Heute scheiterte im Fall Stübing gegen Deutschland vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die Beschwerde eines 37-jährigen Leipzigers, der mit seiner Schwester vier Kinder zeugte und dafür über drei Jahre im Gefängnis saß (EGMR, 12.04.2012 - 43547/08 [3]): Das Gericht entschied, dass das deutsche Inzestverbot nicht gegen das Grundrecht auf Schutz des Privat- und Familienlebens verstoße. Weil es zum Inzestverbot in den Mitgliedsstaaten keinen Konsens gibt, stehe Deutschland ein weiter Entscheidungsspielraum zum Schutze der Moral zu. Was halten Sie von der Entscheidung?
Die Straßburger Richter stellten einstimmig fest, der Beischlaf zwischen Verwandten nach § 173 StGB verstoße nicht gegen das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK.
§ 173 StGB [Beischlaf zwischen Verwandten]
(1) Wer mit einem leiblichen Abkömmling den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Wer mit einem leiblichen Verwandten aufsteigender Linie den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft; dies gilt auch dann, wenn das Verwandtschaftsverhältnis erloschen ist. Ebenso werden leibliche Geschwister bestraft, die miteinander den Beischlaf vollziehen.
(3) Abkömmlinge und Geschwister werden nicht nach dieser Vorschrift bestraft, wenn sie zur Zeit der Tat noch nicht achtzehn Jahre alt waren.Artikel 8 MRK [Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens]
(1) Jede Person hat das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz.
(2) Eine Behörde darf in die Ausübung dieses Rechts nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer.
Die Intention des § 173 StGB, das Inzestverbot zum Schutz der Moral und der Rechte anderer, sei ein legitimes Ziel, um den Beischlaf unter Verwandten unter Strafe zu stellen. Der Gerichtshof, dem man bereits oft anlastet, er mische sich zu sehr in die innerstaatlichen Angelegenheiten ein, fuhr ferner fort, dass wegen das Fehlens eines staatenübergreifenden Konsenses in dieser moralischen Frage dem Staat ein weiter Ermessensspielraum diesbezüglich zustehe. Das Bundesverfassungsgericht, das die Verfassungsmäßigkeit des Inzestverbots 2008 bestätigt hatte (BVerfG, 26.02.2008 - 2 BvR 392/07 [4]) und entschied, dass die Strafvorschrift des § 173 II 2 StGB mit dem Grundgesetz vereinbar ist, habe dieses Ermessen durch eine sorgfältige Abwägung der fürsprechenden und widerstreitenden Argumente bezüglich der Strafbarkeit sexueller Beziehungen zwischen Geschwistern fehlerlos ausgeübt.
Die entscheidenden Argumente des Bundesverfassungsgerichtes waren in seinem Beschluss [4]
- der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung des in einer Inzestbeziehung "unterlegenen" Partners,
- die Verhinderung von schwerwiegenden genetisch bedingten Erkrankungen bei Abkömmlingen, sowie auch
- der Schutz der Familie und der Gesellschaft insgesamt.
Eine abweichende Meinung [4] vertrat Richter Hassemer: Die Norm § 173 StGB stehe mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der gerade dem Strafgesetzgeber Grenzen zieht, nicht in Einklang.
"Die Norm verfolgt schon kein Regelungsziel, das in sich widerspruchsfrei und mit der tatbestandlichen Fassung vereinbar wäre (I.). Für die Ziele, die man dem Tatbestand heute unterlegt, bietet § 173 Abs. 2 Satz 2 StGB keinen geeigneten Weg (II.). Es gibt mildere, und überdies besser geeignete, Instrumente als die Strafdrohung (III.), und die Vorschrift ordnet übermäßig belastende Rechtsfolgen an (IV.)."
Sind die Gründe des Bundesverfassungsgerichts plausibel und müssten nach der Argumentation nicht auch andere "Risikogruppen", z.B. Behinderte die Erbkrankheiten weitergeben können, von einem solchen Verbot betroffen sein? Darf der Staat den freiwilligen Beischlaf zwischen zwei erwachsenen Personen unter Strafe stellen, also die gesellschaftliche Ultima Ratio verhängen, nur weil damit ein potentielles Erkrankungsrisiko für die Abkömmlinge einhergeht? Wiegt der vom Bundesverfassungsgericht angemerkte Eingriff "in die Familie und die Gesellschaft" oder die Strafe stärker? Werden Moralvorstellungen oder vermeintliche Rechtsgüter geschützt?