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RG, 06.10.1920 - I 135/20

Daten
Fall: 
Verlust des Eisenbahnfrachtguts
Fundstellen: 
RGZ 100, 103
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
06.10.1920
Aktenzeichen: 
I 135/20
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Lübeck, Kammer für Handelssachen
  • OLG Hamburg

Hat die Eisenbahn bei Verlust des Frachtguts den gemeinen Handelswert oder den gemeinen Wett auch dann zu ersetzen, wenn der Berechtigte dadurch einen Gewinn erzielt, der die in der BVO. gegen Preistreiberei vom 8. Mai 1918 gezogenen Grenzen überschreitet?

Tatbestand

Die Klägerin verlangt von der beklagten Eisenbahngesellschaft Schadensersatz für 1859 Liter Moselwein, die während der Beförderung mit der Bahn Ende August 1918 in Verlust geraten sind. Der Berechnung des Schadens legt sie den gemeinen Handelswert zugrunde. Die Beklagte erklärt diese Berechnung für unzulässig, weil der Wein dreiviertel Jahr vor dem Verluste für die Hälfte des jetzt verlangten Preises eingekauft worden sei, mithin die Klägerin bei ihrer Schadensberechnung einen Gewinn erzielen würde, der durch die Bundesratsverordnung gegen Preistreiberei vom 8. Mai 1918 verboten sei. Die Beklagte hat deshalb nur einen Teil des eingeklagten Betrags bezahlt.

Das Landgericht gab der Klage in vollem Umfange statt. Das Oberlandesgericht wies die Berufung der Beklagten zurück. Auch die Revision hatte keinen Erfolg.

Gründe

§ 430 HGB. bestimmt, daß, wenn ein Frachtführer für gänzlichen oder teilweisen Verlust des Frachtguts Ersatz leisten muß, der gemeine Handelswert oder der gemeine Wert zu ersetzen ist, den derartiges Gut am Ort und zur Zeit der Ablieferung hatte. Nach § 457 HGB., § 88 EVO. sind statt dessen für die Ersatzpflicht der Eisenbahn Ort und Zeit der Absendung maßgebend. Diese Bestimmung ist getroffen, um höhere Schadensersatzforderungen, die sich auf ein weitergehendes subjektives Interesse des Schadensersatzberechtigten gründen, auszuschließen. Es soll nicht ein individueller, sondern ein objektiver Maßstab angelegt werden (vgl. Lutz, Protokolle Teil 9 S. 4708 bis 4716). Aus der Bestimmung folgt, daß es anderseits auch nicht in Betracht kommt, wenn das subjektive Interesse des Schadensersatzberechtigten ein geringeres ist (vgl. ROHG. Bd. 13 S. 393).

Während des Krieges ist nun durch die BVO. vom 8. Mai 1918 derjenige für strafbar erklärt worden, welcher sich vorsätzlich für Gegenstände des täglichen Bedarfs Preise versprechen läßt, die einen übermäßigen Gewinn enthalten.

Das Berufungsgericht hat festgestellt, daß die Klägerin das Frachtgut dreiviertel Jahr vor dem Verlust um mehr als 100 % billiger eingekauft hatte und somit bei Berechnung des Schadensersatzes nach dem gemeinen Handelswert, der zur Zeit der Absendung bestand, einen Gewinn machen würde, den sie nach der genannten Verordnung durch Wiederverkauf nicht machen durfte. Die zu entscheidende Frage spitzt sich also darauf zu, ob durch jene Verordnung der objektive Maßstab des § 457 HGB. eine Einschränkung erfahren hat. Diese Frage ist zu verneinen. Die Verordnung spricht nur von dem Falle, daß jemand für Gegenstände des täglichen Bedarfs Preise fordert oder sich versprechen läßt, hat also nur den Fall einer Veräußerung derartiger Gegenstände im Auge. Bei einer Veräußerung soll kein übermäßiger Gewinn erzielt werden. Da die Übermäßigkeit des Gewinns das Verhältnis von Einkaufspreis und Verkaufsforderung zur Grundlage hat, so sind also bei einer Veräußerung subjektive Gründe (die Höhe des Einkaufspreises im einzelnen Falle) ausschlaggebend oder jedenfalls bedeutungsvoll. Aber diese gesetzliche Anordnung ist eben nur für den Kreis derjenigen Rechtsbeziehungen oder Rechtsgeschäfte getroffen, in denen gegen Entgelt eine Veräußerung erfolgt. Die sämtlichen Nummern des § 1 der Verordnung haben Bezug entweder unmittelbar auf Veräußerungsgeschäfte oder auf Vermittelung solcher Geschäfte oder auf die Zurückhaltung von Waren zum Zwecke späterer Veräußerung zu übermäßigem Preise oder auf Steigerung des Marktpreises. Die Verordnung will verhindern, daß der einzelne durch Veräußerung übermäßigen Gewinn macht und daß der Preisstand künstlich getrieben wird. Das ist der Zweck des Gesetzgebers. Dann aber kann man diese Bestimmungen nicht entsprechend auf einen ganz anders gelagerten Fall anwenden, wie er hier gegeben ist. Hier handelt es sich um eine Schadensersatzforderung. die sich nicht gegen den Vertragsgegner bei einem Veräußerungsgeschäft, sondern gegen einen Dritten richtet, die auf den Preisstand ohne allen Einfluß und außerdem der Höhe nach anderweit nach anderen Gesichtspunkten gesetzlich geregelt ist. Unter solchen Umständen kann nicht angenommen werden, daß die BVO. auch nur ihrem Sinne nach diese andere gesetzliche Regelung habe einschränken oder umgestalten wollen. Vielmehr verbleibt es bei der im § 430 HGB. vorgeschriebenen Bestimmung der Schadensersatzforderung nach objektiven Grundsätzen, und es kann auch nicht in Betracht kommen, ob der derzeitige Preisstand des Handelswerts etwa durch Geschäfte mit beeinflußt ist, die gegen die angeführte BVO. verstoßen haben.

Diesen Ausführungen steht die bisherige Rechtsprechung des Reichsgerichts nicht entgegen. Allerdings ist anerkannt (RGZ. Bd. 90 S. 305), daß der Käufer von seinem säumigen Verkäufer im Wege der abstrakten Schadensberechnung nicht einen Schadensersatz fordern kann, der einen unzulässigen Gewinn enthält, während bei konkreter Berechnung im Falle eines Deckungskaufs gegenteilig entschieden worden ist (RGZ. Bd. 93 S. 133). Aber die Entscheidung im Falle der abstrakten Berechnung beruhte eben darauf, daß der Käufer von seinem Verkäufer nicht Ersatz eines entgangenen Gewinns verlangen darf, den er bei einem Weiterverkaufe nicht erzielen konnte, weil er angesichts seines niedrigen Einkaufspreises nicht zum Marktpreise weiterverkaufen durfte. Die Entscheidung bezieht sich also nur auf die Ansprüche aus einem Veräußerungsgeschäfte. Sie kann nicht entsprechend auf Schadensersatzforderungen aus einem Frachtvertrage angewandt werden, weil für einen solchen die Höhe der Forderung andersartig, nämlich nach objektivem Maßstäbe geregelt ist.