BGH, 11.02.1999 - 1 StR 686/98
In allen Fällen der Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe hat das Tatgericht zu entscheiden, ob die Schuld des Angeklagten besonders schwer wiegt (Ergänzung zu BVerfGE 86, 288).
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts München I vom 7. Mai 1998 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die den Nebenklägerinnen im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes in Tateinheit mit Vergewaltigung, versuchten Mordes und sexueller Nötigung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe verurteilt. Ferner hat es festgestellt, daß seine Schuld besonders schwer wiegt. Außerdem hat es die Sicherungsverwahrung des Angeklagten angeordnet. Gegen dieses Urteil richtet sich die auf die Sachrüge und eine Verfahrensrüge gestützte Revision des Angeklagten. Das Rechtsmittel ist aus den vom Generalbundesanwalt in seiner Antragsschrift genannten Gründen unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO. Der Erörterung bedarf nur folgendes:
Die Schwurgerichtskammer war auch dazu berufen, nach Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe als Gesamtstrafe über die Frage der besonderen Schwere der Schuld im Sinne von § 57 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB zu entscheiden, obwohl eine Verurteilung wegen nur versuchten Mordes u.a. zugrundelag, bei der die lebenslange Freiheitsstrafe gemäß § 211 Abs. 1 StGB nicht die einzige in Betracht kommende Rechtsfolge ist (§ 23 Abs. 2 StGB). Die Schwurgerichtskammer hat diese Entscheidung zu Recht nicht der späteren Entscheidung des Vollstreckungsgerichts überlassen. Das entspricht der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs und einer in der Literatur zum Teil vertretenen Auffassung (vgl. BGHR StGB § 57 a Abs. 1 Schuldschwere 8; BGH NStZ 1994, 34, 35 [BGH 07.07.1993 - 2 StR 17/93]; 1994, 184; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 43. Aufl. § 267 Rdn. 20 a; Stree in Schönke/Schröder, StGB 25. Aufl. § 57 a Rdn. 6).
Das Bundesverfassungsgericht hat zwar nur aus Anlaß von Fällen der Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe wegen vollendeten Mordes gemäß § 211 Abs. 1 StGB entschieden, die Regelungen der §§ 454, 462 a StPO, 74 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 GVG seien verfassungskonform dahin auszulegen, daß die für die besondere Schwere der Schuld maßgeblichen Tatsachen vom Tatgericht im Erkenntnisverfahren festgestellt, im Urteil dargestellt und unter dem für die Aussetzungsentscheidung erheblichen Gesichtspunkt ihrer besonderen Schwere mit bindender Wirkung für das Vollstreckungsgericht gewichtet werden müssen (BVerfGE 86, 288, 315 ff.). Darauf, daß die Notwendigkeit einer Entscheidung durch den Tatrichter nur in diesen Fällen gesehen wurde (vgl. Winter, abweichende Meinung in BVerfGE 86, 355, 369), deutet neben der alleinigen Befassung mit dieser Fallvariante auch die Begründung hin (so auch Gribbohm in LK 11. Aufl. § 57 a StGB Rdn. 46 ff.; Tröndle, StGB 48. Aufl. § 57 a Rdn. 18), eine Strafzumessung nach der individuellen Schuld erfolge in diesen Fällen nicht, die Möglichkeiten der Strafvollstreckungskammer zu sachgerechter Entscheidung seien daher beschränkt (aaO S. 316).
Aber auch in anderen Fällen, in denen das Landgericht lebenslange Freiheitsstrafe verhängt, muß dies nicht immer notwendig auf einer umfassenden Würdigung aller für die Beurteilung der besonderen Schuldschwere bedeutsamen Umstände beruhen. Lehnt das Gericht bei Mord in den Fällen fakultativer Strafmilderung eine Strafrahmenverschiebung ab, kommt dabei den Besonderheiten des vertypten Milderungsgrunds (z. B. vorverlagerte Schuld bei § 21 StGB, vgl. BGHR StGB § 21 Strafrahmenverschiebung 28; Erfolgsnähe bei § 23 Abs. 2 StGB, vgl. BGH MDR 1994, 1069 [BGH 28.10.1993 - VII ZB 22/93]; BGHR StGB § 23 Abs. 2 Strafrahmenverschiebung 4; unterlassungsbezogene Umstände bei § 13 Abs. 2 StGB, vgl. BGH StV 1987, 527 f.) besonderes Gewicht zu, ohne daß diese Umstände geeignet wären, etwas zur besonderen Schuldschwere im Sinne des § 57 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB auszusagen. Dies zeigt bereits, daß allein die mehr oder weniger große Ausführlichkeit der Urteilsgründe kein ausreichendes Kriterium ist, die Zuständigkeitsfrage bei Beurteilung der besonderen Schuldschwere zu beantworten.
Zudem hat das Bundesverfassungsgericht bei der Verlagerung der Entscheidung auf den Tatrichter weitere Gründe angeführt, welche nicht nur bei vollendetem Mord, sondern für alle Fälle bei Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe Bedeutung erlangen. Daher erscheint die entsprechende Anwendung der Regeln der Entscheidung in BVerfGE 86, 288 ff. auch in diesen Fällen sachgerecht und angebracht:
Das Bundesverfassungsgericht hat darauf abgestellt, daß die Beurteilung der Frage der besonderen Schuldschwere hinsichtlich der Feststellung der dafür maßgeblichen Tatsachen und der zusammenfassenden Würdigung der Person des Täters und seiner Straftaten nach der Struktur des Strafverfahrens dem Tatgericht, nicht dem Vollstreckungsgericht zu übertragen sei. Die Vollstreckungsgerichte seien dafür "weder besonders erfahren noch entscheidungsnah" (aaO S. 319). Für die Übertragung der Zuständigkeit zur Entscheidung über das Vorliegen einer besonderen Schuldschwere auf die Tatgerichte spreche dagegen umgekehrt deren "besondere Nähe zum Tatgeschehen" (aaO S. 322). Die Tatgerichte seien deshalb dazu berufen, über das Vorliegen der besonderen Schuldschwere zu entscheiden, die Vollstreckungsgerichte darüber, ob eine besondere Schuldschwere gegebenenfalls die weitere Strafvollstreckung nach Ablauf der Mindestverbüßungsdauer gebiete (aaO S. 323). Außerdem fehle im Verfahren vor dem Vollstreckungsgericht eine im Strengbeweis unter Beachtung besonderer Verfahrensgarantien für den Angeklagten geschaffene Grundlage für die nach dem Gesetz dem Vollstreckungsgericht übertragene Bewertung der Schuldschwere (aaO S. 317).
Wird die Gewichtung der Schuld unter dem Gesichtspunkt ihrer besonderen Schwere im Urteil vorgenommen, so unterliegt dieses auch insoweit der Revision, ungeachtet dessen, daß die Gewichtung der individuellen Schuld keine Auswirkungen auf den Strafausspruch haben kann (BVerfGE aaO). Es wäre ein Wertungswiderspruch, wenn nur in Fällen der Verurteilung zu (zwingend) lebenslanger Freiheitsstrafe wegen vollendeten Mordes ohne erhebliche Verminderung der Schuld die Frage ihrer besonderen Schwere von dem mit fünf Richtern besetzten, in Fragen der Schuldgewichtung besonders erfahrenen und tatnah entscheidenden Tatgericht beurteilt würde und dessen Entscheidung revisionsgerichtlicher Kontrolle zugänglich wäre, während in allen anderen Fällen der (fakultativen) Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe die Schuldschwere von einer mit drei Richtern besetzten (§ 78 b Abs. 1 Nr. 1 GVG), weniger erfahrenen (BVerfGE aaO S. 315) und lange nach der Tat entscheidenden Strafvollstreckungskammer geprüft und deren Entscheidung von einem Beschwerdegericht kontrolliert werden würde.
Eine Spaltung der Entscheidungszuständigkeit und des Instanzenzuges ist auch deshalb unangebracht, weil dann die Zuständigkeitsfrage im Einzelfall unklar wäre, etwa wenn bei Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe wegen vollendeten Heimtückemordes ohne erhebliche Minderung der Schuld vom Tatgericht trotz der zwingenden Regelung des § 211 Abs. 1 StGB bei Vorliegen außergewöhnlicher Umstände Überlegungen zur Strafzumessung nach den Grundsätzen von BGHSt GS 30, 105 ff. angestellt werden, welche die Grundlage einer Entscheidung des Vollstreckungsgerichts bilden könnten. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfGE 96, 44 ff.) hat es in anderem Zusammenhang als Gebot der Gewährung effektiven Rechtsschutzes betrachtet, daß die Fachgerichte zur Klärung einer unübersichtlichen Zuständigkeits- und Rechtswegfrage beitragen (vgl. auch BGH wistra 1999, 349, 352; 1999, 353, 355, jew. für BGHSt bestimmt). Dem entspricht die Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, daß in allen Fällen der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe für die Prüfung der besonderen Schwere der Schuld im Sinne des § 57 a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB auf der Grundlage von BVerfGE 86, 288 ff. die Tatgerichte zuständig sind.
Dafür ist auch maßgeblich, daß dem zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Täter in allen Fällen möglichst frühzeitig eine Perspektive gegeben werden muß, indem ihm hinsichlich des für die Verbüßungsdauer bedeutsamen Kriteriums der Schwere der Schuld schon im Rahmen der tatrichterlichen Entscheidung Gewißheit über das Ausmaß des Eingriffs in seine Freiheitsrechte verschafft wird (vgl. BVerfGE 86, 288, 327). Dieser Gesichtspunkt berührt gleichermaßen jede Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe und gebietet auch die Gleichbehandlung aller Täter. Wenn bei Mord trotz Vorliegens eines vertypten Milderungsgrundes, bei Totschlag im besonders schweren Fall oder bei Raub oder Brandstiftung mit Todesfolge zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wird, hat der Verurteilte ebenso wie der wegen vollendeten Mordes ohne besonderen Milderungsgrund Verurteilte Anspruch darauf, alsbald zu erfahren, ob die besondere Schwere seiner Schuld dazu führt, daß die Mindestverbüßungsdauer als nicht ausreichend angesehen wird. Es erscheint somit insgesamt nicht sachgerecht, die Zuständigkeit für die Beurteilung der Frage der besonderen Schwere der Schuld und die Rechtsmittelentscheidungen hierzu aufzuspalten.