RG, 05.03.1884 - I 454/83
Kann ein Vertrag, wodurch der eine Kontrahent den anderen als Prokuristen engagiert, deshalb angefochten werden, weil der Engagierte dem Prinzipale betrüglich verheimlicht hat, daß er sich in zerrütteten Vermögensverhältnissen befindet?
Aus den Gründen
"Es war darüber zu entscheiden, ob der von den Beklagten erklärte Rücktritt vom Vertrage vom 27. Januar 1881 berechtigt war, oder ob die Beklagten durch diesen Rücktritt die im §. 15 des Vertrages für den Fall eines Vertragsbruches einer Partei stipulierte Konventionalstrafe verwirkt haben und den Kläger zu entschädigen verpflichtet sind. Der Berufungsrichter hat diese Fragen mit Recht zu Gunsten der Beklagten entschieden.
Nach Inhalt des Vertrages sollte am 1. Juli 1881 eine Filiale der beklagtischen Berliner Firma in New York, deren vollständige Vertretung der Kläger als Prokurist auf die Dauer von fünf Jahren übernehmen, und von welcher die von der beklagtischen Firma nach New Jork zu sendenden Waren bestmöglichst verkauft werden sollten, eröffnet werden. Der Gewinn sollte zu gleichen Teilen geteilt werden, wie auch jeder der Kontrahenten die Spesen zur Hälfte, die Beklagte jedoch nicht über 6000 M hinaus tragen sollte; aus den Eingängen sollte Kläger zunächst 300 Dollars monatlich für seine Person entnehmen.
Der Berufungsrichter hat den Vertrag wegen Betruges des Klägers und wesentlichen Irrtumes der Beklagten für die letzteren für unverbindlich erklärt. Der Kläger hatte nämlich vor dem Abschlusse des Vertrages mit der Beklagten in New York falliert und war zur Zeit dieses Abschlusses noch nicht rehabilitiert, indem noch ein Teil seiner Gläubiger unbefriedigt war, wie Kläger selbst in seinem Briefe vom 23. März 1881 eingeräumt hat. Über diese seine Vermögenslage hat Kläger den Beklagten vor Abschluß des Vertrages vom 27. Januar 1881 keine Mitteilung gemacht, vielmehr, wie der Berufungsrichter feststellt, die Beklagten geflissentlich abgehalten, Erkundigungen über ihn und seine Verhältnisse einzuziehen.
Es kann zugegeben werden, daß es nicht unter allen Umständen ein Betrug ist, wenn ein Kontrahent es unterläßt, unaufgefordert dem anderen Kontrahenten vor dem Vertragsabschlusse über seine Vermögensverhältnisse Auskunft zu geben. Der Berufungsrichter hat aber ohne Verletzung einer Rechtsnorm angenommen, daß unter den konkreten Umständen, da die Beklagten dem Kläger bedeutende Vermögenswerte zur Veräußerung in Amerika anvertrauen wollten, der Vertragsabschluß also ein bedeutendes Vertrauen der Beklagten zu der Solidität des Klägers bedingte und dem Kläger nicht zweifelhaft sein konnte, daß die Beklagten sich darüber vergewissern mußten und wollten, daß sie sich durch den Abschluß mit dem Kläger keinen Vermögensverlusten aussetzten, Kläger den Beklagten seine bedenkliche Vermögenslage ohne Verletzung von Treu und Glauben nicht verheimlichen durfte. Der Berufungsrichter hat ferner ohne Verletzung einer Rechtsnorm angenommen, daß der Kläger die Beklagten im Gegenteile geflissentlich zu verhindern bestrebt gewesen ist, von seiner Vermögenslage sich Kenntnis zu verschaffen. Endlich hat der Berufungsrichter auch ohne Rechtsirrtum festgestellt, daß der Irrtum, in welchem Kläger die Beklagte versetzt hat, ursächlich für den Vertragsabschluß gewesen ist, daß die beklagte Firma bei Kenntnis der Verhältnisse des Klägers den Vertrag nicht abgeschlossen haben würde. Es sind also die Erfordernisse des dolus causam dans (§§. 84. 85 A.L.R. I. 4), daß der Kläger einen Irrtum der Beklagten wissentlich und vorsätzlich veranlaßt hat, und daß dadurch die Willenserklärung der Beklagten veranlaßt ist, festgestellt, und der Vertrag ist daher für die Beklagte unverbindlich.
Der Irrtum der Beklagten ist aber auch mit dem Berufungsrichter als ein wesentlicher im Sinne des §. 81 A.L.R. I. 4 anzusehen. Das Königlich preußische Obertribunal hat zwar in einer Entscheidung1 ausgeführt, daß der Nichtbesitz von Zahlungsmitteln überhaupt keine Eigenschaft einer Person sei, sondern eine außerhalb der Person liegende Thatsache, welche niemals als bloß stillschweigend vorausgesetzt zur Anfechtung und Aufhebung eines Vertrages führen könne. Es ist indes mit Dernburg (Preußisches Privatrecht, Bd. 1, 3. Ausg. S. 237 Note 13) anzunehmen, daß unter Eigenschaften einer Person im §. 81 A.L.R. I. 4 nicht bloß Geistes- und Körpereigenschaften verstanden sind, daß vielmehr unter Umständen auch der Nichtbesitz von Zahlungsmitteln hierher gerechnet werden könne. Es ist zuzugeben, daß der Irrtum über die Solvenz des Gegenkontrahenten nicht unter allen Umständen ein wesentlicher ist; es kommt dabei wesentlich auf die Natur des betreffenden konkreten Vertrages und auf die Stellung der betreffenden Person in dem Vertragsverhältnisse an. Wie im §. 76 A.L.R. I. 4 ein Irrtum über die Identität der Person des Kontrahenten dann für wesentlich erklärt ist, wenn aus den Umständen erhellt, daß ohne diesen Irrtum die Erklärung solchergestalt nicht erfolgt sein würde, so wird auch der Irrtum über die Solvenz dann als ein wesentlicher angesehen werden dürfen, wenn die Umstände ergeben, daß ohne diesen Irrtum ein verständiger Mann den Vertrag nicht abgeschlossen haben würde. Ganz besonders wird unter Kaufleuten, namentlich bei Kreditgeschäften, die kaufmännische Solidität und Vertrauenswürdigkeit, also der Umstand, daß die Vermögensverhältnisse der betreffenden Person geordnet oder doch nicht derart derangiert sind, daß ein verständiger, vorsichtiger Kaufmann ihr erhebliche Vermögenswerte nicht anvertrauen kann, als eine gewöhnlich vorausgesetzte Eigenschaft im Sinne des §. 81 a. a. O. angesehen werden dürfen (vgl. die in analogen Fällen ergangenen Entscheidungen des vormaligen Reichsoberhandelsgerichtes in dessen Entscheidungen Bd. 18 S. 28. 29, Bd. 23 S. 137). Ob hier eine Sozietät vorliegt, deren Vermögen den Angriffen der Gläubiger des Klägers ausgesetzt sein könnte, kann ganz unerörtert bleiben. Es genügt, daß darüber kein Zweifel obwalten kann, daß die bedenkliche Vermögenslage des Klägers auf den pekuniären Erfolg des Geschäftes, welches in New Jork von dem Kläger als Prokuristen geführt werden sollte, von recht nachteiligen Folgen sein konnte, welche auch durch die im §. 13 des Vertrages bedungene Garantie nicht vollständig ausgeglichen werden konnten."
- 1. vgl. Striethorst, Archiv Bd. 80 S. 307,