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RG, 03.01.1923 - IV 529/22

Daten
Fall: 
Memel
Fundstellen: 
RGSt 57, 172
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
03.01.1923
Aktenzeichen: 
IV 529/22
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Tilsit
Stichwörter: 
  • Fahrlässigkeit.

Genügt für die Annahme von Fahrlässigkeit im Sinne des § 222 StGB. das Bewußtsein des Täters, daß seine Handlung das Leben eines anderen gefährdet?

Gründe

Zur Begründung der Annahme, daß der Angeklagte den Tod des Sch. und des L. durch seine Fahrlässigkeit verursacht habe, führt die Strafkammer aus, der Angeklagte sei sich bewußt gewesen, daß die Überfahrt bei dem stürmischen Wetter und dem Hochwasser der Memel sehr gefährlich sei; er habe mit der Möglichkeit, dass der Kahn infolge dieser Umstände umkippen oder voller Wasser schlagen werde, rechnen müssen und von vornherein deutlich erkannt, dass er die Fahrt nicht wagen dürfe, ohne das Leben des Sch. und des L. ebenso wie sein eigenes auf das Spiel zu setzen, sich aber trotz dieser Bedenken aus Gefälligkeit und Ehrgeiz zu der Fahrt bereit gefunden und durch die Hergabe seines Kahnes die Verantwortung für das Unternehmen auf sich geladen.

Diese Erwägungen vermögen indessen die gefällte Entscheidung nicht zu tragen.

Der Umstand allein, dass die Überfahrt nach Lage der Verhältnisse lebensgefährlich war und der Angeklagte dies erkannt, begründet noch keine Fahrlässigkeit des Angeklagten. Nach der Auffassen des Strafgesetzbuchs bildet die Fahrlässigkeit ebenso wie der Vorsatz eine Form der strafrechtlichen Schuld, nur besteht bei dem Vorsatz das Verschulden in der gewollten, bei der Fahrlässigkeit in der ungewollte, aber durch pflichtwidrige Unaufmerksamkeit herbeigeführten Verletzung der Rechtsordnung. Immer bedarf es also für den Nachweis der Fahrlässigkeit der Darlegung, dass der Täter irgendwelche ihm durch die Rechtsordnung auferlegten Pflichten verletzt habe (vgl. RGSt Bd. 30 S. 25, Bd. 36 S. 78). Nicht jede Vornahme einer gefährlichen Handlung enthält aber schon als solche, nur um dieser ihr innewohnenden Gefährlichkeit willen eine Pflichtwidrigkeit; die kann vielmehr je nach den Umständen pflichtgemäß oder, obschon durch keine Pflicht geboten, so doch auch keiner Pflicht widersprechend sein. So sind zahlreiche Operationen, die der Arzt zur Behebung einer Krankheit pflichtgemäß ausführen muß, mit Lebensgefahr für den Kranken verbunden; ebenso erfordern Wissenschaft und Technik - man denke z.B. an chemische Versuche und solche mit Flugzeugen - häufig die Vornahme von Handlungen, die erhebliche Gefahren für Leib und Leben sowohl des Handelnden selbst als dritter Personen in sich schließen.

Es kommt daher für die Frage, ob der Angeklagte fahrlässig gehandelt hat, darauf an, ob er durch sein Eingehen auf das Verlangen des Sch. und des L. irgendwie pflichtwidrig gehandelt hat, ob er also, da ein von ihm übertretenes Rechtsverbot nicht in Frage steht, durch seine Handlungsweise die durch das menschliche Zusammenlegen allgemein gebotene Rücksicht auf Gesundheit und Leben beider aus den Augen setzte. Diese Frage muß jedoch verneint werden. Nach der tatsächlichen Feststellung der Strafkammer ist die Überfahrt auf den eigenen Wunsch des Sch. und des L. und lediglich in ihrem Interesse unternommen werden. Beiden wahren erwachsene und verständige Männer, die daß Gefährliche der beabsichtigten Fahrt vollständig und in genau demselben Maße wie der Angeklagte übersahen. Irgendwelche Tatsachen, die diesem eine Obhut oder Fürsorge hinsichtlich beider auferlegt hätten, wie sie unter Umständen aus dem Begehen eines Vormundschafts- oder Pflegschaftsverhältnisses, aus dem Unterschied der Einsicht und Erfahrung oder der Lebensjahre und ähnlichem mehr entnommen werden könnten, sind nicht erkennbar. Der Angeklagte hat auch nichts getan, die beiden über die Gefährlichkeit ihres Beginnens zu täuschen, noch sich vorschnell aus Übermut oder Gleichgültigkeit um persönlicher Vorteile willen auf ihr Ansuchen eingelassen, er hat vielmehr beide auf das Gefährliche des Unternehmens wiederholt und nachdrücklich hingewiesen, sie davon abzuhalten gesucht und erst auf ihr unausgesetzes Drängen und, als sie seinen persönlichen Mut in Zweifel zogen, widerwillig nachgegeben und aus Gutmütigkeit, um ihnen gefällig zu sein, sein eigenes Leben mit auf das Spiel gesetzt. Darin liegt keine Pflichtwidrigkeit.

Ein Verschulden würde hiernach den Angeklagten nur treffen, wenn er bei der Ausführung des Unternehmens die ihm als dem Leiter der Fahrt und Lenker des Kahnes obliegende Aufmerksamkeit und Sorgfalt vernachlässigt hätte. Dafür gewährt indessen der von der Strafkammer festgestellte Tatbestand keinen Anhalt; im Gegenteil geht die Strafkammer ersichtlich davon aus, daß der Unfall lediglich durch das kopflose und zweckwidrige Verhalten des L. verursacht ist, der bei dem Hineinschlagen der ersten Sturzwelle in den Kahn auf der Rückfahrt von seinem Sitz aufsprang und den Anweisungen des Angeklagten sich wieder hinzusetzen nicht nachkam.

Das angefochtene Urteil ließ sich somit nicht aufrecht erhalten, vielmehr mußte es aufgehoben und der Angeklagte, da eine weitere ihm nachteilige Aufklärung des Sachverhalts ausgeschlossen erscheint, alsbald freigesprochen werden.

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RG, 03.01.1923 - IV 52922 - RGSt 57, 172.pdf115.17 KB