RG, 26.09.1884 - II 292/84

Daten
Fall: 
Begriffs des "unabwendbaren Zufalls"
Fundstellen: 
RGZ 12, 375
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
26.09.1884
Aktenzeichen: 
II 292/84
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Zabern
  • OLG Kolmar

Wird der Begriff des "unabwendbaren Zufalles" (§.211 C.P.O.) dadurch ausgeschlossen, daß die Partei, welche die Bewilligung des Armenrechtes für die Berufungsinstanz nachsucht, es unterlassen hat, vorläufig die Berufung einlegen zu lassen?

Tatbestand

Die Klägerin suchte beim Oberlandesgerichte die Bewilligung des Armenrechtes nach, um die Berufung gegen ein Urteil des Landgerichtes einzulegen. Diese Bewilligung ist ihr wegen Aussichtslosigkeit der weiteren Rechtsverfolgung versagt, auf ihre Beschwerde vom Reichsgerichte aber erteilt worden. - Der ihr nunmehr beigegebene Anwalt, welcher die Berufungsschrift nicht mehr innerhalb der Notfrist zustellen lassen konnte, beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Die Berufung ist jedoch als unzulässig verworfen worden, weil die Klägerin nicht verhindert gewesen sei, wenigstens nicht glaubhaft gemacht habe, daß sie nicht soviel Mittel besitze, um das Rechtsmittel einstweilen einlegen lassen zu können. Das Reichsgericht hat das Urteil aufgehoben und die Wiedereinsetzung erteilt aus folgenden Gründen:

Gründe

"Die angefochtene Entscheidung verlangt von einer Partei, welche die Bewilligung des Armenrechtes behufs Einlegung der Berufung nachsucht, daß dieselbe, wenn es ihr irgend möglich, sofort auch für den Fall Fürsorge treffe, daß das Berufungsgericht die weitere Rechtsverfolgung für mutwillig oder aussichtslos erachte und ihr deshalb die nachgesuchte Bewilligung versage.

Wenn es nun auch richtig ist, daß durch solche Fürsorge die Notfrist gewahrt werden könnte, so widerspricht doch die Zumutung an die Partei, daß sie in der Voraussicht einer möglichen ungünstigen Entscheidung des Berufungsgerichtes mitunter nicht unerhebliche Kosten aufwende, sowohl der Natur der Sache als auch dem Gesetze.

Der §. 106 C.P.O. erkennt der Partei, welche außer stande ist, ohne Beeinträchtigung des für sie und ihre Familie notwendigen Unterhaltes die Kosten des Prozesses zu bestreiten, einen Anspruch, also das Recht auf Bewilligung des Armenrechtes zu, vorausgesetzt, daß die beabsichtigte Rechtsverfolgung nicht als mutwillig oder aussichtslos erscheine. Betreffs dieser letzteren Voraussetzung ist von der das Armenrecht nachsuchenden Partei anzunehmen, daß sie selbst davon ausgehe, ihre Rechtsverfolgung sei nicht aussichtslos. Demgemäß wird sie auch von dem mit Prüfung ihres Gesuches befaßten Gerichte erwarten, daß dieses richtig (in ihrem Sinne) entscheiden, d. h. zum gleichen Ergebnisse gelangen werde.

Mithin wird durch diesen, von der Natur der Sache gebotenen Standpunkt der Partei hinlänglich erklärt und gerechtfertigt, warum sie die Aufwendung der Kosten für eine vorsorgliche Einlegung des Rechtmittels unterläßt; es beruht also die Unterlassung dieser Vorsicht nicht, keinesfalls notwendig, auf dem Irrtume, als ob die Frist schon mit dem Gesuche um Bewilligung des Armenrechtes gewahrt sei.

Fällt nun aber die Entscheidung zu Ungunsten der Partei aus, wird dieselbe jedoch in der Beschwerdeinstanz für unrichtig befunden, so liegt, wenn die Partei in Erreichung ihres Gesuches um Bewilligung des Armenrechtes und der Beschwerde nichts versäumt hat, unzweifelhaft ein unabwendbarer Zufall vor, durch welchen dieselbe an Einhaltung der Notfrist verhindert worden ist. Die Zumutung an die Armenpartei, einstweilen Kosten für den möglichen Fall aufzuwenden, daß das Berufungsgericht einen ihr ungünstigen Beschluß fasse, welcher vom Beschwerdegerichte aufgehoben wird, findet im Gesetze keine Grundlage, stellt sich vielmehr als eine ungerechtfertigte Schmälerung derjenigen Rechte und Vorteile dar, welche das Gesetz (§. 107 C.P.O.) mit der Bewilligung des Armenrechtes ohne irgend welche Unterscheidung oder Einschränkung gewährt.

Demgemäß war das Urteil wegen Verletzung der §§. 211. 106. 107 C.P.O. aufzuheben.

Da sich aus dem Thatbestande zu demselben ergiebt, daß der Klägerin das landgerichtliche Urteil am 12. Dezember zugestellt worden ist, sie bereits am 14. Dezember um Bewilligung des Armenrechtes gebeten hat, dieses ihr durch Beschluß des Oberlandesgerichtes vom 27. Dezember versagt, jedoch am 16. Januar vom Reichsgerichte bewilligt und schon am 24. Januar die Berufung zugestellt worden ist, sind alle Voraussetzungen des §. 211 C.P.O. dargethan und konnte daher zugleich in der Sache erkannt und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand erteilt werden."