BGH, 09.06.1999 - 1 StR 325/98
Zu den Folgen eines Fehlers im Verfahren über den Ausschluß der Öffentlichkeit.
Tenor
Die Revision des Angeklagten gegen das Urteil des Landgerichts Augsburg vom 10. Dezember 1997 wird verworfen.
Der Beschwerdeführer hat die Kosten des Rechtsmittels und die der Nebenklägerin im Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen zu tragen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit sexueller Nötigung, vorsätzlicher Körperverletzung und Freiheitsberaubung zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt. Gegen dieses Urteil richtet sich die Revision des Angeklagten, der eine Verfahrensrüge und die Sachbeschwerde erhebt. Das Rechtsmittel ist unbegründet.
I.
Nach den Urteilsfeststellungen legte der Angeklagte die Geschädigte - die sich vom Angeklagten nach längerer Beziehung trennen wollte - in seiner Wohnung unter Anwendung überlegener Körperkraft auf sein Bett, entkleidete sie und fesselte ihre Hände und Füße an die Bettpfosten. Um sie zu demütigen, nahm er gegen ihren Willen nicht nur sexuelle Handlungen an ihr vor, sondern fertigte davon Fotografien und filmte sie mit einer Videokamera.
II.
Die Überprüfung des Urteils aufgrund der Sachrüge hat keinen Rechtsfehler zum Nachteil des Angeklagten aufgedeckt; auch seine Verfahrensrüge bleibt erfolglos.
1. Die Revision rügt, es liege ein absoluter Revisionsgrund nach § 338 Nr. 6 StPO vor, weil der Beschluß, mit dem die Strafkammer die Öffentlichkeit ausgeschlossen hat, nicht begründet worden sei (§ 174 Abs. 1 Satz 3 GVG). Der Rüge liegt folgender Verfahrensablauf zugrunde:
Wie sich aus den Urteilsgründen ergibt, hat der Angeklagte in seiner Einlassung die von ihm an der Geschädigten vorgenommenen sexuellen Handlungen im wesentlichen eingeräumt. Er gab an, er habe die Geschädigte gefesselt und, obwohl er wußte, daß sie "ungern obszöne Fotos oder Videoaufnahmen von sich machen ließ", eine Videokamera, ein Stativ, einen Scheinwerfer und einen Fotoapparat herbeigeholt und Fotografien von der nackten Geschädigten angefertigt, insbesondere von ihrem Geschlechtsteil. Der Angeklagte hat weiter zugegeben, er habe sexuelle Handlungen vor laufender Videokamera durchgeführt. Die Geschädigte hat sowohl die sexuellen Handlungen als auch das Anfertigen der Fotografien und des Videofilms bestätigt.
Das Sitzungsprotokoll weist aus, daß während der Einlassung des Angeklagten die von ihm gefertigten Fotografien in Augenschein genommen wurden und er sich hierzu erklärt hat, daß sodann die Geschädigte als Zeugin vernommen und danach entlassen wurde. Sie blieb als Nebenklägerin im Gerichtssaal anwesend. Danach wurden die Lichtbilder des Tathergangs von sämtlichen Prozeßbeteiligten nochmals in Augenschein genommen, und es wurde ein ärztliches Attest über die Geschädigte verlesen. Der Angeklagte konnte sich jeweils dazu erklären. Zum weiteren Verlauf der Hauptverhandlung vermerkt das Protokoll:
"Nach geheimer Beratung des Gerichts verkündete der Vorsitzende folgenden Beschluß
1) Der sichergestellte Film ist in Augenschein zu nehmen.
2) Während der Inaugenscheinnahme des Films ist die Öffentlichkeit auszuschließen.
Der Beschluß wurde ausgeführt."
2. Die Rüge ist nach diesem Ablauf unbegründet. Der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO liegt nicht vor. Der sich aus dem Protokoll ergebende Verstoß gegen die Begründungspflicht nach § 174 Abs. 1 Satz 3 GVG führt nicht zur Aufhebung des Urteils.
a) Die durch § 174 Abs. 1 Satz 3 GVG vorgeschriebene ausdrückliche Angabe des Grundes für den Ausschluß der Öffentlichkeit dient neben der Selbstkontrolle des Gerichts der Unterrichtung der Öffentlichkeit (BGHSt 1, 334, 336; 30, 298, 303; BGH StV 1982, 106, 108) und der späteren Nachprüfbarkeit der Entscheidung durch das Revisionsgericht (BGH StV 1996, 135 mit Anm. Park; Diemer in KK 4. Aufl. Rdn. 4 zu § 174 GVG; K. Schäfer/Wickern in LR 24. Aufl. § 174 GVG Rdn. 14; Gössel NStZ 1982, 141 ff. ; Park NJW 1996, 2213, 2214) [BGH 24.08.1995 - 4 SrT 470/95]. Allerdings bedarf es keiner ausdrücklichen Aufklärung der Zuhörer im Gerichtssaal über Inhalt und Bedeutung derjenigen Vorgänge in der Hauptverhandlung, die unter Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt werden sollen (BGHSt 27, 117, 120; 30, 298, 304; vgl. auch BGHSt 1, 334, 336).
Ergibt sich aus den Urteilsgründen und dem Sitzungsprotokoll der Verfahrensablauf bis zur Entscheidung über den Ausschluß und zeigt dies auf,
- daß es für die Zuhörer im Gerichtssaal ohne weiteres erkennbar war, auf welche Prozeßhandlungen sich die Ausschließung beziehen sollte und welche Bedeutung diesen Prozeßhandlungen zukam,
- und kann auch das Revisionsgericht später aus dem gleichen Grunde sicher ausschließen, daß nach der konkreten Sachlage aus rechtlichen Gründen eine andere Entscheidung des Tatgerichts in Betracht kam,
ändert dies zwar nichts daran, daß ein Verstoß gegen die gesetzlich vorgeschriebene Begründungspflicht vorliegt. Angesichts des Zwecks der Begründungspflicht nach § 174 Abs. 1 Satz 3 GVG ist der Verstoß, der zudem nur das Verfahren über den Ausschluß der Öffentlichkeit betraf und nicht zu deren unzulässiger Beschränkung geführt hat, nicht so schwer, daß deshalb der absolute Revisionsgrund des § 338 Nr. 6 StPO zu bejahen wäre (vgl. zu § 338 Nr. 5 StPO BGHSt 15, 194, 196; 22, 18, 20; BGH NStZ 1987, 84; 1993, 500).
b) Die Rechtsprechung aller Strafsenate des Bundesgerichtshofs ging bisher allerdings davon aus, daß selbst dann, wenn für Verfahrensbeteiligte und Zuhörer der Ausschließungsgrund auf der Hand lag, auf dessen genaue Bezeichnung im Gerichtsbeschluß nicht verzichtet werden darf (BGHSt 1, 334, 335; 2, 56 f. ; 3, 344, 345; 27, 117, 118; 27, 187, 188; 30, 298, 301; 38, 248; 41, 145, 146 [BGH 10.05.1995 - 3 StR 145/95]; BGH NJW 1977, 1643 [BGH 17.05.1977 - 4 StR 102/77]; StV 1981, 3; 1984, 146; NStZ 1983, 324; BGHR GVG § 174 Abs. 1 Satz 3 Begründung 1 - 6; BGH, Urt. v. 11. September 1975 - 4 StR 417/75; Beschl. v. 18. Februar 1976 - 3 StR 13/76; Urt. v. 10. März 1976 - 3 StR 15/76; Beschl. v. 27. November 1987 - 2 StR 591/87 = BGHR aaO Begründung 3).
Auch der erkennende Senat ist bereits der genannten Rechtsprechung gefolgt (vgl. BGH GA 1975, 283). Sie wurde bisher nur vom 5. Strafsenat in seinem Urteil vom 30. August 1994 - 5 StR 403/94 - (NStZ 1994, 591) in Frage gestellt.
c) Der Senat möchte an dieser strikten Auffassung nicht festhalten und hat im Hinblick auf diese bisherige Rechtsprechung mit Beschluß vom 20. Oktober 1998 seine Absicht mitgeteilt, die Revision zu verwerfen (BGH NStZ 1999, 92). Er hat bei den anderen Strafsenaten angefragt, ob an der entgegenstehenden Rechtsprechung festgehalten wird (§ 132 Abs. 1 Satz 3 GVG).
aa) Der 2. Strafsenat hat aufgrund des Beschlusses vom 11. Dezember 1998 - 2 ARs 473/98 - mitgeteilt, er sei mit einem vergleichbaren Fall nicht befaßt gewesen. Der vorliegende Fall gebe ihm auch keinen Anlaß, die Grundsätze seiner Rechtsprechung zu § 174 Abs. 1 Satz 3 GVG zu überprüfen. Hieran hat er auch auf ergänzende Anfrage des Senats am 26. Mai 1999 festgehalten.
bb) Der 3. Strafsenat hat durch Beschluß vom 12. November 1998 - 3 ARs 13/98 - "unter Aufgabe entgegenstehender Rechtsprechung" ausgeführt, ein absoluter Revisionsgrund gemäß § 338 Nr. 6 StPO liege jedenfalls dann nicht vor, wenn der Grund für die Ausschließung der Öffentlichkeit zwar in dem Gerichtsbeschluß nicht ausdrücklich genannt sei, er sich aber aus den mit dem Ausschluß der Öffentlichkeit unmittelbar zusammenhängenden Verfahrensvorgängen - etwa dem protokollierten Antrag eines Prozeßbeteiligten - ergebe, so daß er für alle Verfahrenbeteiligten sowie die Zuhörer auf der Hand liege und deshalb ein Verfahrensfehler sicher ausgeschlossen werden könne. Dies schränke nicht die Pflicht des Tatgerichts ein, bei der Verkündung des Beschlusses in den Fällen der §§ 171b , 172 und 173 GVG anzugeben, aus welchem Grund die Öffentlichkeit ausgeschlossen worden sei. Es bedeute vielmehr nur, daß nicht jede formale Verletzung der Begründungspflicht einen absoluten Revisionsgrund darstelle.
cc) Der 4. Strafsenat hat durch Beschluß vom 17. Dezember 1998 - 4 ARs 9/98 - mitgeteilt, er halte an seiner bisherigen Rechtsprechung fest, daß das Fehlen der Begründung in dem Beschluß über die Ausschließung der Öffentlichkeit auch dann ein Verstoß gegen § 174 Abs. 1 Satz 3 GVG sei, wenn der Ausschließungsgrund für die Beteiligten und die Zuhörerschaft offen zutage liege (BGHSt 27, 187, 188; BGHR GVG § 174 Abs. 1 Satz 3 Begründung 5). Er stimme jedoch angesichts der Besonderheiten der Sach- und Verfahrenslage in dem der Anfrage zugrundeliegenden Fall der vom erkennenden Senat beabsichtigten Entscheidung zu.
dd) Der 5. Strafsenat hat durch Beschluß vom 9. Dezember 1998 - 5 ARs 60/98 - auf seine in NStZ 1994, 591 abgedruckte Entscheidung verwiesen, nach der das Fehlen einer ausdrücklichen Begründung unschädlich sei, wenn im Beschluß auf einen in öffentlicher Hauptverhandlung hinreichend begründeten Antrag auf Ausschließung der Öffentlichkeit Bezug genommen werde. Der Senat gibt auch etwa entgegenstehende Rechtsprechung für die Fälle auf, in denen der Ausschlußgrund ohne freibeweisliche Rekonstruktion des Inhalts der Hauptverhandlung offen zu Tage tritt.
e) Nach den auf die Anfrage vom 20. Oktober 1998 ergangenen Äußerungen der anderen Senate sieht der Senat sich nicht gehindert, unter den besonderen Umständen des Falles einen die Revision begründenden Verfahrensfehler zu verneinen.
Der Senat kann ohne Rekonstruktion der Hauptverhandlung aus der in den Urteilsgründen wiedergegebenen Einlassung und dem Sitzungsprotokoll entnehmen, daß es sich bei dem "sichergestellten Film" um den vom Angeklagten hergestellten Tatfilm handelte. Nach der Einlassung des Angeklagten und den Angaben der Geschädigten lag auch für die im Gerichtssaal anwesenden Zuhörer der Grund für den späteren Ausschluß der Öffentlichkeit offen. Es ging bei dem vom Angeklagten hergestellten Videofilm um die Darstellung der unter besonders erniedrigenden Umständen erfolgten Vergewaltigung, der in der Hauptverhandlung hätte vorgeführt werden sollen. Der Beschluß selbst läßt daher auch ohne weitere Begründung eindeutig erkennen, daß die Öffentlichkeit während der Dauer der vorgesehenen Vorführung des Videofilms ausgeschlossen werden sollte. Als Rechtsgrundlage konnten dafür nur der Schutz der Privatsphäre des Opfers (§ 171b GVG, ein Widerspruch nach Abs. 1 Satz 2 der Vorschrift erfolgte nicht) oder die Gefährdung der Sittlichkeit (§ 172 Nr. 1 GVG) oder beide Gründe zusammen in Betracht kommen. Die Voraussetzungen beider Vorschriften liegen ohne weiteres vor.
In einem solchen Ausnahmefall, bei dem die Richtigkeit der Entscheidung über den Ausschluß der Öffentlichkeit nicht in Frage steht, sondern es um die Verletzung einer Verfahrensvorschrift auf dem Weg zu der Entscheidung über den Ausschluß geht, vermag die fehlende ausdrückliche Angabe des Ausschlussgrundes weder unter dem Aspekt unzureichender Aufklärung der Zuhörer im Gerichtssaal noch unter dem unzureichender Überprüfbarkeit die Revision zu begründen.