RG, 30.04.1884 - I 97/84
Ist die Berufung zulässig, wenn in erster Instanz (abgesehen von dem Kostenpunkte) vollständig nach den Anträgen des Berufungsklägers erkannt ist?
Einfluß der Einlegung einer in der Hauptsache unzulässigen Berufung auf die Anfechtbarkeit der in erster Instanz ergangenen Entscheidung des Kostenpunktes.
Aus den Gründen
"Die Klägerin hat am 8. August 1883 gegen die Beklagte eine Klage auf Zahlung des Kaufpreises für geliefertes Papier im Betrage von 564,40 M nebst sechs Prozent Zinsen seit dem 12. September 1883 erhoben, in dem Verhandlungstermine vom 9. Oktober 1883 aber, nachdem die Beklagte ihr am 12. September 557,90 M durch Postanweisung übersandt hatte, ihren Klagantrag auf Verurteilung der Beklagten in den Restbetrag von 6,50 M - ohne auch Zinsen von dieser Summe zu beanspruchen - beschränkt. Nachdem der erste Richter diesem Antrage gemäß erkannt und die Beklagte auch in die Prozeßkosten verurteilt hatte, soweit sie entstanden wären, wenn das Prozeßobjekt von Anfang an nur 6,50 M betragen hätte, wogegen alle übrigen Prozeßkosten der Klägerin auferlegt wurden, hat Klägerin hiergegen Berufung mit dem Antrage eingelegt, die Beklagte auch zur Zahlung von sechs Prozent Zinsen von 6,50 M seit dem 12. September 1883 zu verurteilen und der Beklagten sämtliche Kosten aufzuerlegen.
Die von der Klägerin gegen das ihre Berufung als unzulässig verwerfende oberlandesgerichtliche Urteil ist nach §. 509 Ziff. 1 C. P. O. trotz fehlender Revisionssumme zwar zulässig, aber unbegründet.
Der Klägerin ist durch das Urteil erster Instanz in der Sache selbst alles zugesprochen, was sie (nach Zurücknahme ihres in der Klageschrift erhobenen weitergehenden ursprünglichen Klagantrages) beansprucht hatte. Es fragt sich daher, ob die Berufung statthaft ist, wenn - abgesehen von dem später zu erwähnenden Kostenpunkte - in erster Instanz ganz so erkannt ist, wie der Berufungskläger beantragt hatte. Diese Frage ist zwar in der Litteratur1 bejaht worden, vom Berufungsrichter aber mit Recht verneint, sodaß der von der Klägerin erhobene Revisionsangriff, der Berufungsrichter gehe von einem unrichtigen Begriffe des Rechtsmittels der Berufung aus, nicht zutrifft.
Allerdings besteht das Charakteristische bei dem Rechtsmittel der Berufung nach der Zivilprozeßordnung in dem den Parteien zustehenden Rechte auf ein novum judicium vor dem höheren Richter und auf eine vollständige abermalige Erörterung und Würdigung des Rechtsstreites in thatsächlicher und rechtlicher Beziehung, wobei die Parteien auch Angriffs- und Verteidigungsmittel, welche in erster Instanz nicht geltend gemacht sind, insbesondere neue Thatsachen und Beweismittel, vorbringen können, und Gegenstand der Verhandlung und Entscheidung alle einen zuerkannten oder aberkannten Anspruch betreffenden Streitpunkte sind, über welche in Gemäßheit der (Berufungs-) Anträge eine Verhandlung und Entscheidung erforderlich ist, selbst wenn darüber in erster Instanz nicht verhandelt und entschieden war (vgl. §§. 487. 491. 493. 499 C. P. O. ).
Kann man aber auch insoweit die Berufung als eine Fortsetzung des Verfahrens erster Instanz unter Ergänzungs- und Abänderungsmöglichkeit des erstinstanzlichen Prozeßstoffes bezeichnen, so fehlt doch andererseits der Berufungsklage und dem auf dieselbe zu erlassenden Urteile eine völlige Selbständigkeit, da die Berufungsklage immer nur auf die Anfechtung des ersten Urteiles innerhalb der durch die erstinstanzlichen Klaganträge gezogenen Grenzen gerichtet sein kann und eine Klagänderung nach §. 489 C. P. O. auch mit Einwilligung des Gegners unstatthaft ist, die Natur des Rechtsmittels es also mit sich bringt, daß das angefochtene Urteil immer die Grundlage der Verhandlung und Entscheidung in der Berufungsinstanz bildet (vgl. auch die Motive S. 305. 306). Infolge des den Parteien gestatteten Novenrechtes ist nun zwar die Verhandlung und Entscheidung in der Berufungsinstanz begrifflich nicht auf eine Prüfung der Richtigkeit des angefochtenen Urteiles nach Maßgabe des dem ersten Richter vorliegenden Prozeßstoffes beschränkt, sondern es sind die Parteien vielmehr berechtigt, auf Grund erst in der Berufungsinstanz geltend gemachter Angriffs- oder Verteidigungsmittel, insbesondere auch neu vorgebrachter Thatsachen und Beweise die Abänderung eines erstinstanzlichen Urteiles zu ihren Gunsten zu verlangen, obwohl dieses Urteil nach der damaligen Sachlage durchaus gerechtfertigt war. Die Erhebung neuer Ansprüche (im Gegensätze zu neuem Vorbringen) ist aber für die Berufungsinstanz nach §. 491 Abs. 2 C. P. O. grundsätzlich ausgeschlossen, weil - wie es in den Motiven heißt - der Gegenstand der Berufung durch die erste Instanz fixiert ist und das Rechtsmittel sich gegen die in erster Instanz erlassene Entscheidung richtet. Nun bilden zwar die Fälle des §. 240 Ziff. 2. 3 C. P. O. hiervon eine Ausnahme. Ohne Änderung des Klagegrundes auf Erweiterung des erhobenen Anspruches in der Hauptsache oder in bezug auf Nebenforderungen gerichtete Anträge sind daher auch in der Berufungsinstanz an sich noch zulässig, was sich überdies auch schon aus §. 240 verglichen mit §. 485 C. P. O. , sowie aus den Motiven S. 306 ergiebt.2
Allein diese Zulässigkeit der Erweiterung der Berufungsanträge über die in erster Instanz vom Berufungskläger gestellten Anträge hinaus hat zur notwendigen Voraussetzung, daß das Urteil erster Instanz dem Berufungskläger mindestens formell Grund zu einer Beschwerde bietet, indem es über irgend einen von ihm geltend gemachten Haupt- oder Nebenanspruch zu seinem Nachteile entscheidet. Wie dies nach dem früheren gemeinrechtlichen Prozesse die Voraussetzung jeder Appellation bildete, so liegt auch kein Grund zu der Annahme vor, daß der jetzigen deutschen Civilprozeßordnung eine abweichende Auffassung zum Grunde liege. Vielmehr ist aus verschiedenen Bestimmungen derselben das Gegenteil zu folgern. So ist nach §. 279 C. P. O. das Gericht überall, insbesondere auch bezüglich der Früchte, Zinsen und anderer Nebenforderungen (abgesehen von den Prozeßkosten) nicht befugt, einer Partei etwas zuzusprechen, was sie nicht beantragt hat, und wenn wegen einer Nebenforderung kein Antrag gestellt ist, so gilt dieselbe (vgl. §. 14 sub 5 des Einführungsgesetzes und §. 293 C. P. O.) weder als stillschweigend aberkannt, noch ist dieserhalb ein Ergänzungsurteil zulässig, da ein solches nach §§. 292 C. P. O. voraussetzt, daß ein nach dem Thatbestande von einer Partei geltend gemachter Anspruch bei der Endentscheidung übergangen ist. Um so weniger wird deshalb angenommen werden können, daß der Gesetzgeber, wenn das ergangene Urteil erster Instanz nicht schon aus anderen Gründen für die betreffende Partei beschwerend ist, zur Geltendmachung von Ansprüchen, die in erster Instanz gar nicht erhoben sind und nicht den Gegenstand des Rechtsstreites und der Entscheidung gebildet haben, sogar das Rechtsmittel der Berufung habe gewähren und ihr so die Umgehung der erstinstanzlichen Entscheidung zum Nachteile des Gegners habe gestatten wollen. Daß aber die Berufung einen dem Berufungskläger durch das erstinstanzliche Urteil gegebenen Beschwerdegrund voraussetzt, dessen Abhilfe er durch Einlegung des Rechtsmittels herbeizuführen bezweckt, laßt sich auch aus verschiedenen, sich auf die Berufung selbst beziehenden Bestimmungen der Civilprozeßordnung entnehmen. Denn schon der §. 472, nach welchem die Berufung gegen die in erster Instanz erlassenen Endurteile stattfindet, deutet an, daß eine in erster Instanz vorausgegangene nachteilige Entscheidung vorausgesetzt wird. Von solcher kann aber nicht die Rede sein, wenn in erster Instanz überall den Anträgen des Berufungsklägers gemäß erkannt ist und die Berufung nur zur Herbeiführung der Entscheidung des zweiten Richters über einen Antrag dienen soll, welcher der Entscheidung des eisten Richters gar nicht unterstellt war. Dasselbe gilt von den Bestimmungen des §. 480 Abs. 2 und der §§. 488. 498. 499 C. P. O. , nach welchen die Berufungsschrift die Erklärung, inwieweit das Urteil angefochten werde, und welche Abänderungen desselben beantragt werden, enthalten soll, bezw. das durch die Berufung angefochtene Urteil bei der mündlichen Verhandlung insoweit vorzutragen ist, als dies zur Prüfung der Richtigkeit der angefochtenen Entscheidung erforderlich ist, das Urteil erster Instanz nur insoweit abgeändert werden darf, als dies beantragt ist, und nur alle einen zuerkannten oder aberkannten Anspruch betreffenden Streitpunkte (selbst wenn über diese Streitpunkte in erster Instanz noch nicht verhandelt und entschieden war) den Gegenstand der Verhandlung und Entscheidung des Berufungsrichters bilden sollen. Auch hier wird immer vorausgesetzt, daß das Urteil erster Instanz, wie der Berufungsrichter ganz richtig angenommen hat, den Beschwerdegrund schon in sich selbst trägt, und daß also dagegen durch die Berufung Abhilfe gewährt werden soll. Ein solcher Beschwerdegrund kann aber nach §§ 279 C. P. O. unmöglich schon dadurch gegeben sein, daß ein nicht geltend gemachter Anspruch dem Berufungskläger nicht zuerkannt ist. Die nachträgliche Zuerkennung desselben in der Berufungsinstanz würde auch keine Abänderung des erstinstanzlichen Urteiles sein, sondern vielmehr nur eine Ergänzung desselben bilden, zu deren Beantragung es aber nach §. 292 C. P. O. ebenfalls an der gesetzlichen Voraussetzung fehlt. Hiernach erscheint es unzulässig, daß der Kläger, dessen in erster Instanz gestellten Anträgen gemäß erkannt ist, die Berufung erhebt, um seine Anträge in zweiter Instanz zu erweitern und eine umfassendere Verurteilung des Beklagten herbeizuführen. Wenngleich nach §. 491 Abs. 2 in Verbindung mit §. 240 Ziff. 3 C. P. O. die Erhebung solcher neuer Ansprüche auch noch in der Berufungsinstanz (insoweit dies ohne Änderung des Klagegrundes geschieht) an sich nicht unzulässig ist, so läßt sich dies doch im Beihalte der angeführten anderweitigen Bestimmungen des Gesetzes und in Berücksichtigung des Umstandes, daß auch nach der Civilprozeßordnung die Berufung den Charakter eines Rechtsmittels im Sinne der Anfechtung einer noch nicht rechtskräftigen Entscheidung des ersten Richters durch die beantragte Entscheidung vonseiten eines höheren Richters an sich trägt, die Berufungsinstanz mithin nicht lediglich eine Fortsetzung der ersten Instanz bildet, nur unter der Beschränkung verstehen, daß sich schon aus einer Vergleichung der Formel des erstinstanzlichen Urteiles mit den in erster Instanz vom Berufungskläger gestellten Anträgen ein Anlaß zur Einlegung der Berufung ergiebt. Mit Recht wird deshalb in Gruchot's Beiträgen Bd. 26 S. 144 gegen die entgegenstehende Ausführung von Kries bemerkt, daß einer der Gründe, aus welchen Kries die Revision gegen ein pro petitis lautendes Urteil für unzulässig erachtet, auch der Berufung gegen ein solches Urteil entgegensteht. Denn daß der vorige Richter ultra petita nicht erkennen durfte, die betreffende Partei also dadurch, daß nur nach ihren Anträgen erkannt ist, nicht benachteiligt sein kann, trifft auch bei der Berufung zu. Das einseitige Interesse der betreffenden Partei vermag es aber selbstverständlich nicht zu rechtfertigen, ein an sich unstatthaftes Rechtsmittel erst durch Hereinziehung eines neuen Objektes des Rechtsstreites als statthaft erscheinen zu lassen.
War aber hiernach die Einlegung der Berufung vonseiten der Klägerin in der Hauptsache (d. h. abgesehen von der Entscheidung des Kostenpunktes) an sich unstatthaft, so hat der Berufungsrichter dieselbe nach §. 497 C. P. O. mit Recht als unzulässig verworfen. Denn der Fall, wo ein in der Hauptsache selbst unzulässiges Rechtsmittel eingelegt wird, kann im Sinne und Geiste des §. 94 C. P. O.3 unmöglich anders behandelt werden, als wenn gegen die Entscheidung in der Hauptsache ein Rechtsmittel überhaupt nicht eingelegt ist."
- 1. vgl. Knies, Die Rechtsmittel des Civil- und Strafprozesses S. 51 flg. , dem auch z. B. die Kommentare zur C. P. O. von Struckmann und Koch (4. Aufl. ) Anm. 2 zu §. 489 und von Seuffert (2. Aufl.) Anm. 2 zu §. 489 und anscheinend auch Barazetti, Die Rechtsmittel der Berufung und Beschwerde S. 112 - 113 und S. 120 bis 121 folgen.
- 2. Vgl. Entsch. des R. G. 's in Civils. Bd. 4 S. 251.
- 3. vgl. Entsch. der Ver. Civilsen. des R. G. 's in Civils. Bd. 10 S. 309 flg.