BGH, 21.03.1996 - 5 StR 432/95
Einschränkung der Notwehr in einem Fall sozialethisch zu beanstandenden Vorverhaltens.
Gründe
Der Sohn des Nebenklägers, Si, der sich zuletzt "J" genannt hat, ist infolge eines Messerstiches, den ihm der Angeklagte beigebracht hatte, zu Tode gekommen. Der Angeklagte wurde wegen Totschlages angeklagt. Das Landgericht hat ihn freigesprochen; es nimmt an, daß das Verhalten des Angeklagten den Tatbestand der Körperverletzung mit Todesfolge verwirkliche, jedoch wegen Notwehr gerechtfertigt sei.
Die Revision des Nebenklägers wendet sich gegen den Freispruch. Sie ist zulässig. Der Senat hat sich freibeweislich davon überzeugt, daß der Vater des Getöteten Hamburger Rechtsanwälte über einen in Hamburg lebenden Mittelsmann zur Einlegung und Begründung der Revision bevollmächtigt hat.
Das Rechtsmittel ist auch begründet.
I.
Auf die Verfahrensrüge kommt es nicht an, weil das Urteil aus sachlichrechtlichen Gründen aufzuheben ist. Die bisherigen Feststellungen tragen nicht die Anwendung des § 32 StGB (Notwehr).
1. Der damals 54 Jahre alte Angeklagte benutzte am Nachmittag des 7. Dezember 1993 für die Heimfahrt von der Arbeit einen Eilzug, der die Strecke von Hamburg nach B, dem Wohnort des Angeklagten, in 24 Minuten zurücklegt. Der Angeklagte fuhr in einem Abteil der 1. Wagenklasse. Der Zug war überfüllt; Fahrgäste, die in der 2. Klasse keinen Sitzplatz gefunden hatten, standen auf dem Gang vor der Tür des Abteils, in dem der Angeklagte am Fenster saß. In diesem Abteil befand sich außer dem Angeklagten nur der 19 oder 24 Jahre alte J. Dieser saß an der Tür zum Gang. Als nach dem Zwischenhalt in Hamburg-Harburg die Fahrkarten kontrolliert wurden, kaufte J eine Fahrkarte für die 2. Klasse. Er verließ auf Aufforderung des Kontrolleurs das Abteil, kehrte jedoch kurz darauf an seinen alten Platz zurück. Er war durch Alkohol leicht bis mittelgradig berauscht und hatte eine geöffnete Bierdose bei sich; Biergeruch breitete sich im Abteil aus. Der Angeklagte wollte allein in dem Abteil sein; er fühlte sich von J gestört. Er entschloß sich, ihn mit Kaltluft aus dem Abteil "herauszuekeln". Er öffnete das Fenster. J, der am Oberkörper nur mit einer Jacke und darunter mit drei T-Shirts und einem Hemd bekleidet war, fror, stand auf und machte das Fenster zu. Der Angeklagte öffnete erneut das Fenster, das sodann wieder von J geschlossen wurde. Dieser Vorgang wiederholte sich weiterhin, wobei es zu einem Wortstreit kam, bei dem J immer lauter wurde. Nachdem der Angeklagte das Fenster zum dritten Mal geöffnet hatte, drohte J, der das Fenster abermals zumachte, dem Angeklagten mit erhobener Faust Schläge für den Fall an, daß das Fenster noch einmal geöffnet würde. Der Angeklagte zog aus der Tasche seiner links neben ihm hängenden Jacke ein Fahrtenmesser "etwas aus der Scheide heraus", so daß die Klinge sichtbar wurde. Er wollte J zeigen, daß ihm ein Messer zur Verteidigung gegen Tätlichkeiten zur Verfügung stehe. Der Angeklagte nahm an, daß J das Messer sah; ob es sich wirklich so verhielt, ist ungeklärt.
Das Abteil wurde von innen nur durch die Notbeleuchtung erhellt. Doch fiel aus dem Gang, in dem man lesen konnte, durch die von Vorhängen nicht oder nur zum kleinen Teil bedeckten Fenster Licht in das Abteil; Licht kam auch durch die Außenfenster, weil der Zug, der sich dem Wohnort des Angeklagten näherte, "an immer mehr beleuchteten Häusern und Lichtquellen" vorbeifuhr. In der Annahme, das Messer werde J von Tätlichkeiten abschrecken, machte der Angeklagte erneut das Fenster auf; anschließend nahm er wieder seine halb liegende Position ein, bei der sich seine Beine auf dem gegenüberliegenden Sitz befanden.
Nun sprang J auf. Er ging auf den Angeklagten zu, um seine Drohung wahrzumachen und ihm Faustschläge zu versetzen. J faßte mit beiden Händen in das Gesicht des Angeklagten. Dieser hatte den Eindruck, J wolle ihm "an den Hals gehen". Der Angeklagte hatte - nicht ausschließbar - keine Zeit mehr zum Aufstehen (UA S. 26). Er holte sein Fahrtenmesser aus der neben ihm hängenden Jacke und stach damit dem über ihn gebeugten J "ungezielt in einer Aufwärtsbewegung" acht bis zehn Zentimeter tief in den Oberbauch.
J wich sodann etwas zurück. Der Angeklagte konnte "nunmehr" aufstehen. Zwischen ihm und J kam es innerhalb des Abteils zu einem Kampf. Dabei stach der Angeklagte mit dem Fahrtenmesser fünf bis sechs Zentimeter tief in den Nacken des J; auch fügte er J zwei Schnittverletzungen am Hinterkopf zu. Ferner versetzte der Angeklagte dem J einen Boxhieb in die Magengegend. Die Einzelheiten sind ungeklärt geblieben. J wollte sich in den Besitz des Messers setzen; denn er wollte entweder weitere Stiche von sich abwenden oder aus Wut über die Verletzung "selbst mit dem Messer kämpfen". Der Angeklagte wollte das Messer behalten und sich dem "fortdauernden Angriff" des J widersetzen. Schließlich stürzten beide auf den Sitz an der Abteiltür. J verletzte sich die Hand, als er den Arm des über ihm befindlichen Angeklagten nach oben drückte und dabei in das Messer griff, das der Angeklagte noch immer in der Hand hatte.
In dieser Phase des Geschehens trat der Zeuge F in das Abteil ein. Er trennte die Kämpfenden, "wozu er keine große Kraft aufwenden mußte". Der Zeuge und die anderen vor der Abteiltür stehenden Reisenden hatten, nachdem die Kampfgeräusche lauter geworden waren, "immer entsetzter" in das Abteil geblickt. J hatte zuletzt mit den Worten "he is killing me" um Hilfe gerufen. Schreien und ein Stöhnen hatten auch weiter entfernt stehende Reisende gehört. Vorher hatte der Zeuge F, der nicht in das Abteil hineinsehen konnte, die "immer lauter werdende Stimme" des J gehört, während ein anderer Reisender, der Zeuge B, das Öffnen und Schließen des Fensters sowie das Vorzeigen des Messers durch den Angeklagten beobachten konnte. Den Stich in den Oberbauch und das ihm unmittelbar vorangegangene Verhalten des J konnte der Zeuge B dagegen nicht sehen, weil J Körper zu diesem Zeitpunkt die Sicht auf den Angeklagten versperrte (UA S. 26).
J ist am späten Abend desselben Tages an den Folgen des Stiches in den Oberbauch verstorben.
2. Das Landgericht hält einen Tötungsvorsatz des Angeklagten nicht für bewiesen. Die hiernach anzunehmende Körperverletzung mit Todesfolge (§ 226 StGB) ist nach Ansicht des Tatrichters durch Notwehr gerechtfertigt, weil J, indem er sich zum Schlagen anschickte, den Angeklagten rechtswidrig angegriffen hat und weil sein Angriff während der gesamten körperlichen Auseinandersetzung fortdauerte. Das Landgericht hält die Verteidigung durch Messerstiche, auch durch den Stich in den Oberbauch, für erforderlich im Sinne des § 32 StGB: Der Angeklagte habe keine andere genügend sichere Möglichkeit gehabt, den Angriff zu beenden. Eine bloße Bedrohung des J mit gezogenem Messer sei unter den gegebenen Umständen nicht erfolgversprechend gewesen. Der Angeklagte sei nicht verpflichtet gewesen, sich, statt zuzustechen, auf eine Schlägerei einzulassen oder seine Stiche allein auf Arme oder Beine zu richten. Das provozierende, "unsoziale" und sozialethisch zu mißbilligende Vorverhalten des Angeklagten habe sein Notwehrrecht nicht eingeschränkt.
II.
Ein lebensgefährlicher Messerstich, zumal ein Stich in den Oberbauch, darf, solange der Angreifer nicht seinerseits das Leben des Verteidigers unmittelbar bedroht, nur in Ausnahmefällen als letztes Mittel der Verteidigung eingesetzt werden. Voraussetzung der Rechtfertigung ist grundsätzlich, daß schonendere Möglichkeiten der Verteidigung nicht in gleicher Weise die Gefahr zu beseitigen vermögen (BGHSt 26, 143, 146; BGH NStZ 1996, 29 [BGH 11.09.1995 - 4 StR 294/95]; BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 1, Verhältnismäßigkeit 2, Verteidigung 6; BGHR StGB § 32 Abs. 1 Putativnotwehr 2). Bei der Wahl eines lebensgefährlichen Verteidigungsmittels muß sich der Angegriffene eine besondere Zurückhaltung auferlegen, wenn er die Auseinandersetzung schuldhaft provoziert hat (BGH StGB § 32 Abs. 2 Verteidigung 1). In solchen Fällen ist dem Angegriffenen zuzumuten, dem Angriff nach Möglichkeit auszuweichen (BGHR StGB § 32 Abs. 2 Verteidigung 1-5, 9, 11). Steht fremde Hilfe - auch privater Art - zur Verfügung, so hat er auf sie zurückzugreifen. Bei besonders gewichtiger Provokation kann der Verteidiger verpflichtet sein, das Risiko hinzunehmen, das mit der Wahl des minder gefährlichen Abwehrmittels verbunden ist (BGHSt 24, 356, 359; 39, 374, 379) [BGH 26.10.1993 - 5 StR 493/93]. Allerdings ist in den Fällen der Provokation das Notwehrrecht immer nur eingeschränkt; einen vollständigen Ausschluß oder eine zeitlich unbegrenzte Ausdehnung der Einschränkungen erkennt die Rechtsprechung nicht an (BGHSt 39, 374, 379 [BGH 26.10.1993 - 5 StR 493/93]; BGHR StGB § 32 Abs. 2 Verteidigung 3, Erforderlichkeit 6).
Unter Berücksichtigung dieser Gesichtspunkte sind die Erwägungen des Tatrichters zur Notwehr keine tragfähige Begründung für die Annahme, daß die lebensgefährlichen Messerstiche, insbesondere der Stich in den Oberbauch, eine erforderliche und gebotene Verteidigung gewesen sind.
1. Die Messerstiche waren außergewöhnlich gefährlich. Entgegen der Auffassung des Tatrichters liegt es nach den Umständen sehr nahe, daß der Angeklagte, als er das Messer acht bis zehn Zentimeter tief in den Oberbauch stieß, mit bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt hat. Daß der sehr intelligente, als Ingenieur ausgebildete Angeklagte bei seinem ungezielten Stich auf den Körper des über ihn gebeugten Mannes die damit verbundene Lebensgefahr nicht erkannt hat, liegt ganz fern. Was der Tatrichter mit der Angabe meint, der Angeklagte habe möglicherweise "reflexartig" zugestoßen (UA S. 13), ist unklar, zumal da der Tatrichter am Vorliegen eines Körperverletzungsvorsatzes ersichtlich keinen Zweifel gehabt hat. Die weiteren Stiche, zumal der fünf bis sechs Zentimeter tiefe Stich in den Hals, sprechen dafür, daß sich der Angeklagte während des gesamten Verlaufs der Auseinandersetzung mit einer tödlichen Wirkung seiner Stiche abgefunden hat.
2. Das Vorverhalten des Angeklagten war nach den Umständen sozialethisch zu beanstanden. Der Angeklagte hatte kein Recht und mit Rücksicht auf die verbleibende Reisezeit von wenigen Minuten keinen verständlichen Anlaß, seinen Mitreisenden durch die Zufuhr kalter Luft aus dem Abteil "herauszuekeln". Unter diesen Umständen drückte das wiederholte Öffnen des Fensters eine Mißachtung des J aus, die ihrem Gewicht nach einer schweren Beleidigung gleichkommt, auch wenn der alkoholisierte J durch sein Verhalten seinerseits Anlaß für den Ärger des Angeklagten gegeben hatte. Ihm war es zuzumuten, einem Streit mit dem Angeklagten aus dem Wege zu gehen, indem er das Abteil verließ, zumal da er zu dessen Benutzung als Inhaber einer Fahrkarte zweiter Klasse ohnehin nicht berechtigt war. Keinesfalls durfte J als Reaktion auf das Öffnen des Fensters körperliche Gewalt anwenden.
Das Vorverhalten des Angeklagten war indes nicht ohne Bedeutung für die Beurteilung der Frage, ob die Stiche, zumal der tiefe Stich in den Oberbauch, als gebotene Verteidigung durch Notwehr gerechtfertigt waren. Ein für den Umfang des Notwehrrechts bedeutsames Vorverhalten, das "von Rechts wegen vorwerfbar" ist (BGHSt 24, 356, 359), liegt jedenfalls auch dann vor, wenn dieses Vorverhalten seinem Gewicht nach einer schweren Beleidigung gleichkommt. Welches Maß der Beschränkung der Verteidigung von dem Provokateur zu verlangen ist, hängt von den Umständen ab.
a) Die Beschränkungen sind um so geringer, je schwerer das Übel ist, das von dem Angriff droht. Nach den Urteilsausführungen drohten dem Angeklagten Faustschläge (UA S. 12) oder, wie es an anderer Stelle heißt (UA S. 31, 33), Prügel. Daß diese Gewalttätigkeiten lebensbedrohlich waren, hat der Tatrichter bisher nicht festgestellt. Der Umstand, daß J den Angeklagten mit beiden Händen in das Gesicht faßte, bedeutet nicht notwendig, daß gefährliche Faustschläge in das Gesicht (vgl. dazu BGHR StGB § 32 Abs. 2 Erforderlichkeit 10) bevorstanden. Daß J von vornherein vorhatte, den Angeklagten zusammenzuschlagen und auf diese Weise lebensgefährlich zu verletzen, liegt nach den Umständen nicht nahe: Es kann J trotz der Alkoholeinwirkung nicht verborgen geblieben sein, daß zahlreiche Personen im Gang standen, die seine Flucht hätten vereiteln können, wenn sie schon nicht dem Angeklagten zur Hilfe kamen.
b) Unter diesen Umständen ist - auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen - das Gebotensein des von dem Angeklagten gewählten tödlichen Verteidigungsmittels nicht dargetan:
Einwandfrei festgestellt ist allerdings, daß der Angeklagte durch seine liegende Position in der Verteidigung behindert war; denn der vor ihm stehende J hinderte ihn, aufzustehen und sodann die Schläge seines Gegners zu erwidern, wozu der Angeklagte an sich, wie sein späterer Boxhieb (UA S. 13) zeigt, trotz seines Alters in der Lage gewesen wäre. Der Tatrichter hat aber nicht festgestellt, daß es dem Angeklagten in seiner Lage unmöglich war, sich mit seinen Händen vor Schlägen des J zu schützen und den durch Alkohol beeinträchtigten Gegner mit Fußtritten aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Vor allem sind die bisherigen Feststellungen im Hinblick.auf den folgenden Gesichtspunkt nicht tragfähig: Vor dem Abteil standen, vom Inneren des Abteils sichtbar, zahlreiche Personen im Gang. Sie konnten während des Wortstreits die lauten Worte des J und später seinen Ruf "he is killing me" sowie sein Stöhnen hören. Hätte der Angeklagte, als J ihn ins Gesicht faßte, seinerseits laut um Hilfe gerufen, so hätten die Mitreisenden dies ebenfalls wahrgenommen. Jedenfalls in dieser Anfangsphase der Gewalttätigkeiten bestand die Aussicht, daß ein Hilferuf des Angeklagten seine Lage verbessern würde. Zwar haben die Mitreisenden, als aus dem Abteil laut Kampfgeräusche drangen, "immer entsetzter in das Abteil geschaut", also nicht eingegriffen, bevor der Zeuge F, der das Abteil zunächst nicht im Blickfeld gehabt hatte, beherzt einschritt. Doch mußte jener spätere Abschnitt des Geschehens, den die Mitreisenden beobachteten, besonders gefährlich erscheinen, weil ein Messer benutzt wurde; so verhielt es sich noch nicht, als J in das Gesicht des Angeklagten faßte. Hilferufe des Angeklagten waren überdies geeignet, insofern mäßigend auf J einzuwirken, als sie ihm deutlich machten, daß ihm der Fluchtweg versperrt war.
3. Der Tatrichter wird das Geschehen unter den genannten Gesichtspunkten neu zu würdigen haben. Soweit möglich, wird er zusätzliche Feststellungen treffen; andernfalls ist der Zweifelsgrundsatz zu beachten.
Der Generalbundesanwalt hat beantragt, die Revision zu verwerfen.