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BVerfG, 03.05.1966 - 1 BvR 58/66

Daten
Fall: 
Kommando 1005
Fundstellen: 
BVerfGE 20, 45; JZ 1966, 486; MDR 1966, 651; NJW 1966, 1259
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
03.05.1966
Aktenzeichen: 
1 BvR 58/66
Entscheidungstyp: 
Beschluss
Instanzen: 
  • OLG Stuttgart, 30.09.1966 - 1 HEs 8/65

Eine Untersuchungshaft von über fünf Jahren ist jedenfalls dann verfassungswidrig, wenn sie auf vermeidbare Verzögerungen der Strafrechtspflege zurückzuführen ist.

Inhaltsverzeichnis 

Beschluß

des Ersten Senats vom 3. Mai 1966
- 1 BvR 58/66 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Kriminalobermeisters im Ruhestand ... - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte... - gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 27. Dezember 1965 - 1 HEs 8/65 -.
Entscheidungsformel:

1. Der Beschluß des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 27. Dezember 1965 - 1 HEs 8/65 - verletzt das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes. Er wird aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Stuttgart zurückverwiesen.
2. Damit ist der Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung gegenstandslos.

Gründe

I.

Das Amtsgericht Waldshut erließ gegen den Beschwerdeführer am 24. März 1961 einen Haftbefehl, weil er dringend verdächtig sei, in bewußtem und gewolltem Zusammenwirken mit anderen im Laufe des Jahres 1943 eine große, zahlenmäßig noch nicht festgestellte Zahl Menschen jüdischen Glaubens, darunter Kinder und Kleinkinder, durch Schüsse in den Kopf mit einer Maschinenpistole getötet zu haben. Er sei damals Angehöriger der Gestapo Lemberg und des Kommandos 1005 gewesen. Auf Grund jeweils neu gefaßten Willensentschlusses habe er gemeinschaftlich aus Mordlust, grausam und aus niedrigen Beweggründen Menschen getötet. Im Hinblick auf die zu erwartende Strafe bestehe Fluchtverdacht.

Auf Grund dieses Haftbefehls wurde der Beschwerdeführer am 17. April 1961 verhaftet. Seine Beschwerde verwarf das Landgericht Waldshut durch Beschluß vom 20. April 1961 mit der Maßgabe, daß die Untersuchungshaft auch wegen Verdunkelungsgefahr angeordnet werde.

Am 3. April 1962 ist die gerichtliche Voruntersuchung beim nunmehr zuständigen Landgericht Stuttgart eröffnet worden. Gegenstand des Verfahrens, das sich gegen 35 Angeschuldigte richtete, war zunächst der gesamte Komplex "NS-Gewaltverbrechen in Galizien". Am 2. Juli 1962 wurde das Gesamtverfahren in zwei Teile aufgespalten: den sog. Tarnopol-Komplex und den sog. Lemberg-Komplex, die aber beide von demselben Staatsanwalt und demselben Untersuchungsrichter bearbeitet worden sind. Über die Verbrechen im sog. Tarnopol-Komplex wird seit dem 19. Oktober 1965 vor dem Schwurgericht verhandelt. In dem sog. Lemberg-Komplex hat die Staatsanwaltschaft gegen den Beschwerdeführer am 10. März 1965 wegen 10 rechtlich selbständiger Verbrechen des - teils mehrfachen - Mordes bzw. der Beihilfe zum Mord Anklage erhoben; das Landgericht hat am 17. Januar 1966 das Hauptverfahren vor dem Schwurgericht eröffnet.

Durch Beschluß vom 27. Dezember 1965 ordnete das Oberlandesgericht Stuttgart hinsichtlich des Beschwerdeführers und mehrerer in demselben Verfahren Angeschuldigter erneut die Fortdauer der Untersuchungshaft an. Dringender Tatverdacht und Haftgrund seien nach wie vor gegeben. Obwohl mit der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens erst im Januar 1966 und mit dem Beginn der Hauptverhandlung erst im Oktober 1966 zu rechnen sei und der Beschwerdeführer bis dahin rund 5+ Jahre in Untersuchungshaft gehalten werde, dauere die Untersuchungshaft angesichts der schweren Anklagen noch nicht so lange, daß trotz des Umfanges und des rechtlichen Gewichts der Sache die weitere Haft nicht mehr gerechtfertigt werden könnte.

Vier weitere Angeklagte desselben Verfahrens, die bereits im Jahre 1960 verhaftet worden waren, hat das Oberlandesgericht durch Beschluß vom gleichen Tage im Hinblick auf die Dauer der Untersuchungshaft vom weiteren Vollzug der gegen sie ergangenen Haftbefehle verschont. Von den 17 Angeklagten des auch den Beschwerdeführer betreffenden Verfahrens befinden sich jetzt nur noch sieben in Untersuchungshaft.

II.

Mit der gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts erhobenen Verfassungsbeschwerde rügt der Beschwerdeführer Verletzung der Art. 1 Abs. 1, Art. 2 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 19 Abs. 2, Art. 3 Abs. 1 GG und der Art. 5 Abs. 3 Satz 2, Art. 6 Abs. 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Er wendet sich gegen die seiner Ansicht nach unangemessene Dauer der Untersuchungshaft. Gleichzeitig hat er beantragt, im Wege einstweiliger Anordnung den Haftbefehl des Amtsgerichts Waldshut vom 24. März 1961 und den Beschluß des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 27. Dezember 1965 aufzuheben und, notfalls gegen Sicherheitsleistung von 25 000 DM und unter Auflagen, den Beschwerdeführer aus der Haft zu entlassen oder Haftaussetzung zu gewähren. Zur Begründung führt er aus:

1. Er sei in seinem Grundrecht der persönlichen Freiheit verletzt, das übrigens eine besondere Ausgestaltung in Art. 5 Abs. 3 Satz 2 und Art. 6 Abs. 1 Satz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention erhalten habe, weil die gegen ihn verhängte Freiheitsbeschränkung ein Ausmaß erreiche, das seine Menschenwürde verletze. Untersuchungshaft sei nur insoweit zulässig, als die Notwendigkeiten staatlicher Rechtspflege sie unbedingt erforderlich machten.

Das Oberlandesgericht habe zwar angenommen, der Beschwerdeführer müsse wegen der ihm zur Last gelegten schweren Verbrechen, deren er dringend verdächtig sei, mit einer schweren Strafe rechnen. Die Grenze für die Dauer der Untersuchungshaft werde eindeutig überschritten, wenn der Beginn der Hauptverhandlung erst 6 Jahre nach der Verhaftung zu erwarten sei. Die Strafverfolgungsbehörden hätten ihm gegenüber eine "schleppende Tätigkeit" entfaltet. Nur ein Staatsanwalt habe das sehr umfangreiche Lemberg-Verfahren und gleichzeitig das ebenso umfangreiche Tarnopol-Verfahren bearbeitet; auch sei die gerichtliche Voruntersuchung nur von einem Untersuchungsrichter geführt worden. Nur deshalb habe die gerichtliche Voruntersuchung rund 2+ Jahre beansprucht. Nach Erhebung der Anklage habe die Strafkammer wiederum etwa 10-11 Monate für die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens benötigt, weil sie gleichzeitig über die Eröffnung des Tarnopol-Verfahrens habe entscheiden müssen. Die Hauptverhandlung sei erst für einen Zeitpunkt nach Abschluß des Tarnopol-Verfahrens in Aussicht genommen, weil derselbe Berichterstatter für beide Verfahren zuständig sei.

2. Der Gleichheitssatz sei dadurch verletzt, daß von 17 Angeschuldigten nur noch 7 in Haft gehalten würden, obwohl Gründe für eine unterschiedliche Behandlung nicht ersichtlich seien. Grund der Entlassung einiger Angeschuldigter sei vornehmlich ihr Gesundheitszustand. Aber auch die Gesundheit des Beschwerdeführers und sein Alter rechtfertigten die Aufhebung des Haftbefehls.

3. Schließlich bestünden Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 112 Abs. 4 StPO. Diese Vorschrift sehe praktisch eine "Verdachtsstrafe" vor und sei deshalb rechtsstaatswidrig.

III.

Der Justizminister des Landes Baden-Württemberg bestätigt im wesentlichen das tatsächliche Vorbringen des Beschwerdeführers. Zu den verfassungsrechtlichen Fragen hat er nicht Stellung genommen. Der Bundesminister der Justiz hat auf eine Äußerung verzichtet.

IV.

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

1. In dem Rechtsinstitut der Untersuchungshaft wird das Spannungsverhältnis zwischen dem Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit (Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 GG) und den Bedürfnissen einer wirksamen Verbrechensbekämpfung deutlich sichtbar. Ein gerechter Ausgleich dieser Spannung läßt sich im Rechtsstaat nur dadurch erreichen, daß den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen der grundrechtlich verbürgte Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten und daher noch als unschuldig geltenden Beschuldigten als Korrektiv ständig entgegengehalten wird. Das bedeutet, daß der Eingriff in die Freiheit nur hinzunehmen ist, wenn und soweit der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als durch vorläufige Inhaftierung eines Verdächtigen (BVerfGE 19, 342 [347 f.]).

2. Dieser verfassungsrechtliche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist nicht nur für die Anordnung, sondern auch für die Dauer der Untersuchungshaft von Bedeutung. Vor allem darf die Untersuchungshaft hinsichtlich ihrer Dauer nicht außer Verhältnis zu der voraussichtlich zu erwartenden Strafe stehen. Unabhängig von der zu erwartenden Strafe setzt aber der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Haftdauer Grenzen. Dem trägt § 121 StPO Rechnung, wenn er bestimmt, daß der Vollzug der Untersuchungshaft vor Ergehen eines Urteils wegen derselben Tat über 6 Monate hinaus nur aufrechterhalten werden darf, wenn die besondere Schwierigkeit oder der besondere Umfang der Ermittlungen oder ein anderer wichtiger Grund das Urteil noch nicht zulassen und die Fortdauer der Haft rechtfertigen. Diese Vorschrift läßt also nur in begrenztem Umfange Ausnahmen zu; die Ausnahmetatbestände des § 121 Abs. 1 StPO sind, wie aus dem Wortlaut ersichtlich ist und durch die Entstehungsgeschichte bestätigt wird, eng auszulegen. Welche Bedeutung der Gesetzgeber der Entscheidung über Erstreckung der Untersuchungshaft über 6 Monate hinaus beigemessen hat, ergibt sich auch daraus, daß er diese Entscheidung dem Oberlandesgericht übertragen hat (vgl. BGH NJW 1966 S. 924).

Ob das Grundgesetz - wie der Beschwerdeführer meint- eine absolute Grenze für die Untersuchungshaft fordert, die nach Ablauf einer kalendermäßig bestimmten Zeit eine Fortdauer der Inhaftierung schlechthin verbietet, braucht im vorliegenden Fall nicht entschieden zu werden. Jedenfalls verstößt der weitere Vollzug der Untersuchungshaft, welche die in § 121 Abs. 1 StPO bestimmte Frist in so ungewöhnlichem Maße überschreitet, dann gegen Art. 2 Abs. 2 GG, wenn die Überschreitung dadurch verursacht ist, daß die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte nicht alle möglichen und zumutbaren Maßnahmen ergriffen haben, um die notwendigen Ermittlungen mit der gebotenen Schnelligkeit abzuschließen. Denn zur Durchführung eines geordneten Strafverfahrens und Sicherstellung der späteren Strafvollstreckung im Sinne des vorgenannten Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts kann die Untersuchungshaft dann nicht mehr als notwendig anerkannt werden, wenn ihre Fortdauer durch vermeidbare Verzögerung der Ermittlungen verursacht ist.

Die Ermittlungen gegen den Beschwerdeführer sind nicht ohne solche Verzögerung geführt worden. Obwohl der Umfang des Sachverhalts und die Schwierigkeiten der Ermittlungen schon in einem früheren Stadium des Verfahrens erkennbar sein mußten, ist der Gesamtkomplex "NS-Gewaltverbrechen in Galizien" bei der Staatsanwaltschaft zunächst als ein Ermittlungsverfahren von einem Staatsanwalt bearbeitet worden. Auch nach der Teilung des Verfahrens im Rahmen der gerichtlichen Voruntersuchung durch das Landgericht ist es bei der Zuständigkeit eines Staatsanwaltes geblieben. Jedenfalls nach Abschluß der Voruntersuchung im Jahre 1964 hätte es nahegelegen, diese Arbeit auf mehrere Staatsanwälte zu verteilen. Wenn rechtzeitig von den im Gerichtsverfassungsgesetz bei Überlastung einer Kammer vorgesehenen Möglichkeiten Gebrauch gemacht und entsprechende Maßnahmen der Justizverwaltung getroffen worden wären, dann hätte nach Überzeugung des Bundesverfassungsgerichts eine wesentliche Verkürzung des vorliegenden Verfahrens erreicht werden können. Gründe, die eine andere Beurteilung zulassen würden, sind nicht dargetan. Dabei kann die Dauer der Untersuchungshaft nur als Ganzes gesehen werden.

Versäumnisse der Strafrechtspflege dürfen auch dann nicht zu Lasten eines Angeschuldigten gehen, wenn er dringend verdächtig ist, an der Ausrottung eines Bevölkerungsteils mitgewirkt zu haben. Da nicht alles geschehen ist, um die Ermittlungen und das Strafverfahren möglichst schnell abzuschließen, so daß der Beschwerdeführer nunmehr seit über 5 Jahren in Untersuchungshaft gehalten wird, würde sein Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG verletzt, wenn er weiter inhaftiert bliebe. Dies hat das Oberlandesgericht in dem angefochtenen Beschluß verkannt. Sein Hinweis auf den gesetzgeberischen Grund des § 112 Abs. 4 StPO geht fehl (vgl. BVerfGE 19, 342 [350]). Der Beschluß ist daher aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).