RG, 23.03.1897 - Rep. 576/97
Liegt unter allen Umständen eine Fahrlässigkeit vor, wenn eine Handlung vorgenommen wurde, welche eine Körperverletzung zur Folge gehabt hat, deren Möglichkeit der Handelnde vorhersehen konnte? (§ 230 StGB)
Tatbestand
Der Angeklagte hat seit Oktober 1895 als Kutscher bei dem Droschkenbesitzer K. zu G. in Dienst gestanden. Er führte während dieser Zeit eine mit zwei Pferden bespannte Droschke. Eines der Pferde war ein sog. “Leinenfänger”, d. h. es hatte zeitweise die Gewohnheit, den Schweif über die Fahrleine zu schlagen und diese mit demselben herunter- und fest an den Körper zu drücken. Dieser Fehler war sowohl dem Angeklagten, als auch dem Dienstherrn bekannt. Bei einer am 19. Juli 1896 vom Angeklagten ausgeführten Fahrt gelang es dem erwähnten Pferde auf der Chaussee von P. nach G. die Leine mit dem Schwanze einzukneifen. Bei den vergeblichen Versuchen des Angeklagten, die Leine hervorzuziehen, wurden die Pferde wild; der Angeklagte verlor völlig die Herrschaft über das Gespann, welches beim Weitergaloppieren den an der Seite der Chaussee gehenden Schmied B. umwarf, so daß dieser unter den Wagen geriet und einen Beinbruch erlitt.
Gegen den Angeklagten ist wegen fahrlässiger Verursachung der Körperverletzung des B. Anklage erhoben. Er ist jedoch freigesprochen. Die von der Staatsanwaltschaft eingelegte Revision wurde verworfen.
Aus den Gründen:
Der Revisionsangriff der Staatsanwaltschaft beruht auf einer Auslegung des angefochtenen Urteiles, welcher nicht beizutreten ist. Es kann nicht zugestanden werden, daß nach den getroffenen Feststellungen sämtliche Thatbestandsmerkmale der fahrlässigen Körperverletzung, deren der Angeklagte beschuldigt ist, vorlägen, und der erste Richter die Freisprechung unzulässigerweise auf einen im Gesetze nicht anerkannten Strafausschließungsgrund gestützt habe. Aus dem Zusammenhange der Urteilsbegründung ist im Gegenteil zu entnehmen, daß die Vorinstanz dem Angeklagten eine pflichtwidrige Unvorsichtigkeit, wie sie zum Begriffe der Fahrlässigkeit gehört, unter Berücksichtigung der besonderen Umstände des Falles nicht beimessen zu können geglaubt hat, und daß sie aus diesem Grunde zur Freisprechung des Angeklagten gelangt ist.
Wenn es im Urteil heißt, der einzige Vorwurf, der dem Angeklagten gemacht werden könne, sei der, daß er mit dem Pferde, welches ihm als sog. “Leinenfänger” bekannt war, gefahren sei, so soll damit offenbar nicht gesagt sein, daß dieses Fahren ohne weiteres den Vorwurf der pflichtwidrigen Unvorsichtigkeit begründe; der angeführte Satz ist vielmehr dahin zu verstehen, es sei das Fahren mit dem fehlerbehafteten Tiere die alleinige Thatsache, welche im gegebenen Falle bei der Prüfung der Frage in Betracht kommen könne, ob der Angeklagte die Pflicht, bei seiner Handlungsweise die durch die konkreten Umstände gebotene Sorgfalt und Aufmerksamkeit anzuwenden, verletzt habe. Die weiteren Ausführungen, welche darauf hinauslaufen, daß dem Angeklagten die durch das Durchgehen des von ihm geleiteten Gespannes verursachte körperliche Verletzung des Schmiedes B. strafrechtlich nicht zugerechnet werden könne, sind aber unbedenklich im Sinne einer Verneinung jener Frage auszulegen.
Die Auffassung, welche sonach als die der Freisprechung des Angeklagten zu Grunde liegende anzusehen ist, läßt auch einen Rechtsirrtum nicht hervortreten.
Der Richter erster Instanz schreibt allerdings dem Angeklagten mit der Kenntnis von dem Fehler des einen Pferdes auch das Bewußtsein von den Gefahren zu, welche, falls es, was nicht immer zu verhindern, dem “Leinenfänger” gelingt, die Fahrleine unter den Schwanz zu bekommen, erfahrungsmäßig, namentlich für Straßenpassanten, dadurch herbeigeführt werden können, daß der Kutscher außer Stand gesetzt wird, die Pferde nach seinem Willen zu lenken, letztere auch durch die Versuche, die Leine frei zu machen, zum Durchgehen gebracht werden können. Hiermit ist das Moment der Vorhersehbarkeit des im vorliegenden Falle durch das Durchgehen der Pferde und mittelbar durch das Fahren mit dem “Leinenfänger” verursachten Unfalles unzweifelhaft festgestellt. Für sich allein genügt dies aber noch nicht, um jener Thätigkeit des Angeklagten den Charakter einer unter das Strafgesetz fallenden fahrlässigen Handlungsweise aufzudrücken. Wollte man den Satz aufstellen, es müsse zur Vermeidung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit wegen Fahrlässigkeit jede Handlung unterlassen werden, bezüglich deren die Möglichkeit gegeben und vorhersehbar ist, daß sie für einen rechtswidrigen Erfolg kausal werden kann, so würde dies zu Konsequenzen führen, deren Unvereinbarkeit mit den bestehenden Lebensverhältnissen und Bedürfnissen des Verkehrs offensichtlich ist. Es werden, wie einer näheren Ausführung nicht bedarf, täglich und stündlich ungezählte Handlungen vorgenommen, die, jedem Denkenden erkennbar, die Möglichkeit der Kausalität für die Verletzung der körperlichen Integrität, ja für das Leben anderer Personen in sich tragen, und bei denen sich der Handelnde auch regelmäßig bewußt sein muß, daß selbst die Anwendung der größten Aufmerksamkeit seinerseits die Verwirklichung der mit der Handlung verbundenen Gefahren nicht völlig auszuschließen vermag. Alle derartige Handlungen unterschiedslos als fahrlässiges Verhalten zu qualifizieren, würde der Absicht des Gesetzes zweifellos nicht entsprechen. Um den Begriff der Fahrlässigkeit herzustellen, muß, wie bereits oben angedeutet, etwas Weiteres hinzukommen, nämlich daß die Vornahme der Handlung im gegebenen Falle eine Nichterfüllung desjenigen Maßes von Aufmerksamkeit und von Rücksicht auf das Allgemeinwohl in sich schließt, dessen Prästierung von dem Handelnden billigerweise gefordert werden darf.
Die Entscheidung dieser Frage muß aber vom Richter wesentlich aus der Beschaffenheit der konkreten Verhältnisse geschöpft werden, und ist es nicht für unzulässig zu erachten, wenn er bei dieser Beurteilung auch eine Zwangslage des Handelnden, wie sie vorliegend angenommen ist, in Berücksichtigung zieht. Die Vorinstanz hat gegenüber gestellt, einerseits das Bewußtsein des Angeklagten, daß die Benutzung des “Leinenführers” beim Fahren Gefahren in sich barg, die sich durch den Hinzutritt im Bereiche erkennbarer Möglichkeit liegender Umstände bis zur körperlichen Verletzung anderer Personen entwickeln konnten, andererseits die Pflicht des Angeklagten, seinem Dienstherrn, der das fragliche Pferd mit der Kenntnis von dem mehrerwähnten Fehler zur Bespannung der vom Angeklagten geführten Droschke bestimmt hatte, Gehorsam zu leisten, sowie die begründete Besorgnis, durch eine Weigerung, mit dem Pferde zu fahren, seine Stelle und sein Brot zu verlieren. Hiernach war zu erwägen, ob es dem Angeklagten als Pflicht zugemutet werden konnte, eher dem Befehle seines Dienstherrn sich zu entziehen und den Verlust seiner Stellung auf sich zu nehmen, als durch Benutzung des ihm zugewiesenen Pferdes zum Fahren bewußterweise die Möglichkeit der körperlichen Verletzung eines Anderen zu setzen, oder ob er diese letztere Rücksicht nach dem Verhältnisse ihrer Erheblichkeit zurückstehen lassen durfte hinter derjenigen, welche für ihn den Antrieb zur Befolgung des Befehles seines Dienstherrn bildete. Wenn nun die Vorinstanz diese Frage, wie die Urteilsgründe ergeben, im letzteren Sinne beantwortet hat, so liegt diese Entscheidung im wesentlichen auf dem Gebiete der thatsächlichen Würdigung der vorliegenden Verhältnisse und läßt jedenfalls einen Rechtsirrtum nicht erkennen.
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RG, 23.03.1897 - Rep. 57697 - RGSt 30, 25.pdf | 56.41 KB |