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RG, 29.04.1919 - III 305/18

Daten
Fall: 
Beginn des Fristlaufs im Pensionsfestsetzungsverfahren
Fundstellen: 
RGZ 95, 295
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
29.04.1919
Aktenzeichen: 
III 305/18
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Beuthen
  • OLG Breslau

Unter welchen Voraussetzungen beginnt im Pensionsfestsetzungsverfahren der Lauf der Fristen zur Einlegung der Beschwerde an den Departementschef und zur Erhebung der gerichtlichen Klage?

Tatbestand

Der Kläger war aus seinem Dienste als Lokomotivführer infolge Verurteilung zu Gefängnis und Ehrverlust am 31. März 1904 entlassen worden und hatte mit einer im September 1907 erhobenen Klage wegen eines am 26. Dezember 1899 erlittenen Unfalls (Gehirnerschütterung durch Fall auf den Hinterkopf) eine Unfallspension gefordert. Diese Klage hat eine sachliche Würdigung und Entscheidung bisher nicht gefunden. Der Berufungsrichter hatte nämlich den Anspruch abgewiesen: zunächst durch Urteil vom 1. Oktober 1908, weil dem Kläger infolge seiner strafgerichtlichen Verurteilung Rechte aus dem Beamtenfürsorgegesetz vom 2. Juni 1902 überhaupt nicht zustünden; sodann, nach Aufhebung dieser Entscheidung durch Revisionsurteil vom 19. Oktober 1909, unter dem 11. Juni 1910 wegen Nichtanwendung des Anspruchs innerhalb der nach § 8 Abs. 2 des Fürsorgegesetzes vorgeschriebenen Frist. Gegen diese rechtskräftig gewordene Entscheidung erhob der am 26. Juni 1912 wegen Geisteskrankheit entmündigte Kläger durch den ihm bestellten Vormund Ende Juni 1913 die Nichtigkeitsklage, da der Kläger schon zur Zeit der Erhebung der Klage, im September 1907, geisteskrank gewesen sei. Dies und folgeweise die Nichtigkeit des Urteils vom 11. Juni 1910 stellten die auf die Nichtigkeitsklage nach einander ergangenen beiden Entscheidungen des Berufungsgerichts fest, wiesen aber den Klaganspruch wiederum ab: die durch Revisionsurteil vom 30. Mai 1916 aufgehobene Entscheidung vom 18. November 1915 wiederum wegen Versäumung der Anmeldungsfrist, - während die nunmehr von der Revision angefochtene Entscheidung vom 22. April 1918 damit begründet ist, daß gegen die den Anspruch ablehnende Entscheidung der Eisenbahndirektion vom 9. Mai 1906 die Beschwerde an den Departementschef nicht rechtzeitig binnen der gesetzlichen sechsmonatigen Frist, sondern erst verspätet am 18. März 1907 erhoben worden sei.

Die Revision des Klägers hatte wiederum Erfolg.

Gründe

"Die Revision beschwert sich darüber, daß der Berufungsrichter die unter Beweis gestellte Behauptung des Klägers, er sei bereits seit Dezember 1905, schon zur Zeit seines ersten Unfallspensionsgesuchs vom 7. Dezember 1905, geisteskrank gewesen, für unerheblich erachtet und den Beweis nicht erhoben hat. Eines Eingehens auf diesen Revisionsangriff bedarf es nicht. Denn schon aus einem andern, weiter reichenden Grunde ergibt sich die Aufhebung des angefochtenen Urteils.

Es ist ein aus den Gesetzen folgender, ständig festgehaltener Grundsatz der Rechtsprechung, daß die Bestimmungen der Fristen zur Einholung der den Rechtsweg erst eröffnenden Vorentscheidungen der Verwaltungsbehörden ebenso objektive, jedem Belieben entzogene Normen sind, wie die Vorschriften über die Fristen zur Erhebung der Klage nach Erschöpfung der Verwaltungsinstanzen. Erneuerte Bitten und Anträge vermögen die gesetzlichen Wirkungen des Fristablaufs nicht zu beseitigen, - auch dann nicht, wenn die zu freiwilliger Gewährung der erhobenen Bitten jederzeit befugte Verwaltungsbehörde auf solche Bitten und Anträge sachlich eingeht und etwa weitere Ermittelungen anstellt. Andernfalls wäre es solchen immer wieder wiederholten Bitten und Anträgen anheimgegeben, die Fristen je aufs neue schrankenlos hinauszuschieben und so den Zweck der gesetzlichen Fristbestimmungen, die Klarlegung der rechtlichen Ansprüche in möglichst kurzer Zeit, völlig zu vereiteln, (vgl. ROHG. Bd. 24 S. 416; RGZ. Bd. 26 S. 24, Bd. 47 S. 46). Dieser Grundsatz setzt aber voraus, daß der eine Unfallspension beantragende Beamte klar erkennen konnte und mußte, sein Anspruch sei in dem einzelnen Bescheide von der betreffenden Verwaltungsinstanz endgültig, für immer und für jedwede zukünftige Neugestaltung der Unfallsfolgen, abgelehnt. Andernfalls würden die Fristen zur Anrufung des Departementschefs und zur Erhebung der gerichtlichen Klage zu gefährlichen, Unsicherheit, Streit und unbilligen Rechtsverlust erzeugenden Verfahrensvorschriften werden, während sie doch in beiderseitigem Interesse die Rechtsverfolgung durch klare und kurze Abstufung des Verfahrens einer möglichst schnellen Entscheidung zuführen wollen.

Vorliegend handelt es sich um die abweisenden Bescheide der Eisenbahndirektion vom 2. April und 9. Mai 1906. Der Berufungsrichter erachtet den zweiten Bescheid vom 9. Mai für den entscheidenden und rechnet von ihm ab die sechsmonatige Frist. Es ist nicht ersichtlich und verständlich, warum der erste Bescheid vom 2. April auf die Seite geschoben werden durfte; war schon er ein endgültiger, so mußte die Frist bereits vom 2. April berechnet werden. Wenn so schon der Berufungsrichter selbst einem Zweifel und einem Belieben in der Auffassung der beiden Bescheide Raum gibt, dann kann auch dem Kläger nicht zugemutet werden, daß er über die Natur der Bescheide zu zweifelsfreier Klarheit kam; dann war es möglich und nahe liegend, daß der Kläger auch den zweiten Bescheid noch nicht für einen in der Instanz endgültigen erachtete. Zudem stand die Ursächlichkeit des Unfalls für die Dienstunfähigkeit und die geistige Erkrankung des Klägers in Frage. Die fortschreitende Entwickelung des Zustandes und der Krankheit des Klägers konnte einen neuen, gegenwärtigen, von den früheren Bescheiden noch nicht umfaßten, deren tatsächliche Grundlage überholenden Befund ergeben. Dementsprechend ist der Minister verfahren. Auf die Eingabe des Klägers vom 18. März 1907 - die der Minister in seiner Verfügung vom 24. Juli 1907 als eine "Vorstellung" bezeichnet, nicht schon, wie in der Auskunft an den Berufungsrichter vom 21. Dezember 1917, als eine "Beschwerde gegen die ablehnenden Bescheide der Eisenbahndirektion vom 2. April und 9. Mai 1906" - hat er dem Kläger am 30. April 1907 durch die Eisenbahndirektion eröffnen lassen, daß dieser innerhalb der nächsten 8 Tage durch einen bestimmten Arzt untersucht werden solle, und hat dem Kläger sodann unter dem 24. Juli 1907 den Bescheid gegeben: "Der von Ihnen erhobene Anspruch auf Gewährung einer Pension nach dem Unfallfürsorgegesetz ist unbegründet. Nach dem vorliegenden ärztlichen Gutachten sind Sie infolge des am 26. Dezember 1899 erlittenen Betriebsunfalls nicht dienstunfähig geworden. Auch ist das Ihre Erwerbsfähigkeit beschränkende Nervenleiden auf den erwähnten Betriebsunfall nicht zurückzuführen." Dieser Bescheid verwies also in keiner Weise auf die vorgängigen Eisenbahndirektionsbescheide und hatte nicht den diesen seiner Zeit zugrunde gelegten, sondern den nunmehr neu vorhandenen und erhobenen Krankheitszustand und Untersuchungsbefund zum Gegenstande, geschweige daß er eine an sich jeden weiteren Rechtsanspruch ausschließende Wirkung der vor länger als sechs Monaten erlassenen Direktionsbescheide auch nur andeutete. Die so lautende Verfügung des Ministers konnte und durfte die Auffassung bestätigen, es seien die vorgängigen Direktionsbescheide nur je vorläufige, der späteren Entwicklung der Krankheit und den damit später sich ergebenden Beweismöglichkeiten nicht vorgreifende Ablehnungen "zurzeit" gewesen; sie konnte und durfte sehr wohl als erster und zugleich letzter schlechthin endgültiger Verwaltungsbescheid erscheinen.

Diese besondere Zweifelhaftigkeit und Unklarheit der Sachlage schützt vor dem Präjudiz des Verlustes des Klagrechts infolge fruchtlosen Ablaufs einer mit den Direktionsbescheiden beginnenden Beschwerdefrist. Sie schützt sowohl den Kläger selbst, falls er bis zum 9. November 1906 noch nicht geisteskrank war, als dessen Vormund, falls der Kläger schon seit Dezember 1905 geisteskrank war oder während der sechs Monate vom 9. Mai bis 9. November 1906 in Geisteskrankheit verfiel. Bestand die Geisteskrankheit schon seit Dezember 1905, so beruhten die nicht etwa von Amts wegen zu erlassenden und erlassenen, sondern lediglich auf Antrag ergangenen Direktionsbescheide vom 2. April und 9. Mai 1906 auf einer nichtigen Grundlage, nämlich auf dem Unfallpensionsgesuch des geisteskranken Klägers vom 7. Dezember 1905. welches ihr alleiniger Anlaß und dessen Erledigung ihr alleiniges Ziel war, und sie konnten dem geisteskranken Kläger nicht zugestellt werden; sie entbehrten also jeder Rechtswirtsamkeit. Diesfalls lag dem Vormunde, der schon in der Nichtigkeitsklage von 1913 hatte behaupten lassen, der Kläger sei bereits mehrere Jahre vor der Klage vom September 1907 geisteskrank gewesen, nur ob, die Verwaltungsvorbescheide nachzuholen, und dies hat er während des weiter laufenden Rechtsstreits in der Zeit von November 1917 bis Februar 1918 getan. Die Nachholung genügt auch für den Fall, daß der Kläger gerade erst nach den ihm noch richtig zugestellten Direktionsbescheiden vom 2. April und 9. Mai 1906 geisteskrank geworden war und der Vormund diese Gestaltung des Verlaufs, obwohl sie bisher trotz vieler ärztlicher Untersuchungen und Zeugnisse nicht festgestellt ist, etwa erkennen konnte. Auch der Vormund durfte bei voller Kenntnis aller vorgängigen Verwaltungsverfügungen trotz des gerichtsseitigen Hinweises auf § 23 PensG. im Termine vom 6. April 1917 die Direktionsbescheide als noch nicht endgültige, also als noch nicht eine Beschwerdefrist eröffnende erachten. Es war sogar natürlich, daß ihm die ihm vom Berufungsrichter aufgebürdete Erkenntnis völlig fern bleiben mußte, nunmehr habe er die Sechsmonatsfrist einzuhalten und müsse nunmehr er im Jahre 1912 oder 1913 oder gar 1917 den Minister nochmals um Abänderung der Direktionsbescheide vom April/Mai 1906 ersuchen, trotzdem der Beklagte in dem auf die Klage vom September 1907 anhebenden Rechtsstreit immer wieder die materielle Richtigkeit des Ministerbescheids vom 24. Juli 1907 auf das nachdrücklichste behauptet, dargelegt und unter Beweis gestellt hatte.

Das Berufungsurteil kann hiernach nicht aufrecht erhalten bleiben; es muß vielmehr auch dieser zweite gegen den Klaganspruch erhobene formelle Einwand zurückgewiesen und dem Berufungsrichter nunmehr die sachliche Entscheidung über den Klaganspruch aufgegeben werden."