BGH, 24.02.1982 - 3 StR 34/82
Der Inhaber einer Wohnung hat nicht ohne weiteres rechtlich dafür einzustehen, daß in seinen Räumen durch Dritte keine Straftaten begangen werden.
Tenor
Auf die Revisionen der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Wuppertal vom 12. Juni 1981, soweit es sie betrifft, mit den Feststellungen aufgehoben.
In diesem Umfang wird die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsmittel, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den früheren Mitangeklagten B. wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Entführung gegen den Willen der Entführten und gefährlicher Körperverletzung (§§ 177, 237, 223a, 52 StGB) zu sieben Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Insoweit ist das Urteil rechtskräftig. Die beschwerdeführenden Eheleute, wie B. türkische Staatsangehörige, hat das Landgericht wegen durch Unterlassung begangener Beihilfe zu der Tat B.'s zu je zehn Monaten Freiheitsstrafe verurteilt, deren Vollstreckung es zur Bewährung ausgesetzt hat.
Beide Revisionen haben mit der allein erhobenen Sachrüge Erfolg.
I.
Nach den Feststellungen hatte der Haupttäter B. die 18jährige Zeugin A., ebenfalls eine Türkin, am frühen Morgen des 29. Januar 1981 zusammen mit vier weiteren Männern - alle waren maskiert - in M. auf der Straße überfallen und unter Schlägen und sonstiger Gewaltanwendung mit einem Kraftwagen in die Wohnung seines Bruders M. entführt. Er hatte die Absicht, dort mit ihr - notfalls gewaltsam - geschlechtlich zu verkehren, um sie so seinem bisher vergeblich geäußerten Wunsch nach einer Heirat gefügig zu machen. Sein Plan war jedoch zunächst an der heftigen Gegenwehr der Zeugin gescheitert. Daraufhin hatte B. beschlossen, die Zeugin an einen anderen, sichereren Ort, nämlich in die Wohnung der beiden Angeklagten in S. zu transportieren, weil er das Dachgeschoß des von diesen als Mieter teilweise bewohnten kleinen Bergischen Hauses für den passenden Unterschlupf hielt, um sein Vorhaben zu Ende zu führen.
Spätestens zu diesem Zeitpunkt, als B. und einer seiner Helfer die gefesselte Zeugin, die fortwährend um Hilfe schrie und deren Augen verbunden waren, durch das Treppenhaus nach oben trugen, wurde der Angeklagte H. Ü., ein 41jähriger sehbehinderter Frührentner, aufmerksam. Er "fragte, wer das Mädchen sei und erhielt die Antwort, daß er dies nicht wissen könne". Im Dachgeschoß versuchte B. erneut, mit der Zeugin gewaltsam geschlechtlich zu verkehren; er schlug sie und trat sie mit dem Fuß. Als der Angeklagte dann im Dachgeschoß erschien, erzählte ihm die Zeugin das Vorgefallene und bat ihn um Hilfe. Daraufhin bedrohte B. den Angeklagten mit dem Tode. Dieser verließ die Räume im Dachgeschoß mit der Erklärung, er wolle seine Frau, die Angeklagte E. Ü., anrufen. Sie arbeitete in der Nähe und erschien um 9 Uhr - während der Frühstückspause - in der Wohnung. Die Zeugin erklärte ihr das bisher Vorgefallene und bat auch sie um Hilfe. "Die Angeklagte sagte Hilfe zu, erklärte jedoch, daß sie das jetzt noch nicht könne, sondern erst später ihre Eltern benachrichtigen werde". Mit einem feuchten Tuch reinigte sie lediglich das Gesicht der Zeugin von Blutspuren. Ferner saugte sie mit einem Staubsauger die Scherben einer bei den Auseinandersetzungen zerstörten Tischlampe auf. Nachdem B. auch sie mit Umbringen bedroht und überdies einen Aschenbecher nach ihr geworfen hatte, kehrte sie gegen 9.20 Uhr zu ihrer Arbeitsstelle zurück. Ebenso wie ihr Ehemann unternahm sie unter dem Eindruck der von B. ausgesprochenen Drohungen nichts, um die Zeugin zu befreien. Beiden Angeklagten war klar, daß B. die Zeugin gewaltsam entführt hatte, daß er unter Anwendung von Gewalt mit ihr geschlechtlich verkehren wollte und daß er sie auch weiterhin körperlich mißhandeln werde, und zwar in den Räumen der gemeinsamen Wohnung. "Sie nahmen billigend den weiteren Verlauf in Kauf, wohl wissend, daß sonstige Hilfe für das Mädchen nicht kommen würde". B. fesselte nun die Zeugin, die sich vorübergehend befreit hatte, erneut an den Händen, schlug wieder auf sie ein und erreichte schließlich sein Ziel, mit ihr gewaltsam den Geschlechtsverkehr auszuüben. Etwa eine halbe Stunde später - seit dem Weggang der angeklagten Ehefrau waren mehr als fünf Stunden vergangen - wurde die Zeugin von der Polizei, die anonym verständigt worden war, befreit.
II.
1. Das Landgericht beurteilt das Verhalten der Beschwerdeführer allein unter dem rechtlichen Gesichtspunkt einer Beihilfe durch Unterlassen. Die eine Garantenstellung begründende Rechtspflicht zum Handeln entnimmt es dem Umstand, daß "beide die Verfügungsgewalt über die von dem Angeklagten zu seiner Tat benutzten Räume besaßen". Hierfür stützt es sich in erster Linie auf die Senatsentscheidung BGHSt 27, 10. In dem damals entschiedenen Fall hatte der Angeklagte das Opfer indes in seine Wohnung aufgenommen und ihm deren Schutz zur Verfügung gestellt. Seine Garantenstellung ergab sich aus der so geschaffenen Vertrauensgrundlage. Ob der Wohnungsinhaber auch von solchen Personen, die ohne sein Zutun in die Wohnung gelangt sind, Gefahren abzuwenden hat, konnte der Senat in jenem Urteil offenlassen.
2. Nach § 13 Abs. 1 StGB ist derjenige, der es unterläßt, den zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehörenden Erfolg abzuwenden, nur dann strafbar, wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt; ferner muß das Unterlassen der Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entsprechen. Schon das erste dieser beiden Gleichstellungskriterien - eine aus rechtlich begründetem Einstehenmüssen für den Nichteintritt des Erfolges fließende Garantenstellung des Wohnungsinhabers für ein in seinen Räumen bedrohtes Rechtsgut - kann hier nicht angenommen werden.
Die Rechtsfigur der Garantenstellung ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Sie war schon vor Einführung des § 13 StGB durch Rechtsprechung und Lehre auf eine Reihe von Entstehungsgründen zurückgeführt worden, denen eine besondere Schutzfunktion des Garanten, sei es aus gesetzlicher Verpflichtung, sei es aus tatsächlicher Übernahme oder sei es aus einem gefahrschaffenden vorhergehenden Tun (Ingerenz), gemeinsam ist. Die bloße tatsächliche Möglichkeit, den Erfolg zu verhindern, oder eine sittliche Verpflichtung, dies zu tun, sind niemals als ausreichender Grund für die Annahme einer Garantenpflicht angesehen worden.
Eine Pflicht des Wohnungsinhabers, jede in seinen Räumen befindliche Person gegen Straftaten anderer Personen zu schützen, wird in einem Teil des Schrifttums daraus hergeleitet, daß die Rechtsordnung ihm das Grundrecht der Unverletzlichkeit seiner Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG) gewährt, die ein Eingreifen Dritter oder der Polizei erschwert (Art. 13 Abs. 2 GG, §§ 103, 104 StPO). Aus diesen besonderen Abwehrbefugnissen wird - als Reflex gesteigerter Rechte (Blei, Strafrecht AT 17. Aufl. S. 295) - auf entsprechende Schutzpflichten des so Privilegierten geschlossen (Blei a.a.O. und JA 1977, 138; Böhm, Die Rechtspflicht zum Handeln bei den unechten Unterlassungsdelikten S. 68 ff.; Preisendanz, Lehrk. zum Strafgesetzbuch 30. Aufl. S. 77; vgl. auch Bockelmann, Strafrecht AT 3. Aufl. S. 142). Indes fehlt diesem Schluß die Berechtigung. Hinzuweisen ist zunächst darauf, daß der Schutz des Hausrechts bei unmittelbar bevorstehenden schweren Straftaten, wie sich aus Artikel 13 Abs. 3 GG ergibt, ohnehin nicht besteht (Schünemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte S. 362). Zu bedenken ist weiter, daß die genannte Auffassung jeden Wohnungsinhaber ohne weiteres in die Rolle des Beschützers in seiner Wohnung befindlicher Menschen und in die einer Aufsichtsperson gegenüber denjenigen von ihnen zwingt, die andere in ihrer körperlichen Unversehrtheit angreifen, ohne daß hierfür eine alle gleichermaßen verpflichtende Rechtsgrundlage ersichtlich wäre und ohne daß der Wohnungsinhaber etwas anderes dazu beigetragen hätte als das Anmieten oder Innehaben seiner Wohnung. Aus dem Verfehlen dieser Rolle, die ihm ohne Rücksicht auf Verschulden oder auch nur Verursachen der entstandenen Gefahr für andere zugewiesen wird, soll ihm sodann eine strafrechtliche Haftung für die in seinen Räumen geschehene Rechtsgutsverletzung auferlegt werden. Diese weitgehende Gleichstellung des bloß untätig bleibenden Wohnungsinhabers mit dem eigentlichen Rechtsverletzer, durch die er zu dessen Komplizen wird, ist mit dem Sinn der Garantenhaftung, die ein "Einstehenmüssen" für die Unversehrtheit des zu schützenden Rechtsgutes voraussetzt, nicht mehr zu vereinbaren. Sie dehnt den Bereich der mit strafrechtlichen Haftungsfolgen versehenen Handlungspflichten in den Bereich bloß sittlicher Pflichten, wie sie hier sicher gegeben waren, in unzulässiger Weise aus. Das gilt auch dann, wenn man eine zunächst angenommene sozialethische Pflicht, alle Rechtsgüter in der Wohnung zu schützen, nur insoweit zur Rechtspflicht werden läßt, als der Sinn und Zweck der Wohnung, Menschen und Sachen physischen Schutz zu gewähren, dies deckt (vgl. Bärwinkel, Zur Struktur der Garantieverhältnisse bei den unechten Unterlassungsdelikten S. 144 ff.).
Eine allein aus der Eigenschaft als Wohnungsinhaber abgeleitete Garantenstellung wird denn auch in der Rechtslehre überwiegend abgelehnt (Jescheck in LK 10. Aufl. 13 Rn. 44; Stree in Schönke/Schröder, StGB 20. Aufl. 13 Rn. 54; Rudolphi in SK § 13 Rdn. 37; Schünemann a.a.O. S. 361; Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip S. 332 ff.; Tenckhoff JuS 1978, 308; vgl. auch Pfleiderer, Die Garantenstellung aus vorangegangenem Tun S. 131 f.; Naucke JR 1977, 290; Hassemer JuS 1977, 266). Auch die Rechtsprechung hat den Inhaber einer Wohnung oder sonstiger Räume nur dann für in diesen Räumen begangene Rechtsgutsverletzungen strafrechtlich haftbar gemacht, wenn besondere Umstände hinzutreten, die eine Rechtspflicht zum Handeln begründen. Solche Umstände sind in der Stellung als Haushaltsvorstand gegenüber der Täterin einer Kindstötung (RGSt 72, 373; OGHSt 1, 87), in der Stellung als Ehemann einer Abtreiberin (BGH LM Nr. 5 zu § 47 StGB a.F. = NJW 1953, 591; BGH GA 1967, 115), ferner in dem Betreiben einer Gaststätte (RGSt 58, 299; BGH NJW 1966, 1763; abw. BGH GA 1971, 336, wo in einem ähnlich gelagerten Fall nur auf den rechtlichen Gesichtspunkt der unterlassenen Hilfeleistung abgehoben wird) und, in dem eingangs (II 1) erwähnten Fall BGHSt 27, 10, in der Aufnahme des Opfers in den Schutzbereich der Wohnung gesehen worden.
Eine Garantenpflicht des Wohnungsinhabers kann sich allerdings dann ergeben, wenn die Wohnung wegen ihrer besonderen Beschaffenheit oder Lage eine Gefahrenquelle darstellt, die er so zu sichern und zu überwachen hat, daß sie nicht zum Mittel für die leichtere Ausführung von Straftaten gemacht werden kann (Jescheck a.a.O., Stree a.a.O. Rn. 47; Rudolphi a.a.O.; Schmidhäuser, Strafrecht AT 2. Aufl. S. 675; Herzberg a.a.O. S. 331, 334; Pfleiderer a.a.O. S. 130; Tenckhoff a.a.O.; Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht AT Tlbd. 2 5. Aufl. S. 154). Ob die Wohnung der Angeklagten - über ihre Eigenschaft als Wohnung und damit als nach außen abgeschirmter, der Wahrnehmung dort geschehender Vorgänge von außen entzogener Bereich hinaus - in diesem Sinne eine besondere Gefahrenquelle darstellt, ist den bisherigen Feststellungen des Landgerichts indes nicht zu entnehmen.
3. Die nach alledem unzutreffende Annahme einer Garantenpflicht durch das Landgericht führt zur Aufhebung des Urteils.
In der neuen Hauptverhandlung wird der Tatrichter auch Gelegenheit haben, der Frage nachzugehen, ob die Angeklagten die Straftaten B.'s etwa durch positives Tun gefördert haben. Es fällt auf, daß das Landgericht sich zu der Bedeutung seiner Feststellung, sowohl B. als auch eine draußen gebliebene Person hätten einen Schlüssel zu dem von außen verschlossenen Tatzimmer besessen, nicht geäußert hat. In ihr könnte ein Hinweis auf einverständliches Handeln des angeklagten Ehemannes gefunden werden. Auch das Verhalten der angeklagten Ehefrau auf die Bitte des Opfers um Hilfe hin ist in dem angefochtenen Urteil nicht erschöpfend gewürdigt worden. Es erscheint nicht ohne weiteres ausgeschlossen, daß der Haupttäter durch die Ankündigung, die Eltern des Opfers erst später zu benachrichtigen, und durch das im Hinblick auf das Gesamtgeschehen kaum verständliche Säubern der Wohnung, durch welche das Schicksal des Opfers als in den Augen der angeklagten Ehefrau nebensächlich erschien, in seinem Sicherheitsgefühl und damit in seinem Willen, seine Tat zu vollenden, bestärkt worden ist, und daß die Angeklagte dies erkannt hat.
Sollte die neue Hauptverhandlung wiederum zu Feststellungen führen, die eine Verurteilung wegen Beteiligung an der Tat B.'s nicht zulassen, so wird das Landgericht zu prüfen haben, ob die Angeklagten der unterlassenen Hilfeleistung schuldig sind. Die Vergewaltigung einer Frau ist in der Rechtsprechung als Unglücksfall i.S.d. § 323c StGB anerkannt (BGHSt 3, 65 [66]; BGH GA 1971, 336).