RG, 09.07.1880 - II 137/80
1. Kann der Frachtvertrag als abgeschlossen angenommen werden, obgleich der Frachtbrief noch nicht nach Vorschrift des Eisenbahnbetriebsreglements abgestempelt ist?
2. Inwiefern kann die Klage aus einem nicht darin geltend gemachten rechtlichen Gesichtspunkte, zu dessen Prüfung es noch einer thatsächlichen Aufklärung bedarf, berücksichtigt werden?
Tatbestand
Infolge eines am 22. Mai 1875 in der Güterhalle des Bahnhofs der Hess. Ludwigsbahn zu Mainz ausgebrochenen Brandes wurden der Eisenbahnbedienstete R. und der Hausknecht eines Handlungshauses von dem dortigen Bezirksgericht der fahrlässigen Brandstiftung schuldig erklärt und zu Strafen verurteilt. Die Transportversicherungs-Gesellschaft Rheinisch-Westphälischer Lloyd, welche für die bei ihr versicherten, verbrannten Güter die Versicherungssumme an die Absender gegen Einsetzung in deren Rechte bezahlt hatte, klagte gegen die beiden Verurteilten und gegen die Hess. Ludwigsbahn auf Ersatz der bezahlten Beträge. Die Ludwigsbahn setzte der ihr gegenüber auf Art. 1384 Code civil gestützten Klage die Einrede entgegen, daß sie nach den, mit den Versendern der Waren abgeschlossenen Frachtverträgen nur bis zur Höhe des Normalsatzes von 60 Mark für 50 Kilogramm entschädigungspflichtig sei. Dagegen machte die Klägerin unter Bezugnahme auf §§. 49 und 55 des Eisenbahn-Betriebsreglements vom 11. Mai 1874 geltend, daß ein Frachtvertrag noch nicht zustandegekommen sei, weil die Aufdrückung des Expeditionsstempels auf den Frachtbriefen nicht stattgefunden habe und die vorläufige Aufnahme der Waren in die Lagerräume als ein außerhalb des Frachtvertrags stehendes Depositionsgeschäft angesehen werden müsse.
Beide vordere Instanzen haben die Klage gegen die Hess. Ludwigsbahn abgewiesen.
Auf die von der Klägerin eingelegte Revision hat das Reichsgericht das Urteil des Oberlandesgerichts insoweit aufgehoben, als die Abweisung der Klage auch hinsichtlich des Normalsatzes der Entschädigung bestätigt worden, im übrigen aber die Revision zurückgewiesen, aus folgenden Gründen:
Gründe
"Das Oberlandesgericht hat thatsächlich angenommen, es sei nicht erwiesen, daß die über die verbrannten Waren lautenden Frachtbriefe zur Zeit des Brandes bereits abgestempelt gewesen seien, gleichwohl aber entschieden, daß die Haftbarkeit der Hessischen Ludwigsbahn auf den Normalsatz von 60 Mark für 50 Kilogramm beschränkt sei.
Nach Art. 395 H.G.B. haftet der Frachtführer für den Schaden, welcher durch Verlust oder Beschädigung des Frachtgutes seit der Empfangnahme bis zur Ablieferung entstanden ist; diese Verpflichtung kann nach Art. 423 H.G.B. durch das Eisenbahn-Betriebsreglement nicht zum voraus ausgeschlossen und nur in der durch die folgenden Artikel zugelassenen Weise, mithin gemäß Art. 427 Nr. 1 durch Verabredung eines Normalsatzes, beschränkt werden. Indem das Eisenbahn-Betriebsreglement vom 11. Mai 1874 im §. 49 bestimmt, daß der Frachtvertrag durch die Ausstellung des Frachtbriefes seitens des Absenders und durch die zum Zeichen der Annahme erfolgende Aufdrückung des Expeditionsstempels geschlossen werde, sollte der für den Beginn der Lieferfristen, und, der Haftpflicht entscheidende Zeitpunkt des Vertragsabschlusses und der Empfangnahme des Frachtgutes in einer äußerlich scharf hervortretenden Form bezeichnet werden. Dadurch ist aber nicht ausgeschlossen, daß in einem einzelnen Falle der Beweis über einen früheren Abschluß des Frachtvertrages in anderer Weise geführt werde. Im vorliegenden Falle hat nun das Oberlandesgericht den Konsens der Kontrahenten über Inhalt und Bedingungen des Frachtvertrags dahin festgestellt, daß die Absender der Waren, indem sie solche mit einem auf dem Reglement fußenden Frachtbriefe der Bahn übergaben, ohne einen höheren Wert zu deklarieren, sich dem durch das Reglement bestimmten Normalsatze im Falle der Entschädigung unterworfen hätten, und daß gleichmäßig die Bahnverwaltung durch die Aufnahme des Frachtgutes jenes Anerbieten angenommen habe. Dabei geht das Oberlandesgericht von der Ansicht aus, daß, da die Kontrahenten den Vertragsabschluß und die Empfangnahme der Waren auf einen früheren Zeitpunkt als die Abstempelung der Frachtbriefe verlegt hätten, und somit die gesetzliche Haftpflicht der Eisenbahn aus Art. 395 H.G.B. mit diesem Zeitpunkt begonnen habe, auch die Vereinbarung des Normalsatzes als das Korrelat dieser erhöhten Haftpflicht nach §. 64 Absatz 2 und §. 68 des Betriebs-Reglements mit demselben Zeitpunkt wirksam geworden sei. Bei diesen Ausführungen sind die Bestimmungen des Handelsgesetzbuchs über den Frachtvertrag richtig angewandt. Anders läge der Fall, wenn eine vorläufige Annahme der Güter gegen Empfangsbescheinigung im Sinne von §. 55 des Reglements stattgefunden hätte, weil es sich dann fragen würde, ob nicht etwa ein selbständiges, dem Frachtvertrage vorhergehendes Aufbewahrungsgeschäft angenommen werden müßte; das Oberlandesgericht hat aber nicht eine solche vorläufige Aufnahme, sondern den Abschluß des Frachtvertrags selbst mit der Maßgabe festgestellt, daß der Transport nicht sofort begonnen habe, was für die Beurteilung der Haftpflicht ohne Einfluß ist ... .
War hiernach der Anspruch der Klägerin auf den Betrag des Normalstes beschränkt, so mußte die Verurteilung der Beklagten zu diesem Betrage aber auch ausgesprochen und nötigenfalls der Klägerin zur Aufstellung der erforderlichen Berechnung Gelegenheit gegeben werden. Dem Willen und dem Interesse der Klägerin entsprach es jedenfalls, wenn die Klage in ihrem vollen Umfange durch Art. 1384 Code civil nicht gerechtfertigt sein sollte, wenigstens für diese geringere, in dem Begehren enthaltene Summe ein Urteil zu erlangen. Indem das Oberlandesgericht annahm, es könne in dieser Richtung eine Verurteilung nicht ausgesprochen werden, weil die Klage ausdrücklich jeden Anspruch aus dem Frachtverträge ausschließe und die Klägerin auch eine Berechnung des Normalsatzes hätte vorlegen müssen, hat dasselbe den §. 279 Abs. 1 C.P.O. unrichtig angewandt und die §§. 130 und 272 C.P.O. verletzt. Es mußte deshalb in diesem Punkte das angefochtene Urteil aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen werden."