RG, 21.09.1880 - II 199/80
Kann ein in der Wohnung des Bezogenen aufgenommener Abwesenheitsprotest, welcher den Mangel eines Geschäftslokales nicht feststellt, dennoch unter Umständen den Formvorschriften des Art. 91 der Wechs.-Ordn. genügen?
Tatbestand
Der Revisionsbeklagte hatte als Inhaber eines Wechsels, welcher von dem Revisionskläger an eigene Ordre auf "F. in Leipzig, Waldstraße" gezogen und in Blanko indossiert, zur Verfallzeit aber bei dem Acceptanten F. mangels Zahlung protestiert worden war, gegen den Revisionskläger Regreßklage erhoben. Die Protesturkunde besagt: der um die Protestaufnahme ersuchte Notar habe die Urschrift des Wechsels "in der in der Waldstraße 50 befindlichen Wohnung des F. zur Zahlung vorlegen wollen, dies aber nicht vermocht, weil die Wohnungsthüre verschlossen war und Klingelns ungeachtet nicht geöffnet wurde." Besondere Einwendungen gegen die Ordnungsmäßigkeit des Protestes waren von dem Beklagten in erster Instanz nicht vorgebracht worden, vielmehr hatte er, von Gerichts wegen befragt, ob er die geschehene Protesterhebung "als eine ordnungsmäßige anerkenne", dies mit dem Bemerken abgelehnt, daß er die Kognition über die Ordnungsmäßigkeit der geschehenen Protesterhebung dem Gericht überlasse. In erster Instanz wurde der Protest für wirkungslos erachtet und deshalb die Klage abgewiesen. Die zweite Instanz verurteilte den Beklagten nach Maßgabe der Klagbitte.
Die eingelegte Revision wurde zurückgewiesen aus folgenden Gründen:
Gründe
"Der Artikel 91 der Wechselordnung bezeichnet im ersten Satze als Ort, an welchem die Protesterhebung geschehen muß, wenn sie rechtliche Wirkung haben soll, das Geschäftslokal der um die Annahme oder Zahlung des Wechsels anzugehenden Person "und in Ermangelung eines solchen, deren Wohnung". An anderen Orten den Protest zu erheben, verstattet der Artikel (Satz 2) nur, sobald die Beteiligten damit einverstanden sind. Der 3. Satz des Artikels regelt das Verhalten des Protestbeamten für den Fall, daß ein Geschäftslokal oder eine Wohnung sich nicht ermitteln läßt.
Die genaue Befolgung dieser Gesetzesvorschriften ist unstreitig wesentliches Erfordernis eines formgerechten Protestes. Auch muß die Befolgung aus der Protesturkunde zu ersehen sein, zumal dann, wenn die Person, gegen welche der Protest erhoben wird, die Wahl des Protestortes nicht genehmigt. Hiernach leidet es keinen Zweifel, daß ein Abwesenheitsprotest, welcher die gehörige Beobachtung der den Ort der Protestaufnahme angehenden gesetzlichen Bestimmungen nicht nachweist, der rechtlichen Gültigkeit entbehrt. Immerhin aber fragt es sich, wieweit in dieser Hinsicht die an den Inhalt der Protesturkunde zu stellenden Anforderungen reichen. Das Gesetz verpflichtet den Protestbeamten nicht ausdrücklich, in jedem Falle zunächst nach dem Geschäftslokale des Protestaten sich zu erkundigen und das Nichtvorhandensein eines solchen festzustellen, wenn er den Protest in der Wohnung aufnehmen will. Einer so strengen Auslegung bieten die Worte des Gesetzes mindestens keinen zuverlässigen Anhalt. Ebensowenig ist anzunehmen, daß der Gesetzgeber eine derartige Anordnung beabsichtigt hatte. Wie die Protokolle der Leipziger Wechsel-Konferenz (zu §. 83 des preußischen Entwurfs S. 163 der Thöl'schen Ausgabe) deutlich ergeben, soll Satz 1 und 2 des Artikels 91 hauptsächlich darüber Bestimmung treffen, daß der Protestat die Vorlegung des Wechsels an einem geeigneten Orte, in der Regel nämlich, falls er nicht einen anderen Ort für den geeigneten anerkennt, dort verlangen darf, wo er sich dem gewöhnlichen Geschäftsgange nach zur Annahme bereit hält, ingleichen darüber, welche Räumlichkeiten als Ort der vorauszusetzenden Bereitschaft zu gelten haben. Ist hierbei an erster Stelle das Geschäftslokal und nur aushilfsweise ("in Ermangelung eines solchen") die Wohnung genannt worden, so darf daraus allein noch nicht gefolgert werden, das Gesetz habe den Protestbeamten anweisen wollen, ohne Unterschied überall, wo es auf die Wahl des richtigen Ortes ankommt, zuvörderst nach einem Geschäftslokale, zu suchen und, sofern nötig, auf dem in Satz 3 vorgezeichneten Wege sich zu vergewissern, daß ein solches nicht vorhanden sei. Eine solche Anweisung wäre vielleicht am Platze gewesen, wenn der Wechselverkehr sich auf den Handelsstand, auf Personen beschränkte, welche ihre Geschäfte in von der Wohnung getrennten Lokalen zu betreiben pflegen; wenn demnach in jedem Falle eine thatsächliche Vermutung für das Bestehen eines Geschäftslokales stritte. Davon kann jedoch bei der Erstreckung der Wechselfähigkeit auf alle Vertragsfähige nicht die Rede sein. Die Erfahrung zeigt, daß eine beträchtliche Anzahl von Personen, die nicht Kaufleute sind und eigene Geschäftslokale nicht halten, wechselmäßige Verpflichtungen eingehen. Rücksichtlich dieser Klasse von Wechselschuldnern würde die grundsätzliche Nötigung des Protestbeamten zu vorgängigen Erörterungen über das Bestehen eines Geschäftslokales auf eine leere, den Wechselverkehr zwecklos erschwerende Formalität hinauskommen. Auch Satz 3 des Artikels 91 spricht nicht für die gegenteilige Auffassung. Derselbe läßt die Frage, ob der Notar oder Gerichtsbeamte vor allem nach dem Geschäftslokale zu forschen und erst, wenn er dieses nicht findet, die Wohnung aufzusuchen habe, ganz unberührt, bestimmt vielmehr lediglich, was geschehen muß, wenn die Nachfrage nach dem einen oder dem anderen Lokale fruchtlos bleibt; dahingestellt, welches von beiden gegebenen Falls für den richtigen Protestort zu achten ist. Weit eher wäre zu sagen, der 3. Satz unterstütze die mildere Auslegung. Denn wollte der Gesetzgeber wirklich für jeden Protest die vorgängige Ausmittelung eines Geschäftslokales und einen urkundlichen Nachweis der deshalb getroffenen Veranstaltungen fordern, so hätte es nahe gelegen, gerade an dieser Stelle der Wechselordnung eine hierauf bezügliche Vorschrift zu geben, nicht bloß im allgemeinen vorzuzeichnen, wie bei erfolgloser Nachfrage nach Geschäftslokal oder Wohnung zu verfahren sei. Zu Angaben über die Gründe, welche den Protestbeamten bestimmt haben, in dem letzteren und nicht in dem ersteren Lokale seine Amtshandlung zu vollziehen, verpflichtet ihn der Artikel 91 so wenig, als eine andere Gesetzesbestimmung. Artikel 88 führt in Nr. 4 unter den Protesterfordernissen schlechthin nur die Angabe des Ortes auf, an welchem das an den Protestaten gestellte Begehren geschehen oder ohne Erfolg versucht worden ist.
Bei dem im Obigen dargelegten Stande der Gesetzgebung und da ferner einerseits zwar von dem Protestbeamten die Bethätigung der nötigen Sorgfalt in der Aufsuchung des Protestaten und der Wahl des Protestortes verlangt werden muß, andererseits aber auch Formerfordernisse, die das Gesetz weder dem Wortlaute, noch dem deutlich erkennbaren Sinne nach hinstellt, in dasselbe nicht hineingetragen werden dürfen, war der vom Reichsoberhandelsgerichte (Entsch. Bd. 25 Nr. 6 S. 30 flg.) ausgesprochenen Ansicht beizutreten, daß die Beurteilung der Gesetzmäßigkeit des Protestes in Bezug auf das Protestlokal von der Beschaffenheit der Umstände abhängt. Drei Möglichkeiten sind denkbar. Der Wechsel, nach Befinden auch die Protesturkunde, ergeben, daß der Protestat zu den Personen gehört, welche regelmäßig eines Geschäftslokales sich bedienen; oder sie ergeben, daß er eine von den Personen ist, welche gewöhnlich kein derartiges Lokal besitzen; oder endlich sie deuten weder das Vorhandensein, noch das Nichtvorhandensein eines Geschäftslokales an. Ersteren Falles ist der Mangel eines Geschäftslokales nach der Vorschrift in Satz 3 des Art. 91 festzustellen und im Proteste zu verlautbaren, soll ein in der Wohnung erhobener Abwesenheitsprotest als gültig betrachtet werden. Im zweiten Falle steht es der Wirksamkeit eines solchen Protestes nicht entgegen, wenn die Protesturkunde etwaiger vergeblicher Bemühungen um die Ausmittelung eines Geschäftslokales nicht gedenkt. Von dem dritten Falle muß das Nämliche gelten. Der Vorwurf nachlässigen Verhaltens bei der Aufsuchung des Protestaten trifft den Notar nicht, wenn er unter Verhältnissen, welche das Bestehen eines Geschäftslokales nicht wahrscheinlich machen, von einer Nachfrage danach absieht und sich sofort zur Protestaufnahme in die Wohnung begiebt. Die bloße Möglichkeit, daß der in der Wohnung nicht vorgefundene Protestat auch noch ein Geschäftslokal haben kann, bietet keinen zureichenden Grund, die Ordnungsmäßigkeit des Protestes in Zweifel zu ziehen.
Hier handelt es sich um einen Fall der dritten Gattung. Der gegenwärtige Wechsel und Protest führt den Trassaten nur mit seinem Namen auf, ohne Standes- und Gewerbsbezeichnung und ohne weiteren Zusatz, als das der Wohnortsangabe (Leipzig) beigefügte Wort: "Waldstraße". Dieser Zusatz erscheint einflußlos. Mutmaßlich bezweckt er nur die Unterscheidung des Bezogenen von anderen Personen gleichen Namens. Ein Hinweis darauf, daß etwa die Zahlstelle in der an der Waldstraße belegenen Wohnung zu suchen sei, liegt darin so wenig, als eine Andeutung über das Bestehen eines in der genannten Straße befindlichen Geschäftslokales.
Unter solchen Umständen war dem Richter erster Instanz ein Anlaß, die Formrichtigkeit des Protestes rücksichtlich des Protestortes zu prüfen, nicht gegeben; um so weniger, als der Beklagte den Protest mit tatsächlichen Einwendungen anzufechten nicht einmal versucht hatte. Ob der Beklagte mit dergleichen Einwendungen überhaupt zu hören gewesen wäre, braucht für jetzt nicht erörtert zu werden ... ."