BVerwG, 17.05.2000 - 6 CN 3.99
1. An die Geltendmachung einer Rechtsverletzung nach § 47 II 1 VwGO können keine höheren Anforderungen gestellt werden, als sie auch für die Klagebefugnis nach § 42 II VwGO gelten.
2. Personen, die ein Landschaftsschutzgebiet zu Reitzwecken nutzen, können im Normenkontrollverfahren geltend machen, durch ein in der Landschaftsschutzverordnung enthaltenes Reitverbot in ihrer allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 I GG) verletzt zu sein.
Zum Sachverhalt
Die Bet. streiten über die Gültigkeit von Reitverboten in einer Landschaftsschutzverordnung. Durch Verordnung des Ag. über das Landschaftsschutzgebiet „Südheide” vom 25.9.1992 wurde ein näher bezeichnetes Gebiet zum Landschaftsschutzgebiet erklärt. Die Verordnung enthält u.a. folgende Bestimmungen:
§ 3. Verbote
(1) Im Landschaftsschutzgebiet sind gem. § 26 II NdsNatSchG folgende Handlungen verboten, soweit sie nicht gem. Abs. 2 grundsätzlich zulässig bzw.gem. § 4 im Rahmen einer Befreiung zugelassen worden sind bzw. werden:
b) bauliche Anlagen aller Art einschließlich Einfriedungen, Werbe- und Verkaufseinrichtungen, auch wenn sie keiner bauaufsichtlichen Genehmigungs- oder Anzeigepflicht unterliegen oder nur von vorübergehender Art sind, zu errichten, aufzustellen oder äußerlich wesentlich zu verändern;
g) außerhalb öffentlicher Straßen i.S. des Straßenrechts und besonders gekennzeichneter Reitwege ohne ausdrückliche Erlaubnis der Grundeigentümer oder Nutzungsberechtigten zu reiten;
h) organisierte, den Schutzzwecken entgegenstehende Veranstaltungen durchzuführen;
§ 3 I lit. g trat am 1.1.1996, die Verordnung im Übrigen am 1.1.1993 in Kraft.
Die Ast. wohnen im Landschaftsschutzgebiet bzw. in dessen unmittelbarer Nähe und nutzen es zu Reitzwecken. Sie sind der Auffassung, § 3 I lit. b, g und h der Landschaftsschutzverordnung verstoße gegen gesetzliche Bestimmungen des Landes Niedersachsen und schränke das Reiten sowie damit zusammenhängende Betätigungen in unverhältnismäßiger Weise ein.
Ihren am 7.8.1997 eingegangenen Normenkontrollantrag hat das OVG abgelehnt. Die Revision der Ast. führte zur Aufhebung und Zurückverweisung.
Aus den Gründen
1. Das angefochtene Urteil beruht auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 137 I Nr. 1 VwGO). Indem das OVG den Ast. die Antragsbefugnis für den von ihnen gestellten Normenkontrollantrag abgesprochen hat, hat es eine Norm des Bundesrechts nicht richtig angewandt.
a) Zu Recht ist allerdings das OVG davon ausgegangen, dass im vorliegenden Fall bereits § 47 II 1 VwGO i.d.F. des 6. VwGOÄndG vom 1.11.1996 (BGBl I, 1626) anzuwenden ist, da die Ast. den Normenkontrollantrag nach dem 1.1.1997 gestellt haben (BVerwG, NVwZ 1998, 731 = VBl 1998, 775; BVerwG, NVwZ-RR 1999, 278 L = ZfBR 1999, 41 [42]).
b) Das OVG hat jedoch die Anforderungen, die nach der vorbezeichneten Vorschrift an die Bejahung der Antragsbefugnis zu stellen sind, überspannt. Nach § 47 II 1 VwGO kann den Normenkontrollantrag jede natürliche Person, die geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden, innerhalb von zwei Jahren nach Bekanntgabe der Rechtsvorschrift stellen. An die Geltendmachung einer Rechtsverletzung nach dieser Vorschrift können keine höheren Anforderungen gestellt werden, als sie auch für die Klagebefugnis nach § 42 II VwGO gelten. Es ist daher ausreichend, wenn der Ast. hinreichend substanziiert Tatsachen vorträgt, die es zumindest als möglich erscheinen lassen, dass er durch den zur Prüfung gestellten Rechtssatz in einem subjektiven Recht verletzt wird (BVerwG, NVwZ 1998, 732 = ZfBR 1998, 205 [206]; BVerwGE 107, 215 = NJW 1999, 592 = NVwZ 1999, 414 L = DVBl 1999, 101; BVerwGE 108, 182 [184] = NJW 1999, 1667 = NVwZ 1999, 766 L).
Diesen Prüfungsmaßstab für die Antragsbefugnis nach § 47 II 1 VwGO hat das OVG nicht eingehalten. Es hat seine Auffassung, die Ast. könnten eine Rechtsverletzung i.S. von § 47 II 1 VwGO nicht geltend machen, damit begründet, das von den Ast. als Reiter in Anspruch genommene Grundrecht aus Art. 2 I GG werde nicht in unverhältnismäßiger Weise verletzt. Die darauf bezogenen Ausführungen im angefochtenen Urteil nehmen einen wesentlichen Teil der Sachprüfung vorweg, zu der auch gehört, ob die angegriffene untergesetzlich landesrechtliche Norm (§ 47 I Nr. 2 VwGO) wegen eines Grundrechtsverstoßes ungültig ist. Sie verlassen daher den Rahmen der zu § 42 II VwGO entwickelten „Möglichkeitstheorie”.
c) Das angefochtene Urteil beruht auf der festgestellten Rechtsverletzung. Bei richtigem Verständnis des § 47 II 1 VwGO hätte den Ast. die Antragsbefugnis nicht abgesprochen werden dürfen.
aa) Als möglicherweise verletztes Recht kommt hier die allgemeine Handlungsfreiheit nach Art. 2 I GG in Betracht. In den Schutzbereich dieses Grundrechts fällt auch das Reiten als Betätigungsform menschlichen Handelns (BVerfGE80, 137 [154f.] = NJW 1989, 2525 = NVwZ 1989, 1052 L). Die Ast. wohnen im Landschaftsschutzgebiet bzw. in dessen unmittelbarer Nähe. Von hieraus haben sie bisher das Landschaftsschutzgebiet und damit den Geltungsbereich der streitigen Normen zu Reitzwecken genutzt. In Bezug auf die streitigen Rechtsnormen handelt es sich daher bei den Ast. nicht um beliebige Personen, die durch das in § 47 II 1 VwGO bezweckte Verbot der Popularklage von der Antragstellung ausgeschlossen sein sollen. Da die Ast. den Reitsport im Landschaftsschutzgebiet betrieben haben, sind sie vielmehr durch die Verbote in § 3 I lit. b, g und h der Landschaftsschutzverordnung, soweit diese das Reiten und damit zusammenhängende Betätigungen betreffen, unmittelbar selbst betroffen. Als Adressaten der landschaftsschutzrechtlichen Verbotsnormen gehören sie zu jenem Personenkreis, für den die Bejahung der Antragsbefugnis nach § 47 II 1 VwGO in aller Regel keine Schwierigkeiten bereitet (vgl. Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, § 47 Rdnrn. 41, 69; Eyermann/Jörg Schmidt, VwGO, 10. Aufl. [1998], § 47 Rdnr. 53; Kopp/Schencke, VwGO, 11. Aufl. [1998], § 47 Rdnr. 33).
bb) Freilich gehört das Reiten nicht zum Kernbereich privater Lebensgestaltung. Es kann daher durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt werden, sofern dabei der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beachtet wird (vgl. BVerfGE80, 137 [155, 159] = NJW 1989, 2525 = NVwZ 1989, 1052 L). Ob hier der durch § 3 I lit. b, g und h der Landschaftsschutzverordnung erfolgte Eingriff in das Grundrecht der Ast. aus Art. 2 I GG verhältnismäßig ist, ist jedoch entgegen der Auffassung des OVG eine Frage der Begründetheit des Normenkontrollantrages. Zur Bejahung der Antragsbefugnis nach § 47 II 1 VwGO genügt es hingegen, wenn nach dem substanziierten Vortrag der Ast. die Rechtswidrigkeit des Eingriffs nicht offensichtlich auszuschließen ist. So liegt es hier. Die Ast. machen substanziiert geltend, dass die Verbote in § 3 I lit. b, g und h der Landschaftsschutzverordnung mit den einschlägigen landesgesetzlichen Bestimmungen nicht im Einklang stehen und mit Blick auf die anerkennenswerten Belange des Landschafts- und Naturschutzes nicht notwendig seien.
cc) An der Zweijahresfrist nach § 47 I 2 VwGO scheitert die Zulässigkeit des Normenkontrollantrages nicht. Denn diese Frist begann in Bezug auf die Vorschriften der Landschaftsschutzverordnung vom 25.9.1992 erst am 1.1.1997 zu laufen (Art. 10 IV, 11 des 6. VwGOÄndG).
2. Das angefochtene Urteil erweist sich auf der Grundlage der Tatsachenfeststellungen und der Auslegung des Landesrechts durch das OVG nicht ohne weiteres gem. § 144 IV VwGO als im Ergebnis richtig (a). Eine Anwendung des § 144 IV VwGO käme hier daher allenfalls in Betracht, wenn der Senat in Auslegung und Anwendung weiteren Landesrechts gem. § 144 III Nr. 1 VwGO in der Sache selbst entscheide (vgl. auch BVerwGE 61, 15 [23] = NJW 1981, 535); davon sieht er jedoch ab (b).
a) Die Ausführungen, mit denen das OVG die Antragsbefugnis mit Blick auf das von den Ast. als Freizeitreitern in Anspruch genommene Grundrecht aus Art. 2 I GG verneint hat, können zwar zur Begründetheitsprüfung des Normenkontrollantrages herangezogen werden. Sie sind jedoch kein lückenloser Ersatz für die Begründetheitsprüfung in der Weise, dass der Senat aus denselben Gründen, aus denen das OVG die Antragsbefugnis und damit die Zulässigkeit des Antrages verneint hat, den Normenkontrollantrag in der Sache ablehnen könnte.
aa) Bei der dem Normenkontrollgericht durch § 47 I Nr. 2 VwGO aufgetragenen Prüfung, ob eine im Rang unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschrift gültig ist, ist zunächst zu untersuchen, ob die formellen und materiellen Vorgaben der einfachgesetzlichen Ermächtigungsnorm beachtet worden sind. Eine solche Prüfung hat das OVG hier nicht oder allenfalls unvollständig vorgenommen.
(1) Im Eingangssatz der Landschaftsschutzverordnung vom 25.9.1992 werden als maßgebliche gesetzliche Rechtsgrundlagen u.a. §§ 2, 3 des Gesetzes über die Ordnung in Feld und Forst i.d.F. vom 30.8.1984 (NdsGVBl S. 215), zuletzt geändert durch Art. IV des Gesetzes zur Änderung des Niedersächsischen Naturschutzgesetzes vom 21.3.1990 (NdsGVBl S. 86) angeführt. Auf diese Bestimmungen, die sich auch zum Reiten im Wald und in der übrigen freien Landschaft verhalten, ist das OVG im Rahmen seiner rechtlichen Würdigung nicht eingegangen. Dass die beanstandete Vorschrift des § 3 I lit. g der Landschaftsschutzverordnung gegen jene gesetzlichen Bestimmungen verstoße, hatten die Ast. aber bereits zur Begründung ihres Normenkontrollantrages dargelegt.
(2) Der Eingangssatz der Landschaftsschutzverordnung nimmt ferner auf §§ 26, 30 und 54 I NdsNatG i.d.F. vom 2.7.1990 (NdsGVBl S. 235) Bezug. § 26 NdsNatG hat das OVG zwar auf S. 10f. seines Urteils kurz angesprochen. Es hat sich dabei jedoch auf die Aussage beschränkt, jene Bestimmung knüpfe den Erlass einer Landschaftsschutzverordnung an bestimmte, normativ gegebene Voraussetzungen, deren Vorliegen die Behörden und ggfls. die Verwaltungsgerichte zu prüfen hätten, ohne indes die Prüfung sodann selbst vorzunehmen. Ohne die Feststellung, dass die streitige untergesetzliche Rechtsnorm von den tatbestandlichen Voraussetzungen der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage gedeckt sind, lässt sich das Maß des dem Verordnungsgeber verbleibenden Handlungsspielraums nicht bestimmen, welchen er unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes ausfüllen kann.
bb) Im Übrigen lässt sich die Frage, ob die von Art. 2 I GG geschützte allgemeine Handlungsfreiheit verhältnismäßig eingegriffen wurde, nicht losgelöst von den gesetzlichen Bestimmungen beantworten, die zu dem Eingriff ermächtigen. Ob der Eingriff in die Handlungsfreiheit wegen schützenswerter öffentlicher Belange hinzunehmen ist, kann erst verlässlich beurteilt werden, wenn die durch die gesetzliche Ermächtigung geschützten Belange dargestellt und aufbereitet werden. Im angefochtenen Urteil hat das OVG zwar die verfassungsrechtlich geschützte Position des Ast. Belangen des Natur- und Landschaftsschutzgesetzes gegenübergestellt. Dass dies jedoch in Anwendung und Auslegung derjenigen gesetzlichen Bestimmungen geschehen ist, welche die Ermächtigungsgrundlagen für die Landschaftsschutzverordnung vom 25.9.1992 darstellen, geben die Ausführungen des OVG nicht hinreichend zu erkennen.
b) Der Senat entscheidet nicht in der Sache (§ 144 III 1 Nr. 1 VwGO). Die Begründetheit des Normenkontrollantrages beurteilt sich nach irrevisiblem Landesrecht. Der Auslegung und Anwendung des dazu berufenen OVG vorzugreifen, hält der Senat nicht für zweckmäßig (§ 173 VwGO i.V. mit § 565 IV ZPO). Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben.