und potenzielle finanzielle Verluste für das Unternehmen sein, da die Effizienz und Produktivität beeinträchtigt werden.

Rechtliche Einordnung 

Die rechtliche Einordnung von Quiet Quitting ist vor allem im Hinblick auf die Abgrenzung zu anderen arbeitsrechtlichen Phänomenen vorzunehmen. Im Unterschied zur Leistungsverweigerung liegt beim Quiet Quitting nicht die Absicht vor, schlechter oder kontinuierlich unter dem Durchschnitt zu arbeiten. 

Insoweit ist das Quiet Quitting vom sog. Low-Performer zu unterscheiden. Für den Low Performer ist eine dauerhaft mangelhafte oder langsame Arbeitsleistung charakteristisch, während Quiet Quitting lediglich darauf abzielt, sich auf die vertraglich vereinbarte Leistung zu beschränken („Dienst nach Vorschrift“). In der Regel werden daher die arbeitsvertraglichen Pflichten durch den Quiet Quitter eingehalten. 

Eine solche langfristige innere Einstellung kann sich jedoch auch zu einer Pflichtverletzung in Form einer Schlechtleistung entwickeln. Die Schwelle zur Schlechtleistung kann beispielsweise durch eine langsamere Arbeitsweise oder das Nichtbefolgen von Weisungen überschritten werden. Arbeitgebern ist in solchen Fällen eine längerfristige Beobachtung, Beurteilung und entsprechende Dokumentation eines vermeintlichen Quiet Quitters für eine genaue rechtliche Einordnung anzuraten. Grund für eine solche Vorgehensweise ist die Geltung des subjektiven Leistungsbegriffs im Arbeitsverhältnis, wonach sich die Leistungspflicht eines Arbeitnehmers an seiner individuellen Leistungsfähigkeit orientieren muss.

Ein weiterer relevanter Begriff in diesem Kontext ist das sogenannte „Quiet Hiring“ durch den Arbeitgeber. Dabei werden langjährig beschäftigte Arbeitnehmer mit neuen oder erweiterten Aufgaben betraut, ohne dass dies formell als Beförderung registriert wird. Diese Praxis, die vermutlich als Reaktion auf den anhaltenden Fachkräftemangel entstanden ist, geht mit dem Verzicht auf neue Arbeitsverträge oder Gehaltsverhandlungen einher, was für die betroffenen Arbeitnehmer nachteilig sein kann. 

„Quiet Quitting“ wird in diesem Zusammenhang als Gegenbewegung betrachtet, wenn Arbeitnehmer durch eine gezielte Beschränkung ihrer Tätigkeit auf ihre vertraglich festgelegten Aufgaben ihre Unzufriedenheit oder Unsicherheiten bezüglich ihrer beruflichen Entwicklung zum Ausdruck bringen. Es wird zunehmend wichtiger, klare rechtliche Abgrenzungen zwischen diesen verschiedenen Phänomenen zu schaffen, damit Arbeitgeber die Möglichkeit haben, die richtigen Maßnahmen zu ergreifen.

Exkurs: Verpflichtung zu Mehrarbeit überhaupt erlaubt?

Damit stellt sich gleichzeitig die Frage, ob und inwieweit ein Arbeitnehmer zu Überstunden verpflichtet werden kann. 

Im deutschen Arbeitsrecht ist Mehrarbeit grundsätzlich erlaubt, unterliegt jedoch bestimmten Regelungen. Eine entsprechende vertragliche Vereinbarung ist zwar erforderlich, kann jedoch im Notfall auch entbehrlich sein. Die Anordnung von Mehrarbeit durch den Arbeitgeber muss dem Prinzip des billigen Ermessens entsprechen, was eine sorgfältige Abwägung der Interessen von Arbeitnehmer und Arbeitgeber bedeutet. Die zulässige Überstundenanzahl kann durch Arbeitsverträge, Betriebsvereinbarungen, Tarifverträge oder das Arbeitszeitgesetz begrenzt werden, wobei insbesondere das Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates zu beachten ist. Das Arbeitszeitgesetz legt im Grundsatz eine werktägliche Höchstarbeitszeit von 8 Stunden fest, die auf bis zu 10 Stunden verlängert werden kann, sofern innerhalb von 6 Monaten oder innerhalb von 24 Wochen im Durchschnitt 8 Stunden werktäglich nicht überschritten werden. Da Samstage arbeitszeitrechtlich als Werktage zu zählen sind, ist eine tägliche Arbeitszeit von 9,6 Stunden an den Tagen Montag bis Freitag zulässig, sofern am Samstag keine Arbeit geleistet wird. 

Diese rechtlichen Rahmenbedingungen sind essenziell für die Diskussion über Quiet Quitting, da sie die Grenzen und Möglichkeiten für zusätzliche Arbeitsleistung klar definieren.

Umgang mit Quiet Quittern 

Arbeitgeber haben im Fall von Quiet Quitting unterschiedliche Handlungsoptionen: Sie können zum einen rechtliche Maßnahmen ergreifen oder aber auch den betroffenen Arbeitnehmer durch das Setzen von Anreizen positiv bestärken, um seine intrinsische Motivation zu steigern. 

Arbeitgeber sollten in einem ersten Schritt im Rahmen ihres Weisungsrechts die Pflichten des Arbeitnehmers mittels klarer Arbeitsanweisungen und Erwartungen konkretisieren, um proaktiv potenzielle Konflikte anzugehen. Im weiteren Verlauf ermöglicht die Bildung von Vergleichsgruppen mit anderen Arbeitnehmern eine objektive Bewertung der Arbeitsleistung eines vermeintlichen Quiet Quitters im Kontext des Teams und erleichtert die Identifizierung von Auffälligkeiten. Entsprechende Auffälligkeiten sollten zwingend dokumentiert werden. Erst im letzten Schritt und als Ultimo Ratio sollte eine sorgfältige Prüfung von Abmahnungs- und Kündigungsoptionen unter Beachtung der gesetzlichen und individualvertraglichen Bestimmungen in Betracht gezogen werden. 

Um effektiv gegen Quiet Quitting vorzugehen, zeigt sich in der Praxis, dass rechtliche Sanktionen oft nicht zielführend sind und mitunter sogar kontraproduktiv wirken können. Stattdessen bietet es sich an, vermehrt auf positive Anreize zu setzen. Arbeitnehmer können durch verschiedene Benefits, Mitarbeiterevents, die Honorierung besonderen Engagements, sowie die Orientierung an einer ausgewogenen Work-Life Balance motiviert werden. Faire Arbeitszeiten und angemessene Vergütung, Wertschätzung seitens der Vorgesetzten und Mitsprachemöglichkeiten durch Gespräche, die in die Zuständigkeit der HR-Abteilung fallen, tragen maßgeblich zur Mitarbeiterzufriedenheit bei. Das Schaffen eines positiven Betriebsklimas, das die Mitarbeitergesundheit berücksichtigt und auf modernen Arbeitsbedingungen basiert, kann darüber hinaus dazu beitragen, die emotionale Bindung der Arbeitnehmer an das Unternehmen zu stärken. 

Positive Anreize statt Sanktionen

Aufgrund dessen ist bei einem ersten Verdacht auf Quiet Quitting dem Arbeitgeber – noch bevor rechtliche Schritte in Erwägung gezogen werden – zu raten, zunächst das Gespräch mit dem betroffenen Arbeitnehmer zu suchen, mögliche Ursachen zu ergründen und gegebenenfalls gemeinsam Anpassungen vorzunehmen.

Quiet Quitting mag heutzutage kein neues Phänomen sein, es ist aber von großer Bedeutung, die Ernsthaftigkeit dieses subtilen Problems anzuerkennen. Um effektiv damit umgehen zu können, sollten Arbeitgeber konkrete Maßnahmen ergreifen, die über bloße rechtliche Sanktionen hinausgehen. Durch eine aktive Kommunikation mit der Belegschaft kann der Arbeitgeber dem Phänomen nicht nur entgegentreten, sondern auch präventiv handeln, um mögliche Ursachen frühestmöglich zu erkennen und geeignete Lösungen zu finden, die positiven Einfluss auf die Unternehmenskultur haben. 

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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Kündigungen künftig wirksam trotz formeller Fehler im Massenentlassungsverfahren? – Update #1

Fr, 05.01.2024 - 09:03

Eine deutliche Risikoreduzierung für Arbeitgeber* im Massenentlassungsverfahren bahnt sich an: Bislang waren Kündigungen, die im Rahmen einer Massenentlassungsanzeige ausgesprochen wurden, unwirksam, wenn im Zeitpunkt ihrer Erklärung keine oder eine fehlerhafte Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorlag (vgl. BAG, Urteil v. 22. November 2012 - 2 AZR 371/11; BAG, Urteil v. 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19). Von dieser Rechtsprechung des 2. Senats möchte der 6. Senat des BAG nun abweichen. Er ist der Ansicht, dass es sich bei § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG nicht um ein Verbotsgesetz i.S.v. § 134 BGB handele. Daher könne die Sanktion für Fehler des Arbeitgebers bei der Anzeige der Massenentlassung bei der Agentur für Arbeit nicht die Nichtigkeit der Kündigung sein. Vielmehr müsse der Gesetzgeber eine geeignete Sanktion für derartige Fehler bestimmen. Der 6. Senat erstreckt diese Auffassung in seinem Beschluss ausdrücklich auf alle denkbaren Fehler des Arbeitgebers im Anzeigeverfahren. Damit beabsichtigt der 6. Senat eine weitreichende Rechtssprechungsänderung auf den Weg zu bringen, die weit mehr Konstellationen betrifft als die ihm derzeit zur Entscheidung vorliegenden.

Unberührt von der geplanten Rechtsprechungsänderung bleibt die Behandlung von Fehlern im Konsultationsverfahren. Der 6. Senat weist insoweit ausdrücklich darauf hin, dass die bisherige Rechtsprechung zu Fehlern des Arbeitgebers bei der Beteiligung des Betriebsrats Fortbestand haben soll. Fehler in diesem Bereich führen auch weiterhin zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen. Es ist daher davon auszugehen, dass das Konsultationsverfahren künftig besonders in den Fokus bei Kündigungsschutzprozessen rücken wird. Arbeitgeber sollten daher bei der Durchführung des Konsultationsverfahrens besondere Sorgfalt walten lassen.

Bevor es jedoch zu einer Rechtsprechungsänderung kommen kann, muss zunächst der Senat, von dessen Entscheidung abgewichen werden soll, auf Anfrage des erkennenden Senats erklären, dass er nicht an seiner Rechtsauffassung festhält. 

Aus diesem Grund hat der 6. Senat beim 2. Senat nunmehr mittels einer so genannten Divergenzanfrage angefragt, ob dieser an seiner bisherigen Rechtsauffassung festhalten möchte. Sollte dies der Fall sein, müsste der Große Senat des Bundesarbeitsgerichts gebildet werden und über die künftige Rechtsauffassung des BAG entscheiden.

Sollte sich die Rechtsauffassung des 6. Senats durchsetzen, würde dies die Risiko für Arbeitgeber, im Rahmen von anzeigepflichtigen Personalabbaumaßnahmen unwirksame Kündigungen auszusprechen, deutlich reduzieren. Gerade im Rahmen des Anzeigeverfahrens kommt es in der Praxis immer wieder zu formellen Fehlern. Wenn der 2. Senat (oder der ggf. zu bildende Große Senat) den Weg für eine Rechtssprechungsänderung freimachte, würden solche formellen Fehler künftig nicht mehr die Unwirksamkeit der Kündigung nach sich ziehen. Anlass für die jetzige Divergenzanfrage sind drei vor dem 6. Senat anhängige Kündigungsschutzverfahren, bei denen den Arbeitgebern unterschiedliche formale Fehler im Anzeigeverfahren unterliefen (6 AZR 155/216 AZR 157/226 AZR 121/22). Bereits vor der Divergenzanfrage hatte der erkennende 6. Senat die Verfahren ausgesetzt, um den EuGH zur Vorabentscheidung anzurufen. Gegenstand des Vorabentscheidungsverfahrens war die Frage, ob die in Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MERL (Massenentlassungsrichtlinie) geregelte Pflicht des Arbeitgebers, der Agentur für Arbeit eine Abschrift der Massenentlassungsanzeige zu übermitteln, dem Individualrechtsschutz dient oder nicht. Der EuGH entschied, dass diese durch § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG in nationales Recht umgesetzte Norm nicht den Zweck verfolgt, den von Massenentlassungen betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren (EuGH 2. Kammer, Urteil vom 13. Juli 2023 – C-134/22).

Vor dem Hintergrund dieser Entscheidung des EuGH ist davon auszugehen, dass auch der 2. Senat nicht mehr an seiner bisherigen Auffassung festhalten wird, mit der Folge, dass künftig formelle Fehler im Massenentlassungsverfahren (§§ 17 ff. KSchG) nicht die Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung nach sich ziehen würden. 

Kündigung künftig trotz Verstoßes gegen die Übermittlungspflicht wirksam (BAG – 6 AZR 155/21)?

In dem ersten der drei vor dem 6. Senat anhängige Kündigungsschutzverfahre , bei denen den Arbeitgebern unterschiedliche formelle Fehler im Anzeigeverfahren unterliefen, ging es um die Missachtung der Übermittlungspflicht des Arbeitgebers gemäß § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG (6 AZR 155/21): Im Rahmen einer nach den §§ 17 ff. KSchG anzeigepflichtigen Massenentlassung wurde der Betriebsrat zwar ordnungsgemäß informiert und das Konsultationsverfahren durchgeführt. Eine Übermittlung einer Abschrift der an den Betriebsrat gerichteten Informationen im Rahmen der Einleitung des Konsultationsverfahrens an die zuständige Agentur für Arbeit, wie von § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG vorgeschrieben, erfolgte jedoch nicht. Der Betriebsrat erklärte in seiner abschließenden Stellungnahme, dass er keine Möglichkeit sehe, die beabsichtigten Entlassungen zu vermeiden. Im Anschluss an diese Stellungnahme zeigte der Arbeitgeber die Entlassungen bei der zuständigen Agentur für Arbeit an. 

Der 6. Senat vertritt nun die Auffassung, dass ein Verstoß gegen die Übermittlungspflicht aus § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG nicht zur Unwirksamkeit der Kündigung führt. Maßgeblich hierfür dürfte der Zweck der der deutschen Regelung zugrunde liegenden europäischen Vorschrift (Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MERL) sein. Nach der Entscheidung des EuGH handelt es sich bei der Übermittlungspflicht um eine bloß verfahrensordnende Bestimmung, deren Umsetzung daher nicht (zwingend) die Unwirksamkeit der Kündigung des von der Massenentlassung betroffenen einzelnen Arbeitnehmers erforderlich mache:

Die in Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 MERL – und damit auch § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG – geregelte Übermittlungspflicht soll es der zuständigen Behörde nur ermöglichen, sich über die Gründe der geplanten Entlassung, die Zahl und die Kategorien der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Zahl und die Kategorien der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer, den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, sowie die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer einen Überblick zu verschaffen. Der Behörde käme im Rahmen des Konsultationsverfahrens zwischen dem Arbeitgeber und dem Betriebsrat keine aktive Rolle zu. Daher erfolge die Übermittlung der Mitteilung an den Betriebsrat an die Agentur für Arbeit nur zu Informations- und Vorbereitungszwecken, damit die zuständige Behörde ggf. ihre weiteren Befugnisse wirksam ausüben könne. Ziel sei es, dass sich diese auf die Entlassungen vorbereiten könne, auch um möglichst einordnen zu können, wie sie Lösungen für die betroffenen Arbeitnehmer nach Zugang der eigentlichen Massenentlassungsanzeige entwickeln könne. Zum Zeitpunkt der Zuleitung der Konsultation bestehe lediglich die Absicht der Entlassungen. Es gehe noch nicht darum, dass sich die Agentur für Arbeit mit dem individuell betroffenen Arbeitnehmer befasse, sondern ausschließlich mit der allgemein anstehenden Situation. In europarechtskonformer Auslegung diene § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG damit nicht (vorrangig) dem Schutz des Einzelnen, sondern sei vielmehr kollektiver Natur.

Nachdem der 6. Senat diese Antwort des EuGH auf sein Vorabentscheidungsersuchen erhielt, vertritt er nun folgerichtig die Auffassung, dass ein Verstoß gegen § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG die Wirksamkeit der ausgesprochenen Kündigung unberührt lässt.

Kündigung künftig auch ohne Massenentlassungsanzeige wirksam (BAG - 6 AZR 157/22)?

Auch in dem zweiten Verfahren (6 AZR 157/22) hielt der erkennende 6. Senat die dem EuGH im Vorabentscheidungsverfahren vorgelegte Frage nach dem Zweck der Übermittlungspflicht für entscheidungserheblich und hatte daher das bei ihm anhängige Verfahren zunächst bis zur Entscheidung des EuGH ausgesetzt. In diesem Verfahren – welches nun ebenfalls bis zur Erklärung des 2. Senats ausgesetzt bleibt – irrte der Arbeitgeber über die Anzahl der in seinem Betrieb „in der Regel“ beschäftigten Arbeitnehmer i.S.v. § 17 KSchG. Diese Anzahl ist für die Berechnung des Schwellenwertes maßgeblich. Ausgehend von einer zu geringen Größe der Belegschaft erstattete er keine Massenentlassungsanzeige, obwohl eine solche aufgrund der Personalstärke erforderlich gewesen wäre. Der Konsultation eines Betriebsrats bedurfte es hier nicht, da kein solcher existierte.

Nach Auffassung des 6. Senats solle auch diese gänzlich unterbliebene Massenentlassungsanzeige nicht zur Unwirksamkeit der einzelnen Kündigungen führen. In diesem Verfahren bleibt gleichermaßen die Erklärung des 2. Senats abzuwarten. 

Kündigung künftig trotz Fehlern im Anzeigeverfahren wirksam (BAG – 6 AZR 121/22)? 

In dem dritten vom 6. Senat ausgesetzten Verfahren (6 AZR 121/22) wurden wiederum andere Fehler im Massenentlassungsverfahren gemacht. 

So hatte der Arbeitgeber zunächst die Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit gem. § 17 Abs. 3 KSchG erstattet noch bevor das Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat gem. § 17 Abs. 2 KSchG abgeschlossen war. Nach der bisherigen Rechtsprechung (vgl. BAG, Urteil v. 14. Mai 2020 – 6 AZR 235/19, BAG, Urteil v. 22. September 2016 – 2 AZR 276/16) hätte dies zur Unwirksamkeit der Kündigungen geführt. 

Überdies genügte diese zu früh erstattete Massenentlassungsanzeige weder den Anforderungen des 17 Abs. 3 Satz 2 KSchG noch denen des § 17 Abs. 3 Satz 3 KSchG. Nach diesen Vorschriften muss der Arbeitgeber der Massenentlassungsanzeige an die Agentur für Arbeit eine abschließende Stellungnahme des Betriebsrats zu den Entlassungen beifügen. Sofern eine solche nicht vorliegt, kann es unter gewissen Voraussetzungen genügen, wenn der Arbeitgeber den Stand der Beratungen darlegt.

Nach der Auffassung des erkennenden 6. Senats scheint nach der Vorabentscheidung des EuGH die nach der bisherigen für solche Fälle vorgesehene Unwirksamkeitsfolge für die Kündigungen nicht mehr geboten. Auch dieses Verfahren bleibt daher ausgesetzt, bis zur Erklärung des 2. Senats.

Grundsätze des Massenentlassungsverfahrens

Das Massenentlassungsverfahren ist in den §§ 17 ff. KSchG geregelt. Es findet Anwendung, wenn ein Arbeitgeber plant, binnen 30 Tagen die Beschäftigungsverhältnisse einer Anzahl von Arbeitnehmern in einem Betrieb zu beenden, die die in § 17 KSchG genannten Schwellenwerte überschreiten. Grundsätzlich kommt das Massenentlassungsverfahren für alle Betriebe in Betracht, in denen in der Regel mehr als 20 Arbeitnehmer beschäftigt sind. 

Inhaltlich sieht das Massenentlassungsverfahren Informations- und Konsultationspflichten gemäß § 17 Abs. 2 KSchG gegenüber dem Betriebsrat („Konsultationsverfahren″) sowie Mitteilungs- und Anzeigepflichten des Arbeitgebers gegenüber der (zuständigen) Agentur für Arbeit gemäß § 17 Abs. 1 und 3 KSchG vor („Anzeigeverfahren“). 

§ 17 Abs. 2 Satz 1 KSchG regelt im Rahmen des Konsultationsverfahrens die Informationspflicht des Arbeitgebers gegenüber dem Betriebsrat – sofern ein solcher besteht. Der Arbeitgeber muss den Betriebsrat u.a. rechtzeitig über die Gründe für die geplanten Entlassungen, die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer, die Zahl und die Berufsgruppen der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer und den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen, sowie die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer schriftlich informieren.

Daneben besteht eine Konsultationspflicht, nach der Arbeitgeber und Betriebsrat insbesondere die Möglichkeiten zu beraten haben, Entlassungen zu vermeiden oder einzuschränken und ihre Folgen zu mildern (§ 17 Abs. 2 Satz 2 KSchG).

Der Arbeitgeber hat zudem im Rahmen des Anzeigeverfahrens der Agentur für Arbeit gleichzeitig mit der Mitteilung der Informationen an den Betriebsrat eine Abschrift hiervon zuzuleiten (Übermittlungspflicht, § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG).

Nach Abschluss des Konsultationsverfahrens hat der Arbeitgeber die eigentliche Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit zu erstatten, bevor Kündigungen ausgesprochen (d.h. den Arbeitnehmern zugehen) und Aufhebungsverträge geschlossen werden dürfen. Entlassungen werden frühestens nach Ablauf eines Monats nach Eingang der Massenentlassungsanzeige bei der Agentur für Arbeit oder ausnahmsweise zuvor mit deren Zustimmung wirksam. 

Formelle Fehler im Massenentlassungsverfahren – was bisher galt

In der Praxis kommt es bei Massenentlassungsverfahren häufig zu Fehlern. Die Folgen solcher Verstöße gegen die §§ 17 ff. KSchG sind weder durch das nationale Recht noch in der MERL ausdrücklich geregelt, sodass das BAG auf der Basis allgemeiner dogmatischer Grundsätze ein Sanktionssystem entwickelt hat. 

Der 6. Senat des BAG möchte nun von der bisherigen Rechtsprechung abweichen: Aufgrund des unionsrechtlichen „effet utile“, d.h. dem Gebot, europäische Regelungen zur Wirksamkeit zu verhelfen, nahm das BAG in seiner Rechtsprechung bisher an, dass Fehler im Massenentlassungsverfahren nach den §§ 17 ff. KSchG in der Regel zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen (vgl. BAG, Urteil v. 22. November 2012 – 2 AZR 371/11; BAG, Urteil v. 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/19). So etwa wenn der Massenentlassungsanzeige an die Agentur für Arbeit nicht die Stellungnahme des zuständigen Betriebsrats beigefügt war oder wenn die Massenentlassungsanzeige des Arbeitgebers infolge der Verkennung des Betriebsbegriffs objektiv unrichtige Angaben enthielt oder nicht bei der für den Betriebssitz örtlich zuständigen Agentur für Arbeit erstattet wurde. Einen effizienten Arbeitnehmerschutz als Zweck der zugrunde liegenden MERL könne – so das BAG bisher – nur durch eine Einordnung der nationalen Vorgaben als Verbotsgesetz i.S.d. § 134 BGB erreicht werden. Folge bei Fehlern war daher bisher die Unwirksamkeit der Kündigungen (BAG, Urteil v. 13. Februar 2020 – 6 AZR 146/196 AZR 208/19 – „Air Berlin“).

Formelle Fehler im Massenentlassungsverfahren – was künftig gelten könnte

In dem Verfahren 6 AZR 155/21 kamen dem BAG Zweifel, ob der Verstoß gegen die Übermittlungspflicht aus § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG die zuvor dargestellte Rechtsfolge – also die Unwirksamkeit der Kündigung – gebiete. Da die nationale Vorschrift der Umsetzung der europäischen MERL dient, legte das BAG seine Frage im Vorabentscheidungsverfahren dem EuGH vor. Dieser entschied, dass die Übermittlungspflicht des Arbeitgebers an die Agentur für Arbeit nicht dem Individualrechtsschutz diene. Folgerichtig beabsichtigt der 6. Senat des BAG daher nun zu entscheiden, dass der Verstoß gegen die Übermittlungspflicht nicht zu der Unwirksamkeit der Kündigung führt. 

Es ist zu erwarten, dass der 2. Senat des BAG nach der Entscheidung des EuGH künftig nicht an seiner Rechtsprechung festhalten, sondern vielmehr den Weg für die beabsichtigte Rechtssprechungsänderung freimachen wird. 

Wahrscheinlich erscheint, dass § 17 Abs. 3 Satz 1 KSchG demnach künftig nicht mehr als Verbotsgesetz ausgelegt werden wird. Verstöße gegen die Übermittlungspflicht würden dann keine Auswirkungen auf die Wirksamkeit von Kündigungen haben. Gleiches würde in den Fällen gelten, in denen die Massenentlassungsanzeige vom Arbeitgeber an die Agentur für Arbeit unterbleibt, jedenfalls wenn ein Betriebsrat nicht besteht, oder es im Anzeigeverfahren zu Fehlern kommt.

In den Entscheidungsgründen seiner Vorlage an den 2. Senat äußert der 6. Senat zudem die Absicht, dass künftig alle denkbaren Fehler im Anzeigeverfahren nicht mehr zur Nichtigkeit der Kündigung führen sollen. Der 6. Senat stellt also klar, dass er unabhängig davon, in welcher Form gegen das Anzeigeverfahren nach § 17 Abs. 1 und 3 KSchG verstoßen wird, die gebotene Sanktion nicht die Unwirksamkeit der Kündigung sei. Dies gelte selbst dann, wenn überhaupt keine Massenentlassungsanzeige erstattet werde oder Muss-Angaben i.S.v. § 17 Abs. 3 Satz 4 KSchG unterblieben seien. Etwaige Sanktionen für alle Fehler im Anzeigeverfahren müsste vielmehr der Gesetzgeber bestimmen.

Arbeitgeber sollten bis zur abschließenden Klärung weiterhin große Sorgfalt bei Vorbereitung und Umsetzung von Konsultation und Massenentlassungsanzeige walten lassen

Zunächst ist die Entscheidung des 2. Senats auf die ihm vorgelegte Divergenzanfrage abzuwarten. Jedenfalls bis zu dessen Entscheidung sollte große Sorgfalt darauf verwendet werden, sowohl das Konsultations-, aber auch das Anzeigeverfahren korrekt durchzuführen. 

Nach der Vorabentscheidung des EuGH erscheint es aber wahrscheinlich, dass auch der 2. Senat die Unwirksamkeitsfolge nicht mehr aufrecht hält. Andernfalls müsste der Große Senat gebildet werden und eine Entscheidung treffen. 

Ausgehend davon, dass sich der 2. Senat der Auffassung des 6. Senats anschließt und es zu einem Kurswechsel des BAG kommt, ist zu erwarten, dass dieser Paradigmenwechsel dann das gesamte Sanktionsregime der Unwirksamkeit von Kündigungen bei Fehlern im Anzeigeverfahren nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG beseitigt. Wahrscheinlich erscheint, dass solche Verstöße dann – falls nicht der Gesetzgeber eine anderweitige Regelung trifft – ohne Folgen bleiben werden. Das Risiko bei anzeigepflichtigem Personalabbau würde damit für Arbeitgeber erheblich reduziert.

Davon unberührt bleibt der Umgang mit Fehlern im Konsultationsverfahren. Der 6. Senat weist ausdrücklich darauf hin, dass die bisherige Rechtsprechung zu Fehlern des Arbeitgebers im Konsultationsverfahren Fortbestand haben soll. Fehler bei der Beteiligung des Betriebsrats werden demnach weiterhin zur Unwirksamkeit der ausgesprochenen Kündigungen führen. 

Wenn sich der 2. Senat wie erwartet dem 6. Senat anschließt, dürfte für Fehler im Konsultationsverfahren Entwarnung gegeben werden. Anderes gilt aber weiterhin für das Konsultationsverfahren. Auf dessen ordnungsgemäße Durchführung sollte bei der rechtlichen Vorbereitung und Begleitung von Betriebsänderungen mit einem relevanten Personalabbau nunmehr besonderes Augenmerk gelegt werden, da damit zu rechnen ist, dass dieser Teil des Massenentlassungsverfahrens künftig besonders kritisch in Kündigungsschutzverfahren geprüft werden wird.

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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Private Enforcement des Digital Markets Act

Do, 04.01.2024 - 09:48

Der Digital Markets Act (kurz und im Folgenden: DMA) ist seit November 2022 in Kraft. Die Europäische Kommission hat im September erste sog. Gatekeeper und ihre Core Platform Services benannt, und ab dem 6. März 2024 müssen diese die „Dos und Don‘ts“ aus den Artt. 5, 6 und 7 DMA einhalten. Die verwaltungsrechtliche Durchsetzung des DMA ist der Europäischen Kommission vorbehalten (Public Enforcement). 

Der DMA enthält jedoch nicht nur öffentlich-rechtliche Verbote und Gebote für die Gatekeeper, sondern gewährt im Ergebnis den von einem möglichen DMA-Verstoß betroffenen Unternehmen oder Personen zivilrechtliche Ansprüche (Private Enforcement). Diese zivilrechtlichen Ansprüche sollen vor den mitgliedstaatlichen Gerichten durchgesetzt werden. Damit werden die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union im Private Enforcement Kompetenzen haben, die ihnen im Bereich des Public Enforcement fehlen, trotz vehementer Forderungen einiger Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Nachfolgend wird dargestellt, welche zivilrechtrechtlichen Ansprüche bei einem DMA-Verstoß in Frage kommen und wie diese Ansprüche durchgesetzt werden könnten. Dabei wird insbesondere auf die Neuerungen der am 6. November 2023 in Kraft getretenen 11. GWB-Novelle eingegangen, die die Erleichterungen des Private Enforcements im Kartellrecht auf DMA-Ansprüche übertragen. 

Die 11. GWB-Novelle schafft Rahmenbedingungen für die Durchsetzung zivilrechtlicher DMA-Ansprüche in Deutschland 

Für das Private Enforcement in Kartellsachen enthält das GWB verschiedene Sonderregelunten. Der DMA ist jedoch kein Kartellrecht; um das Private Enforcement bei DMA-Verstößen dem Private Enforcement bei Kartellrechtsverstößen anzugleichen, werden mit der 11. GWB-Novelle einige dieser Regelungen auf DMA-Verstöße übertragen. Zudem werden einige der für kartellrechtliche Zivilklagen geltenden Erleichterungen auf DMA-Ansprüche erstreckt. 

Konkret hat die 11. GWB-Novelle die folgenden Regelungen eingeführt:

  1. Die zivilrechtliche Anspruchsgrundlage bei Kartellrechtsverstößen gegen ist § 33 Abs. 1 GWB; in diese Vorschrift wurden DMA-Verstöße nach Artt. 5, 6 und 7 DMA aufgenommen. Damit werden DMA-Verstöße Grundlage eines Beseitigungsanspruchs. In Verbindung mit § 33a GWB können DMA-Verstöße auch kartellrechtliche Schadensersatzansprüche auslösen.
  2. § 33b GWB regelt die Bindungswirkung von Entscheidungen einer Wettbewerbsbehörde für zivilrechtliche Gerichtsverfahren. In diese Vorschrift wurden (i) der Benennungsbeschluss der Europäischen Kommission als Gatekeeper (Art. 3 DMA), sowie (ii) Verfügungen der Europäischen Kommission mit denen ein Verstoß gegen die Pflichten aus den Artt. 5, 6 oder 7 DMA aufgenommen. Diese Verfügungen der Europäischen Kommission werden künftig Feststellungswirkung in Kartellschadensersatzprozessen bei DMA-Verstößen haben. Gerichte sind in einem Zivilprozess dann an die Feststellungen der Europäischen Kommission gebunden und dürfen von diesen Feststellungen in ihrer Entscheidung nicht abweichen. 
  3. § 33h GWB enthält Regelungen zur Verjährung bei kartellrechtlichen Ansprüchen, unter anderem insbesondere zur Hemmung der Verjährung während kartellbehördlicher Ermittlungen (§ 33h Abs. 6 GWB). Mit der 11. GWB-Novelle wurden nun Verfahren der Europäischen Kommission zur Feststellung von Verstößen gegen Artt. 5, 6 und 7 DMA in § 33h Abs. 6 GWB aufgenommen. Solange ein Verwaltungsverfahren vor der Europäischen Kommission und ggf. ein anschließendes Gerichtsverfahren vor den Europäischen Gerichten andauert, ist der Lauf der Verjährung der kartellrechtlichen Ansprüche gehemmt. 
Welche Ansprüche können bei einem DMA-Verstoß von wem geltend gemacht werden?

Seit Inkrafttreten der 11. GWB-Novelle können bei einem DMA-Verstoß die folgenden kartellrechtlichen Ansprüche geltend gemacht werden:

  1. Ein Beseitigungsanspruch nach § 33 Abs. 1 GWB: Mit diesem Anspruch kann der Gläubiger verlangen, dass der Gatekeeper den DMA-Verstoß beendet und Fortwirkungen des DMA-Verstoßes beseitigt. 
  2. Ein Unterlassungsanspruch nach § 33 Abs. 1 GWB: Mit diesem Anspruch kann der Gläubiger bereits im Vorfeld eines befürchteten DMA-Verstoßes von dem Gatekeeper verlangen, ein zu einem DMA-Verstoß führendes Verhalten zu unterlassen. Dieser Anspruch setzt voraus, dass die Gefahr eines DMA-Verstoßes besteht oder dass die Gefahr besteht, dass sich ein DMA-Verstoß wiederholt. Der Unterlassungsanspruch kann somit präventiv – d.h. vor einem DMA-Verstoß – geltend gemacht werden.  
  3. Ein kartellrechtlicher Schadensersatzanspruch nach § 33a Abs. 1 GWB: Mit diesem Anspruch kann der Gläubiger die ihm aus einem DMA-Verstoß resultierenden Schäden ersetzt verlangen. 

All diese zivilrechtlichen Ansprüche setzen voraus, dass der Gläubiger von dem DMA-Verstoß betroffen ist. Insoweit dürfte auch bei DMA-Verstößen – wie bei Kartellrechtsverstößen – genügen, dass dem Anspruchsgegner ein DMA-widriges Verhalten anzulasten ist, das geeignet ist, einen Nachteil des Anspruchstellers (des Gläubigers) mittelbar oder unmittelbar zu begründen. 

In Betracht kommt auch die Geltendmachung von Verbandsklagen durch qualifizierte Einrichtungen nach dem Unterlassungsklagegesetz. Solche qualifizierten Einrichtungen können Unterlassungs- und Beseitigungsansprüche nach § 33 Abs. 1 GWB geltend machen. Mit Inkrafttreten der 11. GWB-Novelle umfasst dies auch Beseitigungs- und Unterlassungsansprüche bei DMA-Verstößen. 

Zusammenspiel von Entscheidungen der Europäischen Kommission und kartellschadensersatzrechtlichen Ansprüchen

Für die mit der 11. GWB-Novelle neu in den § 33b GWB aufzunehmenden Verfügungen der Europäischen Kommission auf Grundlage des DMA ist auf folgendes hinzuweisen:

  • Mit der Aufnahme der Feststellungswirkung des Benennungsbeschlusses der Europäischen Kommission gegen einen Gatekeeper wird eine neue Art des „Follow-On“-Verfahrens eingefügt. Bei kartellrechtliche Schadensersatzklagen unterscheidet man zwei grundlegende Konstellationen: 
  • Im Fall einer sog. „Stand-Alone“-Klage liegt noch keine bestandskräftige Entscheidung einer Kartellbehörde vor und der Kläger muss den Kartellrechtsverstoß vor Gericht selbst darlegen und beweisen. Hierbei kann er sich nicht auf eine Verfügung einer Kartellbehörde stützen. 
  • Im Fall der sog. „Follow-On“-Klage kann sich der Kläger auf eine bestandskräftige Entscheidung einer Kartellbehörde stützen. Man spricht von einer. Das Gericht ist in diesem Fall an die Feststellung des Kartellrechtsverstoßes in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gebunden, sodass der Kartellrechtsverstoß im Zivilprozess feststeht. 
  • Mit der 11. GWB-Novelle wird für den DMA eine Zwischenform zwischen den beiden Fällen eingefügt: Die eingeschränkte Bindungswirkung: Mit dem bestandskräftigen Benennungsbeschluss der Europäischen Kommission steht in einem Verfahren auf Schadensersatz nach § 33a GWB i.V.m. § 33 Abs. 1 GWB gegen einen Gatekeeper fest, dass und an welche Verpflichtungen aus Artt. 5, 6 und 7 DMA der Gatekeeper gebunden ist. Ohne eine zusätzliche bestandskräftige Entscheidung, dass der Gatekeeper gegen eine der Verpflichtungen aus Artt. 5, 6 oder 7 DMA verstoßen hat, steht ein DMA-Verstoß nicht fest. 
  • Zu beachten ist, dass die Feststellungswirkung nach § 33b GWB auch nach der 11. GWB-Novelle nur auf Schadensersatzansprüche nach § 33a GWB, aber nicht auf die Durchsetzung von Beseitigungs- und/oder Unterlassungsansprüche nach § 33 Abs. 1 GWB anwendbar ist. Dies ist aber nur der Blickwinkel des deutschen Rechts. Nach dem DMA sind die mitgliedstaatlichen Gerichte bei Zivilverfahren  nach Art. 39 Abs. 5 DMA an die Feststellungen der Verfügungen der Europäischen Kommission gebunden. Dies entspricht den Regelungen zum Verhältnis von nationalen Gerichten und europäischer Kommission im Kartellrecht. In Art. 39 DMA ist weiterhin eine weitgehende Beteiligung der Europäischen Kommission an Zivilprozessen vor mitgliedstaatlichen Gerichten vorgesehen (z.B. das Recht zur Stellungnahme), auch dies entspricht den Regelungen in der Kartellverfahrensverordnung. 
Welcher Schaden kann bei DMA-Verstößen ersetzt verlangt werden?

Es bleibt noch die Frage, welche Schäden mit einem Schadensersatzanspruch bei einem DMA-Verstoß ersetzt verlangt werden können. Die konkrete Entwicklung des Private Enforcement bei der Durchsetzung von kartellrechtlichem Schadensersatz wegen DMA-Verstößen bleibt abzuwarten. Dies gilt bereits für die Fragen, bei welchen der Gebote und Verbote in den Artt. 5, 6 und 7 DMA-Verstöße auftreten werden und inwiefern Dritte davon betroffen sein werden. Allerdings wird es im Normalfall wohl um den Ersatz von entgangenem Gewinn im Sinne von § 252 BGB gehen. Die aus der Praxis bekannten Preiseffekte, wie sie den kartellrechtlichen Schadensersatzverfahren zugrunde liegen, sind eher nicht naheliegend. Können die betroffenen Unternehmen jedoch nachweisen, dass ihnen wegen des DMA-Verstoßes Umsätze und daraus resultierende Gewinne entgangen sind, muss der Gatekeeper diesen entgangenen Gewinn als Schaden ersetzen. Dabei gilt der Gewinn als entgangen, welcher nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge mit Wahrscheinlichkeit erwartet werden konnte. Die Kläger müssen den entgangenen Gewinn somit nicht vollständig beweisen. Den Klägern kommt die Erleichterung zugute, dass ein entgangener Gewinn als wahrscheinlich gilt, wenn dieser Gewinn im gewöhnlichen Geschäftsbetrieb des Klägers eingetreten wäre. Bei der Durchsetzung eines kartellrechtlichen Schadensersatzanspruchs wegen eines DMA-Verstoßes kommt dem Kläger bei der Darlegung des entgangenen Gewinns somit eine gesetzliche Vermutung zugute. 

Die von dem BGH für Kartellrechtsverstöße angenommene tatsächliche Vermutung für den Eintritt eines Schadens ist wohl nicht auf kartellrechtliche Schadensersatzansprüche bei einem DMA-Verstoß übertragbar. Es bleibt abzuwarten, ob der BGH eine solche tatsächliche Vermutung auch für DMA-Verstöße annehmen wird. Für Ansprüche wegen entgangenen Gewinns kommt es auf die BGH-Rechtsprechung allerdings nicht an, eine Vermutung des entgangenen Gewinns ergibt sich bereits gesetzlich aus § 252 Satz 2 BGB.  

Informationsherausgabe bei DMA-Verstoß

Wenn die von dem DMA-Verstoß betroffenen Unternehmen oder Personen kartellschadensersatzrechtliche Ansprüche geltend machen, können sie gegen den Rechtsverletzer oder gegen Dritte Ansprüche auf Informationsherausgabe (§ 33g GWB) haben. Voraussetzung dieses Anspruchs ist, dass der Anspruchsgegner über Informationen verfügt, die für die Geltendmachung des kartellrechtlichen Schadensersatzanspruchs erforderlich sind. Zudem muss der Gläubiger einen kartellrechtlichen Schadensersatzanspruch vor Gericht glaubhaft machen. Hierfür muss der Gläubiger darlegen, dass ein DMA-Verstoß zumindest wahrscheinlich vorliegt, der Grundlage des kartellrechtlichen Schadensersatzanspruchs sein kann.  

Schaffung eines „Level-Playing-Field“

Ob und wie sich ein Private Enforcement des DMA entwickelt, wird sich zeigen. Die den Zivilgerichten eingeräumten Kompetenzen sprechen dafür, dass das Private Enforcement Bedeutung bei der Durchsetzung des DMA haben wird. Der deutsche Gesetzgeber hat den Ball mit der 11. GWB-Novelle aufgenommen und er hat 

  • die sich aus den bisherigen Kartellschadensersatzverfahren als effektiv erwiesenen Regelungen (Bindungswirkung der kartellbehördlichen Verfügung, Hemmungswirkung der kartellbehördlichen Verfahren) auf die kartellrechtlichen Ansprüche wegen DMA-Verstößen übertragen; 
  • dafür gesorgt, dass die spezialisierten Spruchkörper der deutschen Gerichtsbarkeit für kartellrechtliche Schadensersatzansprüche auch für solche Ansprüche aufgrund von DMA-Verstößen zuständig sein werden. Hierdurch könnte der Gerichtsstandort Deutschland gestärkt werden.

Somit gelten für kartellrechtliche Schadensersatzansprüche wegen eines DMA-Verstoßes grundsätzlich dieselben rechtlichen Anforderungen und Vorteile, wie sie bei kartellrechtlichen Schadensersatzansprüchen wegen Kartellrechtsverstößen gelten. Die Voraussetzungen für die Durchsetzung der kartellrechtlichen Schadensersatzansprüche wegen eines DMA-Verstoßes sind damit geschaffen.   

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EnWG-Novelle 2023

Mi, 03.01.2024 - 12:16

Nach der Zustimmung des Bundesrates ist der überwiegende Teil des Gesetzes zur Anpassung des Energiewirtschaftsrechts an unionsrechtliche Vorgaben und zur Änderung weiterer energierechtlicher Vorschriften (Gesetz) am 29. Dezember 2023 in Kraft getreten. 

Das Gesetz dient in erster Linie der Umsetzung des Urteils des EuGH vom 2. September 2021 zur Unabhängigkeit der BNetzA. Es schafft zum anderen den rechtlichen Rahmen für den Aufbau des deutschen Wasserstoff-Kernnetzes. Um diese Punkte soll es vorliegend gehen, nicht aber um die darüberhinausgehenden, in dem Gesetz vorgesehenen Änderungen des Energiewirtschaftsrechts.

Erheblicher Kompetenzzuwachs für die BNetzA

In Umsetzung des EuGH-Urteils zur Unabhängigkeit und Zuständigkeit der BNetzA werden deren Kompetenzen umfassend erweitert, was sich zuvorderst in neuen Festlegungsbefugnissen manifestiert, die bestehende Verordnungsermächtigungen der Bundesregierung (BReg) überschreiben bzw. ersetzen. Hierzu wird die umfassende Verordnungsermächtigung der BReg in § 24 EnWG gestrichen. Außerdem werden § 29 EnWG und § 54 Abs. 3 EnWG zu den Befugnissen der Regulierungsbehörde entsprechend angepasst bzw. erweitert. Flankiert wird dieser Zuständigkeitswechsel durch das in Art. 15 des Gesetzes geregelte gestufte Außerkrafttreten der energierechtlichen Verordnungen zur Regelung von Netzzugang und -entgelten nach folgendem Zeitplan:

  • StromNZV mit Ablauf des 31. Dezember 2025,
  • StromNEV mit Ablauf des 31. Dezember 2028,
  • GasNZV mit Ablauf des 31. Dezember 2025,
  • GasNEV mit Ablauf des 31. Dezember 2027,
  • ARegV mit Ablauf des 31. Dezember 2028.
Umfassende Zuständigkeit der BNetzA für Netzzugang und -entgelte

Die Neujustierung der Zuständigkeiten beginnt bei § 17 Abs. 4 EnWG, der eine neue Festlegungsbefugnis der BNetzA hinsichtlich der Vorgaben zu den technischen und wirtschaftlichen Bedingungen für den Netzanschluss vorsieht. Die bestehende Verordnungsermächtigung der BReg in § 17 Abs. 3 EnWG zum Erlass entsprechender Vorschriften über diese Bedingungen wird zwar beibehalten. Die weitergehende Ermächtigung der BReg zur Regelung der Voraussetzungen, unter denen die BNetzA Bedingungen für den Netzanschluss festlegen kann, wurde dagegen wegen der Aufnahme von § 17 Abs. 4 EnWG gestrichen. Außerdem wird die BNetzA ermächtigt, von diesbezüglichen Verordnungen der BReg abzuweichen bzw. diese zu ergänzen. Nach der Gesetzesbegründung soll der BNetzA so die Regelung einer verursachungsgerechten Beteiligung der Netzanschlussnehmer an den Netzausbaukosten im Rahmen des Umbaus des Energiesystems ermöglicht werden.

§ 20 Abs. 3 EnWG (für Strom) und Abs. 4 (für Gas) regeln neue Festlegungsbefugnisse der BNetzA bei der Ausgestaltung und Abwicklung des Netzzugangs und der Bilanzierung bzw. überführen bestehende Befugnisse aus den außerkrafttretenden Verordnungen in das EnWG. Die detailliert aufgezählten Regelungsgegenstände potentieller Festlegungen übernehmen wesentliche Grundzüge der Regulierungspraxis in das EnWG. Auch bei Netzzugang und Bilanzierung wird die BNetzA ermächtigt, von den entsprechenden Verordnungen der BReg abzuweichen bzw. diese zu ergänzen (Abweichungsbefugnis). So soll die BNetzA bereits während der Übergangszeit bis zum endgültigen Außerkrafttreten der Verordnungen diese durch eigene Festlegungen ersetzen können. Allerdings werden Grundprinzipien der bestehenden Regulierung zur Bilanzierung (bei Strom) und Bildung eines einheitlichen Marktgebietes (bei Gas) in § 21 Abs. 1a und b übernommen und sind damit nicht disponibel. 

§ 21 Abs. 3 EnWG führt neue, detailliert ausgeführte Festlegungskompetenzen der BNetzA zu den Elementen des Netzentgeltsystems ein. Hierunter fallen insbesondere die Festlegung einer risikoangemessenen Eigenkapitalverzinsung und die Ermittlung der berücksichtigungsfähigen Netzkosten. Die Gesetzesbegründung betont im Strombereich, dass die Übertragung der Regelungssystematik aus der StromNEV in die Festlegungskompetenz der BNetzA keine unmittelbare inhaltliche Neuausrichtung zur Folge habe. Das gleiche dürfte auch ohne entsprechende Klarstellung für Gas gelten. Allerdings hat die BNetzA für den Übergangszeitraum auch bei den Netzentgelten eine Abweichungsbefugnis von der StromNEV und der GasNEV.

§ 21a EnWG regelt neue Festlegungskompetenzen der BNetzA (mit Abweichungsbefugnis) in Bezug auf die Methoden und Instrumente der Anreizregulierung, ohne eine solche für die Ermittlung der Netzentgelte zwingend vorzuschreiben. Die Vorschrift beschreibt zentrale Elemente einer Anreizregulierung. Damit – so die Gesetzesbegründung – seien die wesentlichen Maßstäbe einer Netzentgeltregulierung im Wege der Anreizregulierung im EnWG selbst geregelt, so dass verfassungsrechtlichen Anforderungen genüge getan werde und der Regulierungsrahmen für die betroffenen Netzbetreiber ausreichend bestimmt sei. Gleichwohl werde im Sinne des EuGH die Wahl der Methode und deren Ausgestaltung der BNetzA übertragen.

In Ergänzung zu § 21a EnWG erhält die BNetzA in § 23a EnWG neue Festlegungskompetenzen zur Ausgestaltung der Verfahren der Netzentgeltgenehmigung. Laut Gesetzesbegründung soll damit klargestellt werden, dass es der Regulierungsbehörde obliege, die Mindestangaben zu definieren, die sie benötige, um Anträge auf Entgeltgenehmigung nach § 23a EnWG prüfen zu können. Außerdem könne sie nunmehr das Verfahren und die Anforderungen an die Unterlagen per Festlegung näher ausgestalten. 

Die Verordnungsermächtigung in § 24a Abs. 1 EnWG zur Festlegung einheitlicher Übertragungsnetzentgelte wird aufgehoben. Stattdessen werden in § 24 EnWG, der in seiner bisherigen Fassung entfällt, die diesbezüglichen Regelungen aus §§ 14a – d StromNEV ins EnWG übernommen. Weiterhin entfällt die Verordnungsermächtigung in § 28i EnWG zu den Netzkosten grenzüberschreitender Elektrizitätsverbindungsleitungen.

Die Verordnungsermächtigung in § 28o Abs. 2 EnWG zu den Bedingungen und Entgelten für den Zugang zu Wasserstoffnetzen wird nicht gestrichen, sondern dahingehend ergänzt, dass die BReg die Höhe der Netzentgelte begrenzen oder Regelungen treffen darf, wonach die Differenz zwischen Kosten und Entgelten auf alle Netznutzer zu einem späteren Zeitpunkt verschoben werden. Weiterhin kann eine Vereinheitlichung der Netzentgelte sowie ein Ausgleichsmechanismus zwischen den Netzbetreibern vorgesehen werden. Allerdings enthält der neue § 28o Abs. 3 EnWG zusätzlich eine gewissermaßen konkurrierende Festlegungskompetenz der BNetzA mit Abweichungsbefugnis, die sich auf die Regelungsgegenstände der Verordnungsermächtigung in § 28o Abs. 2 EnWG bezieht. 

Die Kompetenzerweiterung führt zu weiteren Änderungen

Die Erweiterung der Festlegungsbefugnisse der BNetzA bei Entfall der Verordnungen zu Netzzugang und -entgelten zieht Folgeänderung nach sich. So statuiert der neue § 73 Abs. 1b EnWG, dass Festlegungen so umfassend und verständlich zu begründen sind, dass diese für einen sachkundigen Dritten nachvollziehbar sind. Laut Gesetzesbegründung berücksichtigen diese verfahrensrechtlichen Anforderungen an Entscheidungen der BNetzA, dass eine normative Vorstrukturierung ihrer Entscheidungen nicht mehr möglich sein werde und dadurch die Bedeutung der gerichtlichen Überprüfbarkeit sowie der Nachvollziehbarkeit für die Betroffenen steige. Deshalb sei eine ausreichende Transparenz der wesentlichen Motivation einer Entscheidung herzustellen. Außerdem müsse den Gerichten eine umfassende Überprüfung der Entscheidungen der BNetzA ermöglicht werden.

§ 74 EnWG, der die Veröffentlichung von Verfahrenseinleitungen und Entscheidungen durch die BNetzA betrifft, wird dahingehend ergänzt, dass künftig auch Aufsichtsentscheidungen nach § 65 EnWG zu veröffentlichen sind. Auch hier bestehe ein erhöhtes Interesse der Öffentlichkeit, insbesondere da es sich um Verfahren von Amts wegen handele.

§ 59 Abs. 3 EnWG sieht in Folge der erweiterten Festlegungsbefugnisse der BNetzA die Einrichtung der sog. Großen Beschlusskammer vor. Sie besteht aus dem Präsidium der BNetzA sowie den sachlich zuständigen Beschlusskammervorsitzenden und Abteilungsleitungen. Sie trifft die Festlegungen zu den Bedingungen und Methoden für Netzzugang und -entgelte gem. §§ 20 bis 23a EnWG, §§ 24 bis 24b EnWG sowie § 28o Abs. 3 EnWG

Beim Wasserstoff steht die Schaffung des Wasserstoff-Kernnetzes im Vordergrund

Mit § 28r EnWG wird die Zielbestimmung der Schaffung eines überregionalen Wasserstoff-Kernnetzes (WKN) in das EnWG aufgenommen. Dieses soll gem. § 28r Abs. 1 EnWG die künftigen wesentlichen Wasserstoffproduktionsstätten und potenziellen Importpunkte mit den künftigen wesentlichen Wasserstoffverbrauchspunkten und Wasserstoffspeichern verbinden. Laut Gesetzesbegründung wird erwartet, dass der Verbrauch während des Markthochlaufes vor allem in schwer zu dekarbonisierenden Sektoren mit dem höchsten Treibhausgasminderungspotenzial stattfindet.

Nach § 28r Abs. 2 EnWG müssen die Fernleitungsnetzbetreiber (FNB) drei Kalenderwochen nach Inkrafttreten der Regelung bei der BNetzA einen Antrag auf Genehmigung eines WKN stellen. Dabei sind der Zeitpunkt der Inbetriebnahme sowie die geplanten Investitions- und Betriebskosten anzugeben. Die Realisierung des WKN soll prioritär durch die Umstellung bestehender Fernleitungsnetze erfolgen, die nicht mehr für die Erdgasversorgung benötigt werden. Kommen die FNB ihrer Vorlagepflicht nicht fristgemäß nach, ist gem. § 28r Abs. 3 EnWG die BNetzA innerhalb von vier Monaten verpflichtet, ein WKN zu erstellen und zu veröffentlichen. Die BNetzA kann Unternehmen für die Durchführung der für die Erstellung des WKN notwendigen Projekte bestimmen, die sich mit der Aufnahme ihrer Leitungen in das WKN einverstanden erklärt haben.

Gem. § 28r Abs. 4 EnWG sind nur in Deutschland belegene Leitungen als Bestandteil des WKN genehmigungsfähig, deren geplante Inbetriebnahme bis zum 31. Dezember 2032 erfolgt. Außerdem müssen sie bestimmten Projekttypen entsprechen (z.B. IPCEI- oder Projekte zur Verbesserung des Imports). Die an Wasserstoffprojekten beteiligten Verteilernetz- und Speicherbetreiber sowie Träger von Wasserstoffprojekten sind nach § 28r Abs. 5 EnWG verpflichtet, mit den FNB zusammenzuarbeiten. Die FNB schlagen auf Basis dieser Abstimmung gem. § 28r Abs. 7 EnWG Unternehmen für die effiziente Durchführung der entsprechenden Projekte vor. Bei fehlender Übereinstimmung nimmt die BNetzA diese Bestimmung vor. 

§ 28r Abs. 8 EnWG regelt genehmigungsrechtliche Fragen. Danach hat die BNetzA bei Vorliegen der Voraussetzungen gem. § 28r Abs. 1 bis 7 EnWG ein beantragtes WKN als gebundene Entscheidung innerhalb von zwei Monaten nach Antragstellung zu genehmigen. Die Genehmigung ergeht ausschließlich im öffentlichen Interesse. Rechte Privater werden hierdurch nicht berührt. Aus planungsrechtlicher Sicht werden mit der Genehmigung für die betreffenden Wasserstoffnetzinfrastrukturen bei Inbetriebnahme bis 2030 deren energiewirtschaftliche Notwendigkeit und Vordringlichkeit fingiert. Außerdem gelten diese Infrastrukturen als im überragenden öffentlichen Interesse liegend. 

Weitere Detailanpassungen bei der Wasserstoffregulierung

Als Folgeänderung zu § 28r EnWG sieht § 28j Abs. 3 S. 2 EnWG ergänzend vor, dass auch Betreiber des WKN ein Opt-In in die Wasserstoffregulierung erklären können, ohne dass hierbei die Bedarfsgerechtigkeit des WKN nach § 29p EnWG zu prüfen wäre. Laut Gesetzesbegründung können beim WKN die einzelnen Bedarfe noch nicht genau spezifiziert werden, so dass im Rahmen der Genehmigung des WKN dessen Bedarfsgerechtigkeit nicht geprüft wird. Ohne die Ergänzung wäre also Betreibern des WKN ein Opt-In verwehrt. Auch bei der Ergänzung in § 28o Abs. 1 S. 4 EnWG handelt es sich um eine Folgeänderung zu § 28r EnWG. Danach tritt die Bestimmung des WKN gem. § 28r Abs. 3 EnWG oder Abs. 8 als Voraussetzung neben die Prüfung der Bedarfsgerechtigkeit. Somit können auch die Kosten des WKN im Rahmen der Regulierung geltend gemacht werden. Die geänderte Formulierung in § 28p Abs. 2 S. 2 EnWG stellt schließlich klar, dass bei Vorliegen der Bedarfsgerechtigkeit der Wasserstoffnetzinfrastruktur auch deren energiewirtschaftliche Notwendigkeit vorliegt, ohne dass dies gesondert zu prüfen wäre. In § 28p Abs. 3 EnWG werden zusätzlich Regelvermutungen für die Annahme der Bedarfsgerechtigkeit eingeführt, z.B. wenn die Belieferung von industriellen Verbrauchern bezweckt wird.

Nach der Novelle ist vor der Novelle

Dieser Satz gilt für das EnWG im Allgemeinen und für die Regulierung von Wasserstoffnetzen im Besonderen. Bereits vor Abschluss der hier behandelten Novelle hat die BReg Mitte November 2023 den Entwurf eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Energiewirtschaftsgesetzes beschlossen. Der Entwurf enthält die „zweite Stufe“ für die Beschleunigung des Wasserstoffhochlaufs. Hierzu soll eine integrierte Netzentwicklungsplanung für Wasserstoff und Erdgas erfolgen. Außerdem enthält der Entwurf ein Finanzierungsmodell für das WKN mit einer subsidiären staatlichen Absicherung. Denn bei einer Finanzierung über die Netzentgelte würden zunächst prohibitiv hohe Tarife drohen. Überdies lässt sich der Hochlauf über den erforderlichen langen Investitionszeitraum nicht belastbar prognostizieren. Diesem Risiko der Netzbetreiber soll das vorgeschlagene Modell mit einer Deckelung der Netzentgelte, einem Amortisationskonto mit einer subsidiären Garantie des Bundes sowie einem Selbstbehalt der WKN-Netzbetreiber begegnen. 

Aber auch mit diesem Dritten Gesetzes wird für den Wasserstoffsektor keine Ruhe einkehren. Mit der 4. Gasbinnenmarkt-Richtlinie, deren Verabschiedung in 2024 ansteht, wird sich die Frage des Regulierungsmodells für Wasserstoffnetze in Deutschland neu stellen. Dabei ist eine immer stärkere Annäherung an das bewährte Regulierungssystem beim Gas absehbar. 

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Rechtssichere Wege zur Verbesserung der Kundenbewertungen

Mi, 03.01.2024 - 07:58

Für den erfolgreichen Online-Auftritt eines Unternehmens sind positive Bewertungen auf Google, Trustpilot & Co. von essenzieller Bedeutung. Eine große Anzahl an Bewertungen mit möglichst hohem Durchschnitt wirkt seriös und steigert das Vertrauen in das Unternehmen als solches und dessen Waren und Dienstleistungen. 

Dies gilt umso mehr für im E-Commerce tätige Unternehmen. Hier ist die Durchschnittsbewertung ein wesentlicher Faktor für die Kaufentscheidung der Verbraucher*. 

Daher liegt es nahe, dass Unternehmen versuchen, die für sie abgegebenen Bewertungen positiv zu beeinflussen. Hierfür gibt es im Wesentlichen zwei Möglichkeiten. Zum einen können Unternehmen Maßnahmen ergreifen, um positive Bewertungen zu generieren. Zum anderen sollten sie solche Bewertungen, die die Grenze zur Rechtswidrigkeit überschreiten, juristisch löschen lassen. 

Nicht jede Bewertung muss hingenommen werden

Äußerungen lassen sich – grob zusammengefasst – in Meinungsäußerungen und Tatsachenbehauptungen einteilen. Im Einzelfall kann die Abgrenzung allerdings äußerst kompliziert sein, da auch Tatsachen wertende Elemente enthalten können und umgekehrt. 

Im Grundsatz stellt sich die Rechtslage so dar, dass Meinungsäußerungen hingenommen werden müssen, solange sie die Grenze zur Schmähkritik nicht überschreiten. Eine Meinungsäußerung zeichnet sich durch subjektiv wertende Elemente des persönlichen Dafürhaltens aus. Das ist bei Bewertungen, deren Sinn in der subjektiven Einschätzung liegt, naturgemäß der Fall. Anders verhält es sich lediglich bei solchen Bewertungen, die der bloßen Herabwürdigung des Bewerteten dienen, ohne Teil einer sachlichen Auseinandersetzung zu sein. Derartige Schmähkritiken können das Unternehmenspersönlichkeitsrecht verletzen. Hier legt die Rechtsprechung allerdings besonders hohe Hürden an. 

Bei Tatsachenbehauptungen – also Äußerungen, die dem Beweis zugänglich sind – ist die Schwelle zur Rechtswidrigkeit schneller überschritten. Nach gefestigter Rechtsprechung müssen nur wahre Tatsachenbehauptungen hingenommen werden. Bewertungen, die unwahre Tatsachenbehauptungen enthalten, verletzen regelmäßig das Unternehmenspersönlichkeitsrecht des Bewerteten. 

Eine Besonderheit gilt bei unkommentierten Sternebewertungen. Zwar handelt es sich bei Sternebewertungen um zulässige Meinungsäußerungen. Wie viele Sterne ein Nutzer vergibt, ist Ausdruck seines persönlichen Dafürhaltens. Allerdings enthält die Bewertung zumindest die immanente Tatsachenbehauptung, dass irgendein Kontakt stattgefunden habe, der eine Bewertung des Unternehmens überhaupt ermöglicht. Sofern also kein Kontakt vorlag, kann eine solche Bewertung als unwahre Tatsachenbehauptung angegriffen werden. 

Bei unzulässigen Bewertungen besteht ein Anspruch auf Löschung 

Unzulässige Meinungsäußerungen und unwahre Tatsachenbehauptungen verletzen das Unternehmenspersönlichkeitsrecht des bewerteten Unternehmens. Dem bewerteten Unternehmen steht daher ein Anspruch auf Unterlassung der unzulässigen Äußerung zu. Das läuft faktisch auf eine Löschung der Bewertung hinaus. 

Verantwortlich für die Bewertung ist grundsätzlich der bewertende Internetnutzer selbst. Allerdings handeln viele Internetnutzer anonym. Die Durchsetzung der Ansprüche gegen den Nutzer selbst ist in der Praxis schwierig und bleibt aufgrund unzureichender Auskunftsansprüche oft erfolglos. 

Aussichtsreicher ist es daher häufig, die Ansprüche gegen die Plattform, auf der die Bewertung veröffentlicht wurde, geltend zu machen. Auch diese haften als Störer für die Inhalte ihrer Nutzer. Allerdings sind die Plattformen hinsichtlich der automatisierten Verbreitung der Nutzerinhalte haftungsprivilegiert. Sie haften erst ab Kenntnis von der rechtsverletzenden Bewertung. Die Plattform ist daher auf die unzulässige Bewertung hinzuweisen. Dieser Hinweis muss die rechtsverletzende Bewertung klar identifizieren und unzweifelhaft benennen, woraus sich deren Rechtswidrigkeit ergibt. In der Praxis scheitert ein effektiver Rechtsschutz gegen rechtswidrige Bewertungen häufig an einem mangelhaften Hinweis, weshalb hier besondere Aufmerksamkeit geboten ist. 

Ein hinreichender Hinweis setzt das sog. „Notice and Take Down Verfahren“ in Lauf. Löscht die Plattform die Bewertung anschließend nicht, haftet sie selbst. Dann können Unternehmen auch gegenüber dieser Unterlassungsansprüche geltend machen. 

Kunden können um positive Bewertungen gebeten werden

Die zweite Möglichkeit, den Durchschnitt der Kundenbewertungen zu verbessern, besteht darin, positive Bewertungen zu generieren. Zu diesem Zweck kontaktieren Unternehmen häufig Bestandskunden und bitten um entsprechende 5-Sterne Bewertungen. Hier sind einige rechtliche Fallstricke zu beachten. 

Bereits die Kontaktaufnahme kann eine unzumutbare Belästigung darstellen

Grundsätzlich ist die Kontaktaufnahme mit der Bitte um die Abgabe einer Bewertung zulässig. Allerdings muss schon hier sichergestellt werden, dass diese nicht als unzumutbare Belästigung im Sinne des § 7 Abs. 1 UWG und somit als unzulässige geschäftliche Handlung eingeordnet wird. Bei Verstößen drohen Unterlassungs- und Schadensersatzansprüche. Nach § 7 Abs. 2 UWG ist eine unzumutbare Belästigung stets anzunehmen 

bei Werbung unter Verwendung einer automatischen Anrufmaschine, eines Faxgerätes oder elektronischer Post, ohne dass eine vorherige ausdrückliche Einwilligung des Adressaten vorliegt.

Darunter fallen auch E-Mails, mit denen Unternehmen die Kunden um eine positive Bewertung bitten. 

Der Versand von derartigen E-Mails ist daher nur dann zulässig, wenn der Kunde in den Empfang von Werbung eingewilligt hat. Hierfür trägt der Werbende die Beweislast, weshalb hier stets das sog. Double Opt-in Verfahren eingesetzt werden sollte.

Ausnahmsweise kann eine Kontaktaufnahme nach § 7 Abs. 3 UWG auch ohne Einwilligung rechtmäßig sein. Nach § 7 Abs. 3 UWG ist die Werbung zulässig, wenn der Unternehmer die E-Mail-Adresse im Zusammenhang mit dem Verkauf einer Ware oder Dienstleistung erhalten hat, der Kunde der Verwendung zu Werbezwecken nicht widersprochen hat und der Kunde bei Erhebung der Adresse und bei jeder Verwendung klar und deutlich darauf hingewiesen wird, dass er der Verwendung jederzeit kostenfrei widersprechen kann.

Vorsicht bei Gegenleistungen für die Bewertungen 

Es erscheint wirtschaftlich durchaus sinnvoll, den Kunden für die Abgabe einer Bewertung einen Anreiz zu schaffen. Denkbar wären beispielsweise Gratisprodukte oder Rabattcodes für alle Kunden, die eine 5-Sterne Bewertung abgegeben haben. Allerdings setzt das Wettbewerbsrecht auch hier enge Grenzen. 

Bewertungen, für die das bewertete Unternehmen die Nutzer bezahlt, stellen grundsätzlich eine Irreführung und damit eine Verletzung des Wettbewerbsrechts dar. Dies gilt nicht bloß für Gegenleistungen in Geld, sondern beispielsweise auch im Eröffnen der (kostenlosen) Teilnahme an einem Gewinnspiel, in der Gewährung von Rabatten oder sonstigen geldwerten Vorteilen.

Die Kunden, die die Bewertung eines Unternehmens im Internet wahrnehmen, gehen grundsätzlich davon aus, dass diese Bewertung frei und unbeeinflusst zustande gekommen ist. Sie erwarten, die ehrliche Meinung des Nutzers zu lesen und, dass die Bewertung ohne Gegenleistung erfolgt ist. Bei durch die Gewährung von geldwerten Vorteilen gekauften Bewertungen ist allerdings das Gegenteil der Fall. Die Gewährung von Gegenleistungen führt dazu, dass der bewertende Kunde bei der Abgabe der Bewertung nicht mehr frei und unbeeinflusst handeln kann. Um von einer Beeinflussung der bewertenden Kunden auszugehen, reicht es nach der Rechtsprechung schon aus, wenn diese sich auch nur unterbewusst zur Dankbarkeit verpflichtet fühlen. Von einer derartigen Verpflichtung ist schon bei geringfügigen Gegenleistungen auszugehen. 

Sofern Unternehmen ihren Kunden daher Gegenleistungen für die Bewertung gewähren, ist dringend sicherzustellen, dass die Kunden diesen Umstand in ihrer Bewertung kennzeichnen. Dann entsteht bei den Nutzern, die die Bewertung lesen, nicht der unrichtige Eindruck, die Bewertung sei unbeeinflusst zustande gekommen. Die Offenlegung, dass der Bewertung eine Gegenleistung zugrunde liegt, schließt daher eine Irreführung aus. Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Bewertung sind damit aus der Welt geräumt. 

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

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Das neue Zuwendungsempfängerregister ab 1. Januar 2024

Di, 02.01.2024 - 10:49

Das sog. Zuwendungsempfängerregister wird beim Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) geführt werden und soll öffentlich einsehbar sein. Mit der Einführung des Registers soll insbesondere eine höhere Transparenz und damit Rechtsicherheit für die Spender* geschaffen werden und der Spendenabzug im Veranlagungsverfahren weiter vereinfacht werden.

Die gesetzlichen Grundlagen für Einführung des Zuwendungsempfängerregisters wurden bereits mit dem Jahressteuergesetz 2020 gelegt. Weitere Ergänzungen und Anpassungen sind mit dem Wachstumschancengesetz vorgesehen, das inzwischen vom Bundestag verabschiedet wurde, jedoch vom Bundesrat nun noch an den Vermittlungsausschuss überwiesen wurde. Vor Jahresende 2023 wird damit nicht mehr mit den Ergänzungen und Anpassungen aus dem Wachstumschancengesetz zu rechnen sein.

Was wird der Inhalt des Zuwendungsempfängerregisters sein?

Das Zuwendungsempfängerregister soll alle Körperschaften, Personenvereinigungen und Vermögensmassen enthalten, die aufgrund der Förderung gemeinnütziger, mildtätiger oder kirchlicher Zwecke nach § 5 Abs. 1 Nr. 9 KStG steuerbefreit sind. Das sind insbesondere gemeinnützige Stiftungen, Vereine oder gemeinnütze Kapitalgesellschaften (gGmbH, gUG und gAG).

Zu den Daten, die zu den einzelnen Organisationen in das Zuwendungsempfängerregister aufgenommen werden, gehören nach § 60b Abs. 2 AO n.F.:

  • Wirtschafts-Identifikationsnummer der Körperschaft (sobald vorhanden)
  • Name der Körperschaft
  • Anschrift der Körperschaft
  • steuerbegünstigter Zweck der Körperschaft
  • zuständiges Finanzamt,
  • Datum der Erteilung des letzten Freistellungsbescheides oder des Feststellungsbescheides nach § 60a AO,
  • Bankverbindung der Körperschaft.

Nach der Ergänzung durch das Wachstumschancengesetz sollen auch der Status als juristische Person des öffentlichen Rechts sowie weitere Kontoverbindungen bei Banken/Kreditinstituten und Bezahldienstleistern Inhalt des Registers sein können.

Diese Daten werden dem BZSt von dem jeweils für die gemeinnützige Körperschaft örtlich zuständigen Finanzamt übermittelt (§ 60b Abs. 3 AO n.F.). Das Register wird öffentlich einsehbar sein. Hierfür sollen die Eintragungen online abgerufen werden können. Insbesondere das Bestehen des Gemeinnützigkeitsstatuts einer Körperschaft wird so der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Das BZSt wird daher insoweit vom Steuergeheimnis befreit. Die Finanzämter bleiben dagegen weiterhin an das Steuergeheimnis gebunden und dürfen Dritten keine Auskunft über den Gemeinnützigkeitsstatus erteilen. Auch bleibt die Feststellung der satzungsmäßigen Gemeinnützigkeit Aufgabe der jeweiligen Finanzämter.

Welche Funktionen soll das neue Register erfüllen?

Nach der Gesetzesbegründung soll das Zuwendungsempfängerregister ehrenamtlich Engagierte in ihrer Werbung für Mittel und Engagement unterstützen. Mittels der öffentlichen Einsehbarkeit wird insbesondere mehr Transparenz für Spender geschaffen. Ihnen wird eine Informationsquelle über die Organisationen zur Verfügung gestellt, bei der sie die Verfolgung gemeinnütziger Zwecke vor einer Zuwendung oder ihrem persönlichen Engagement verifizieren können.

Darüber hinaus wird künftig vom BZSt ein zentraler Abgleich mit den Verfassungsschutzberichten des Bundes und der Länder vorgenommen. Dies ist sodann nicht mehr von den einzelnen Finanzämtern durchzuführen, sondern ihnen werden die Erkenntnisse des BZSt zugeleitet.

Mit dem Register soll auch die Grundlage für die digitale Abwicklung der Zuwendungsbestätigungen (Spendenbescheinigung) nach § 50 EStDV geschaffen werden. Dies ist zugleich die Basis für eine vorausgefüllte Steuererklärung, die bereits die Verifikation von Spender und Empfänger enthalten soll. Damit soll nach weiteren Schritten das Erfordernis der Vorlage einer Spendenbescheinigung entfallen und damit auf Seiten aller Beteiligten am Besteuerungsverfahren zu einer Arbeitserleichterung beigetragen werden. 

Zu beachten ist, dass das Zuwendungsempfängerregister keine steuerrechtliche Publizitätsfunktion aufweist. Dies bedeutet, dass bezüglich der Spendenempfangsberechtigung und der Steuerbefreiung der Organisation das Register keinen Vertrauensschutz bietet. Dieser wird auch zukünftig erst durch die nach amtlichem Vordruck ausgestellte Zuwendungsbestätigung geschaffen.

Auswirkungen auf ausländische Körperschaften

Auch ausländische Körperschaften mit Sitz in der EU/EWR können von dem Zuwendungsempfängerregister profitieren. Die Feststellung, ob Körperschaften ohne Sitz in Deutschland die Voraussetzungen der §§ 51–68 AO erfüllen und damit als gemeinnützige Organisation steuerbegünstigt sind, kann künftig Eingang in das Zuwendungsempfängerregister finden. Derzeit erfolgt die Prüfung, ob ausländische Körperschaften die Voraussetzungen für die Anerkennung als gemeinnützig (§§ 51 – 68 AO) erfüllen, jeweils durch das für den Spender zuständigen Finanzamt. Nach Einführung des Zuwendungsempfängerregisters wird diese Anerkennung bundeseinheitlich durch das BZSt erfolgen. Das Risiko von unterschiedlichen Prüfergebnissen durch die einzelnen Finanzämter wird damit künftig unterbunden. Auch ist künftig auch im grenzüberschreitenden Zuwendungsfall nicht mehr der Spender/die Spenderin, sondern die gemeinnützige Organisation als Spendenempfängerin für den Nachweis der Voraussetzungen verantwortlich. Um als EU/EWR Körperschaft in das Zuwendungsregister aufgenommen zu werden ist erforderlich, dass die jeweilige Körperschaft Spender mit Wohnsitz, Aufenthalt oder Sitz in Deutschland hat und dadurch ein Inlandsbezug besteht. Eine ausländische gemeinnützige Körperschaft hat einen Anspruch auf Anerkennung als gemeinnützig in Deutschland, wenn sie die Zuwendung eines in Deutschland Steuerpflichtigen erhalten hat und diese steuerwirksam bestätigen, also eine Zuwendungsbestätigung nach amtlichem Muster ausstellen will. Körperschaften aus Drittstaaten können nicht in das Zuwendungsempfängerregister aufgenommen werden; ein Spendenabzug ist für Zuwendungen an solche Gesellschaften ohnehin nicht möglich.

Damit ausländische Körperschaften in Deutschland als steuerbegünstigte Organisationen anerkannt werden, ist erforderlich, dass sich diese selbst um ihre Eintragung in das Register kümmern. Hierfür ist eine Antragstellung auf Aufnahme in das Zuwendungsempfängerregister beim BZSt erforderlich. Für diesen Antrag beim BZSt ist der Zufluss der Zuwendung von der Organisation zu dokumentieren. Für genauere Angaben zum tatsächlichen Ablauf des Antragsverfahrens in der Praxis sind weitere Informationen vom BZSt abzuwarten.

Handlungsbedarf für ausländische Körperschaften?

Nach dem derzeit vorliegenden Wachstumschancengesetz soll die Eintragung im Zuwendungsempfängerregister für nicht im Inland ansässige Zuwendungsempfänger Voraussetzung für den Spendenabzug für Spendenzuflüsse nach dem 31. Dezember 2024 sein.

Andernfalls kann von den ausländischen Körperschaften keine Zuwendungsbestätigung nach dem amtlich vorgeschriebenen Vordruck i. S. v. § 50 EStDV ausgestellt werden. Diese ist jedoch Voraussetzung dafür, dass die geleistete Zuwendung vom Steuerpflichtigen in Deutschland nachgewiesen und im Rahmen des Sonderausgabenabzugs geltend gemacht werden kann. Sollte das Wachstumschancengesetz in Kraft treten werden, besteht damit dringender Handlungsbedarf für ausländische Körperschaften, da diese sich künftig im Zuwendungsregister registrieren müssen, um künftig Spendenbescheinigungen an Spender in Deutschland ausstellen zu dürfen.

Handlungsbedarf auch für inländische Körperschaften?

Anders stellt sich die Lage für die inländischen Körperschaften dar. Die Daten für das Register werden für inländische steuerbefreite Körperschaften zum Jahreswechsel automatisch an des BZSt übermittelt. Es bestehen daher keine unmittelbaren Handlungspflichten für inländische Körperschaften im Zusammenhang mit der Einführung des Zuwendungsempfängerregisters. Es ist jedoch dringend anzuraten, Anfang des Jahres 2024 die vom BZSt im Register veröffentlichten Angaben kritisch zu überprüfen, damit der gemeinnützigen Organisation durch falsche Angaben im Register keine Nachteile erwachsen. Eine Korrektur von gegebenenfalls falschen Angaben ist beim zuständigen Finanzamt zu veranlassen, damit dieses die berichtigten Daten an das BZSt übermittelt.

Im Wachstumschancengesetz ist vorgesehen, dass den im Register geführten Zuwendungsempfängern die Möglichkeit eingeräumt wird, Kontoverbindungen bei Banken, Kreditinstituten und Bezahldienstleistern ins Register neu einzutragen oder zu ändern. In einem ersten Schritt wird nur die derzeit beim Finanzamt hinterlegt Bankverbindung an das BZSt übermittelt. Geplant ist, dass ein Antrag hierzu elektronisch beim BZSt gestellt werden kann. Es bleiben weitere Informationen vom BZSt abzuwarten., wie die Umsetzung in der Praxis genau erfolgen wird. 

Auch werden sich zu verschiedenen offenen Fragen, wie zum Beispiel mit dem Umgang des vorübergehenden oder endgültigen Verlusts der Gemeinnützigkeit oder der Eintragung ausländischer Körperschaften in das Register, in der praktischen Umsetzung noch Lösungen finden müssen. 

* Gemeint sind Personen jeder Geschlechtsidentität. Um der leichteren Lesbarkeit willen wird im Beitrag die grammatikalisch männliche Form verwendet.

Der Beitrag Das neue Zuwendungsempfängerregister ab 1. Januar 2024 erschien zuerst auf CMS Blog.