BGH, 19.03.1999 - 2 ARs 109/99
Im Strafverfahren ist eine "außerordentliche Beschwerde" nicht anzuerkennen.
Gründe
Der Angeklagte ist durch das Landgericht Mannheim wegen Betrugs und anderer Delikte zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Jahren und neun Monaten verurteilt worden. Seine Revision hat der Bundesgerichtshof verworfen. Sein erster Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens wurde vom Landgericht Stuttgart als unzulässig und seine sofortige Beschwerde vom Oberlandesgericht Stuttgart als unbegründet verworfen. Auch sein zweiter Wiederaufnahmeantrag wurde vom Landgericht Stuttgart als unzulässig verworfen. Seine sofortige Beschwerde hat das Oberlandesgericht Stuttgart durch Beschluß vom 25. Januar 1999 als unbegründet verworfen. Gegen diesen Beschluß hat der Angeklagte "außerordentliche sofortige Beschwerde wegen greifbarer Gesetzeswidrigkeit" eingelegt und Anordnung der sofortigen Unterbrechung der Strafe beantragt.
1. Die Beschwerde ist unzulässig, weil der Beschluß des Oberlandesgerichts nicht mit der Beschwerde angefochten werden kann (§ 304 Abs. 4 Satz 2 StPO).
2. Das Rechtsmittel ist auch nicht als sogenannte außerordentliche Beschwerde zulässig.
Die für das Zivilprozeßrecht (vgl. hierzu u.a. BGHZ 109, 41, 43; BGH NJW 1993, 135 und 1865 jeweils m.w.N.) entwickelte Rechtsprechung zur Zulässigkeit eines außerordentlichen Rechtsmittels wegen "greifbarer Gesetzeswidrigkeit" der angefochtenen (rechtskräftigen) Entscheidung (kritisch hierzu Lotz NJW 1996, 2130 m.w.N.) ist nicht auf das Strafprozeßrecht zu übertragen.
Im Strafverfahren ist eine außerordentliche Beschwerde nicht anzuerkennen.
Formelle Rechtskraft dient der Rechtssicherheit. Diese kann in Widerspruch zur Gerechtigkeit im Einzelfall geraten. Beide Prinzipien werden aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet (vgl. hierzu auch BVerfG MDR 1975, 468, 469) und haben daher Verfassungsrang. Zwischen der Rechtskraft, die Rechtsfrieden und Rechtssicherheit garantiert, und dem Grundsatz der materiellen Gerechtigkeit bedarf es eines Ausgleichs. Das Bundesverfassungsgericht hat wiederholt entschieden, daß der Gesetzgeber nicht willkürlich handelt, wenn er dem Grundsatz der Rechtssicherheit den Vorrang gibt (vgl. BVerfGE 19, 150, 166). Denn die Gewährleistung der Rechtssicherheit bildet einen wesentlichen Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips (BVerfG a.a.O.). Beständigkeit und Rechtskraft ist die Regel, ihre Beschränkung zugunsten der Gerechtigkeit die Ausnahme (vgl. Schmidt in KK 4. Aufl. Rdn. 4 vor § 359). Durchbrechungen des Grundsatzes der Rechtssicherheit bedürfen daher besonderer Rechtfertigung.
Dem Strafprozeßrecht stehen zur Beseitigung "greifbarer Gesetzeswidrigkeiten" andere Möglichkeiten zur Verfügung als die Schaffung eines vom Gesetz nicht vorgesehenen Instanzenzuges. Die gesetzliche Regelung ist ausreichend und abschließend.
Hierbei ist zunächst das Wiederaufnahmeverfahren zu sehen, das in Ausnahmefällen auch für Entscheidungen durch Beschluß entsprechende Anwendung finden kann (vgl. BGH MDR 1985, 447, 448; Schmidt a.a.O. Rdn. 14 vor § 359). Im vorliegenden Fall wurde gerade ein Wiederaufnahmeverfahren durchgeführt. Beim Wiederaufnahmeverfahren handelt es sich bereits um einen außerordentlichen Rechtsbehelf, dessen Anwendungsbereich im Interesse der Rechtssicherheit auf solche Fälle beschränkt bleiben muß, in denen die Fehlerhaftigkeit des Urteils ein unerträgliches Maß erreicht. Eine Erweiterung der Überprüfungsmöglichkeit ist nicht geboten. Hierbei ist zu sehen, daß nach der Strafprozeßordnung die Wiederaufnahme eines rechtskräftig abgeschlossenen Verfahrens erheblich leichter erreicht werden kann als im Zivilprozeß. Das belegt ein Vergleich von § 359 Nr. 5 StPO und § 362 Nr. 4 StPO mit § 580 Nr. 7 ZPO. Der Restitutionsklage kommt auch nur Hilfsnatur zu (§ 582 ZPO), wohingegen Tatsachen "neu" im Sinne des § 359 Abs. 5 StPO selbst dann sind, wenn sie der Verurteilte gekannt hat (vgl. u.a. Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO 44. Aufl. Rdn. 30 zu § 359). Darüber hinaus können offensichtliche Unbilligkeiten im Gnadenrecht berücksichtigt werden.
Auch für das hier gegebene Beschlußverfahren gilt, daß die Möglichkeiten der Überprüfung rechtskräftiger Entscheidungen im Gesetz abschließend und anders als im Zivilrecht geregelt sind. Für das Nachholen des rechtlichen Gehörs im Beschwerdeverfahren sieht § 311 a StPO ein Nachverfahren vor.
Im übrigen können offensichtliche Versehen im Rahmen des § 33 a StPO oder in entsprechender Anwendung von § 33 a StPO (vgl. hierzu BGHR StPO § 33 a Satz 1 Anhörung 4 und Senatsbeschluß vom 29. Oktober 1997 - 2 StR 532/97) korrigiert werden. Dies gilt nicht nur für die Nachholung des rechtlichen Gehörs und die Form der Entscheidung (vgl. hierzu auch BGH, Beschl. v. 30. März 1994 - 3 StR 628/93), sondern für jeden Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG im Beschlußverfahren (vgl. BVerfGE 42, 243, 250). Die Regelung der §§ 33 a, 311 a StPO reicht aus, um - in Durchbrechung der Rechtskraft - der Einzelfallgerechtigkeit Rechnung zu tragen. Es ist nicht geboten, im Wege des Richterrechts eine außerordentliche Beschwerde einzuführen, zumal da sich dann auch Bedenken hinsichtlich des gesetzlichen Richters (Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG) ergeben würden. Während §§ 33 a, 311 a StPO für die nachträgliche Entscheidung den "iudex a quo" für zuständig erachten, würde die Zulassung einer außerordentlichen Beschwerde einen neuen Instanzenzug eröffnen und das Rechtsmittelgericht für die nachträgliche Entscheidung für zuständig erklären. Das Bundesverfassungsgericht (vgl. BVerfGE 63, 77, 78, 79) hat demgemäß zwar anerkannt, daß von dem Grundsatz der Unabänderlichkeit unanfechtbarer Beschlüsse Ausnahmen zuzulassen sind, "um zu verhindern, daß die Unanfechtbarkeit der Entscheidung zu einem anders nicht zu beseitigenden groben prozessualen Unrecht führt". Es macht in dieser Entscheidung aber deutlich, daß der "iudex a quo" die Abänderung vorzunehmen hat und nicht ein weiterer Instanzenzug in Betracht kommt. Dem tragen §§ 33 a, 311 a StPO Rechnung. Deshalb gehört der Antrag nach § 33 a StPO zum Rechtsweg i.S.d. § 90 Abs. 2 BVerfGG (vgl. BVerfGE 42, 243, 250). Dagegen hat das Bundesverfassungsgericht nicht ausgesprochen, daß der Rechtsweg, erst nach Einlegung einer außerordentlichen Beschwerde erschöpft ist (vgl. hierzu auch Lotz a.a.O. S. 2132).
3. Im übrigen liegt hier eine "greifbare Gesetzeswidrigkeit" nicht vor. Die Entscheidung des Oberlandesgerichts Stuttgart ist keineswegs mit der geltenden Rechtsordnung schlechthin unvereinbar.
4. Für die Anordnung einer Unterbrechung der Vollstreckung (§ 360 Abs. 2 StPO) ist kein Raum.