RG, 08.10.1880 - III 613/80

Daten
Fall: 
Aufhebung eines Berufungsurteils von Amts wegen
Fundstellen: 
RGZ 2, 404
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
08.10.1880
Aktenzeichen: 
III 613/80
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Ulrichstein
  • OLG Darmstadt

Kann wegen mangelnden Thatbestandes ein Berufungsurteil unter Umständen von Amts wegen aufgehoben werden?

Tatbestand

Inhaltlich der in 1878 erhobenen Klage hatte der Kläger und jetzige Revisionsbeklagte verschiedene Ansprüche gegen die Beklagten und Revisionskläger geltend gemacht; die letzteren hatten solche bestritten, mehrere Einreden vorgeschützt und Widerklage erhoben. Es wurden umfangreiche Schriftsätze gewechselt, und es erkannte die erste Instanz durch Urteil vom 26. März 1879 teils definitiv, teils auf Beweis. Beide Teile appellierten und stellten eine Reihe von Beschwerden auf.

In dieser Lage wurde die Sache am 1. Oktober 1879 nach Maßgabe der Artt. 70 flg. des Großherzl. hessischen Gesetzes vom 4. Juni 1879, die Ausführung der deutschen C.P.O. betr., in das neue Verfahren übergeleitet.

Als " Thatbestand" ist nun in dem Erkenntnisse zweiter Instanz wörtlich festgestellt:

"Den Thatbestand anlangend, so wird es im vorliegenden Falle angemessen sein, sich auf die vorbereitenden Schriftsätze zu beziehen (§. 284 C.P.O.), da genau nach Maßgabe derselben verhandelt wurde und auch die Beschwerden, insoweit sie in der mündlichen Verhandlung wiederholt wurden, was sich aus den Anträgen der Parteien ergeben wird, genau nach Maßgabe der früher eingereichten Schriften begründet wurden."

Es werden hierauf die Berufungsanträge beider Teile mitgeteilt.

Das, sofort erlassene Urteil hat in der Hauptsache die Berufung der Beklagten als unbegründet abgewiesen, die Berufung des Klägers dagegen im wesentlichen für begründet erachtet und teilweise abändernd erkannt.

Hiergegen legten nunmehr die Beklagten Revision ein. Zum Thatbestande des Berufungsurteils bemerkte in der mündlichen Verhandlung dritter Instanz der Prozeßbevollmächtigte der Revisionskläger, daß nach §. 284 C.P.O. eine Bezugnahme auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze bei der Darstellung des Sachverhaltes zulässig sei, daß er daher beantragen müsse, über die Beschwerden selbst zu entscheiden.

Der Vertreter des Revisionsbeklagten führte aus, daß bei dem großen Umfange der im alten Verfahren gewechselten Schriftsätze eine bloße Verweisung auf deren Inhalt, in dem Thatbestande des zweitinstanzlichen Erkenntnisses allerdings bedenklich erscheine, daß er aber dieses Verfahren nicht für absolut unstatthaft erachte und sich deshalb dem Antrage des Gegners auf Fortsetzung der Verhandlung anschließe.

Das Reichsgericht hob jedoch das Berufungsurteil auf und wies die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurück.

Gründe

"Nach §. 284 Ziff. 3 C.P.O. muß jedes Urteil eine gedrängte Darstellung des Sach- und Streitgegenstandes auf Grundlage der mündlichen Vorträge der Parteien enthalten. Diese selbständige Darlegung des Sachverhaltes ist eines der wesentlichen Bestandteile des Urteiles; sie soll das Gesamtergebnis der mündlichen Verhandlung zum Zwecke der Nachprüfung der Entscheidung in der Rechtsmittelinstanz mit Rücksicht auf die Bestimmungen über die Rechtskraft der Urteile und zum Behufe des Verständnisses der Entscheidungsgründe feststellen. In ersterer Beziehung insbesondere sind nach §. 524 C.P.O. für die Entscheidung des Revisionsgerichtes regelmäßig die in dem angefochtenen Urteile zweiter Instanz festgestellten Thatsachen maßgebend und es läßt sich nur aus dem Tatbestände entnehmen, welche Umstände das Berufungsgericht nach Maßgabe des Vorbringens und der Anträge der Parteien seiner Beurteilung unterziehen mußte, und ob bei richtiger und vollständiger Würdigung aller einschlagenden Verhältnisse ein Grund zur Abänderung des zweitinstanzlichen Erkenntnisses vorliegt.

Zwar ist nach §. 284 Abs. 2 C.P.O. bei der Darstellung des Sachverhaltes eine Bezugnahme auf den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze und auf die zum Sitzungsprotokolle erfolgten Feststellungen nicht ausgeschlossen. Allein schon der Wortlaut dieser Bestimmung zeigt, daß eine solche Bezugnahme nur ausnahmsweise stattfinden soll. Wenn hierbei auch im einzelnen das richterliche Ermessen über die Mitteilung des Sachverhaltes im Urteile zu befinden hat, so darf dieses doch niemals soweit führen, daß der Zusammenhang der tatsächlichen Unterlagen des Rechtsstreites mit der rechtlichen Beurteilung der Sache verloren geht oder Zweifel darüber entstehen, welche Thatsachen nach Maßgabe der mündlichen Verhandlung der Richter hat feststellen wollen.

Im vorliegenden Falle enthält das angefochtene Urteil in Thatbestände nur die Berufungsanträge der Parteien und verweist im übrigen ausschließlich auf die vorderen schriftlichen Verhandlungen. Diese Verweisung muß als ein wesentlicher Mangel im Sinne des §. 501 C.P.O. angesehen werden. Denn die von den streitenden Teilen bis zur mündlichen Verhandlung zweiter Instanz im alten Verfahren gewechselten Schriftsätze sind von erheblichem Umfange; es sind verschiedene Klageansprüche und Gegenforderungen erhoben, jene durchgängig, diese zum größten Teile bestritten, auch ist eine Reihe von Einreden geltend gemacht worden; weder das Urteil erster Instanz noch irgend ein Schriftsatz der Parteien giebt eine zusammenhängende Darstellung des Sachverhaltes.

Es kann nicht Aufgabe des Revisionsgerichtes sein, bei der Verhandlung der Sache in dritter Instanz an der Stelle des Berufungsgerichtes die tatsächlichen Grundlagen für die Prüfung der Rechtsfrage zu ermitteln oder auch nur zu prüfen, ob die mündlichen Ausführungen der Parteien, soweit solche tatsächlicher Natur sind, den Inhalt der vorbereitenden Schriftsätze wiedergeben. Was aber die in dem angefochtenen Erkenntnisse zu den einzelnen Appellationsbeschwerden besonders hervorgehobenen Berufungsschriften angeht, so beziehen sich diese wiederum, entsprechend dem früheren Prozeßrechte, auf die Akten erster Instanz, und sie setzen die Bekanntschaft mit letzteren, sowie die Ergänzung aus solchen durch den Richter notwendig voraus. Danach fehlt es auch nach dieser Richtung an jedem sicheren Anhaltspunkte zur Entscheidung der Frage, was durch die Verweisung auf die vorbereitenden Schriftsätze als der aus dem mündlichen Vortrage der Parteien sich ergebende Thatbestand hat festgestellt werden sollen.

Es kann daher nicht zweifelhaft erscheinen, daß der hervorgehobene Mangel des Verfahrens von Amts wegen, selbst gegen den Willen und die übereinstimmenden Anträge der Parteien, berücksichtigt und das Berufungsurteil, so weit es angefochten wird und der Mangel die Streitpunkte betrifft, aufgehoben werden muß (§. 527 Abs. 2 C.P.O).

Die Revisionskläger haben nun ihre Beschwerde in den ganzen Inhalt des Berufungsurteiles gesetzt und ohne irgend welche Beschränkung dessen Aufhebung beantragt. Dieser Beschwerde entsprechend, war die Sache im ganzen zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung in die zweite Instanz zurückzuverweisen, ohne daß es einer weiteren Untersuchung der Frage bedurfte, nach welcher Richtung das angefochtene Urteil im Gegensätze zu demjenigen erster Instanz ungünstig für die Revisionskläger ausgefallen und somit Veranlassung zur Erhebung der Revision für dieselben gegeben ist.

Nach §. 87 C.P.O. mußte das Erkenntnis über die Kosten der Revision dem Endurteile vorbehalten bleiben. Die auf Grund des §. 6 des Gerichtskostengesetzes vom 18. Juni 1878 ausgesprochene Niederschlagung der durch die Revision entstandenen Gerichtsgebühren beruht auf der Erwägung, daß die Rückverweisung der Sache nur durch deren unrichtige Behandlung in der Berufungsinstanz ohne Schuld der Beteiligten veranlaßt wurde."