RG, 26.09.1918 - VI 194/18
1. Kann das ordentliche Gericht in Rechtsstreitigkeiten über Ersatzansprüche der Berufsgenossenschaften nach §§ 1542,1543 RVO. eine auf Grund der Reichsversicherungsordnung ergangene Entscheidung darüber nachprüfen, in welchem Betriebe der Verletzte tätig war?
2. Genügen für die Anwendung des § 1543 Bescheide der Versicherungsträger selbst, insbesondere der Berufsgenossenschaften?
3. Zur Auslegung der §§ 633, 634 RVO.
Tatbestand
Am 20. September 1915 erlitten zwei Angestellte der Lübeck-Büchener Eisenbahngesellschaft, der Lokomotivführer R. und der Heizer L., bei einem Zugzusammenstoß auf dem dem Bereich der mecklenburgischen Eisenbahn zugehörigen Bahnhof Plüschow einen Unfall. Die beiden Verunglückten erhielten auf Grund der Reichsversicherungsordnung von der Klägerin, der die Lübeck-Büchener Eisenbahngesellschaft (nicht auch der verklagte mecklenburgische Eisenbahnfiskus) als Unternehmer angehört, die gesetzlichen Leistungen zugebilligt. Mit der Klage verlangte die Klägerin auf Grund des § 1542 RVO. verb. mit § 1 HaftpflichtG. von dem Beklagten Ersatz, soweit sie den Verunglückten Entschädigung gewährt habe und noch gewähren müsse.
Die Vorinstanzen wiesen die Klage ab. Auf die Revision wurde das Berufungsurteil aufgehoben.
Gründe
"Unstreitig sind die beiden Angestellten der Lübeck-Büchener Eisenbahngesellschaft verletzt worden, während sie eine dieser gehörige Lokomotive bedienten, die gemäß einem zwischen den beiden Eisenbahnverwaltungen getroffenen Abkommen einem Güterzug des Beklagten von Lübeck nach Kleinen Vorspann leistete, um in Kleinen einen Militärzug zu übernehmen. Die Vorinstanzen haben die Klage abgewiesen, weil die Verunglückten zur Zeit des Unfalls im Betrieb des Beklagten tätig gewesen seien, dieser ihnen insoweit als Unternehmer gegenüberstehe und hiernach gemäß § 1542 Abs. 1 Satz 2 RVO. der erhobene Anspruch nicht gegeben sei.
Die Revision versucht im besonderen aus der Vorschrift des § 634 RVO., welcher der vorliegende Entschädigungsfall zu unterstellen sei, herzuleiten, daß ein solches Unternehmerverhältnis auf seiten des Beklagten versicherungsrechtlich nicht bestehe. Diese Vorschrift, wonach eine Berufsgenossenschaft Unfälle bei versicherten Tätigkeiten in einem Betriebe, der für Rechnung eines ihr nicht angehörigen Unternehmers geht, dann zu entschädigen hat, wenn ein ihr angehöriger Unternehmer den Auftrag gegeben und das Entgelt zu zahlen hat, beruhe -- ebenso wie schon der inhaltlich damit übereinstimmende § 28 Abs. 4 GewUVG. von 1900 -- auf dem allgemeinen Grundsatz, daß ein Versicherter, der von seinem Unternehmer unter Fortzahlung des Lohnes einem anderen versicherungspflichtigen Betriebe zur Hilfeleistung überwiesen wird, versicherungsrechtlich nicht in den fremden Betrieb übertrete. Zwischen dem Versicherten und dem Unternehmer des fremden Betriebs entstehe überhaupt kein Arbeitsverhältnis im Sinne der Reichsversicherungsordnung. Folglich könne in Fällen des § 634 Unternehmer im Sinne des § 1542 immer nur der regelmäßige Arbeitgeber des Versicherten sein, hier also nicht der Beklagte, sondern nur die Lübeck-Büchener Eisenbahngesellschaft.
Zutreffend hat demgegenüber das Berufungsgericht ausgeführt, daß die Reichsversicherungsordnung in §634 nur eine Vorschrift darüber gibt, welche Berufsgenossenschaft die Entschädigung leisten muß, wenn der Unfall eines bei ihr versicherten Arbeiters in einem genossenschaftsfremden Betriebe sich ereignet hat. Darüber, wer in Ansehung des Unfalls dem Verunglückten als Unternehmer gegenübersteht, bestimmt diese Vorschrift nichts. Unternehmer ist nach § 633 RVO. derjenige, auf dessen Rechnung der Betrieb geht; davon völlig verschieden ist die Frage, ob eine Berufsgenossenschaft für einen außerhalb ihrer Betriebe eingetretenen Unfall einzutreten hat. Lediglich aus § 633 ist zu beurteilen, ob als Unternehmer derjenige anzusehen ist, in dessen Betriebe der Unfall sich ereignet hat, oder derjenige, der den Auftrag zu -- betriebsfremder -- Tätigkeit des Versicherten erteilt hat, oder ob etwa beiden die Unternehmereigenschaft im Sinne der Reichsversicherungsordnung zuzusprechen ist. Soweit das Berufungsgericht nach den gegebenen Umständen die Frage für den Beklagten bejaht hat, stehen seine rechtlichen Erwägungen im Einklänge mit der Rechtsprechung (vgl. insbesondere RGZ. Bd. 74 S. 222 und RG. VI 348/17 sowie den Bericht in der Zeitung des Vereins Deutscher Eisenbahnverwaltungen 1918 Nr. 12 S. 117).
Dagegen mußte das Urteil aus einem bisher nicht erörterten Grunde aufgehoben werden. Nach § 1543 RVO. ist ein ordentliches Gericht, wenn es über einen auf § 1542 gestützten Anspruch zu erkennen hat, an die Entscheidung gebunden, die in einem Verfahren nach der Reichsversicherungsordnung darüber ergeht, ob und in welchem Umfange der Versicherungsträger verpflichtet ist. Daß auch die Bescheide der Versicherungsträger selbst, so einer Berufsgenossenschaft, Entscheidungen von bindender Kraft darzustellen vermögen, ist in der Rechtsprechung des Reichsgerichts bereits ausgesprochen (Recht 1913 Nr. 2788); es bestehen dagegen auch keine rechtlichen Bedenken. Nun sind schon in erster Instanz im Zusammenhange des Sachvortrags mit Bezug auf die beiden Verunglückten Abschriften dreier Bescheide der Klägerin vom 16. März und 4. September 1917 übergeben worden, worin, wie auch die vorliegenden Unfallakten der Klägerin bestätigen, die Entschädigungen festgesetzt werden aus Anlaß des am 20. September 1915 "beim Betriebe der Lübeck-Büchener Eisenbahngesellschaft erlittenen Unfalles." Die hervorgehobenen Worte lassen zweifelhaft, ob damit etwa eine Entscheidung darüber getroffen werden soll, in welchem Betriebe die Verunglückten zur Zeit des Unfalls tätig waren, ob insbesondere etwa damit hat ausgesprochen werden sollen, daß die Verletzten nicht im Betriebe des Beklagten tätig gewesen seien. Sollte hierin in der Tat eine Entscheidung dieses Inhalts zu finden sein, so wäre auch diese der Nachprüfung durch die Gerichte entzogen. Wie der erkennende Senat in neuerer Zeit (RGZ. Bd. 92 S. 296) für Ansprüche aus § 903 RVO., für die nach §§ 907 Abs 2, 901 eine Vorschrift verwandten Inhalts gilt, ausgesprochen hat, setzt die in § 901 verlangte Feststellung des ersatzpflichtigen Versicherungsträgers gemäß §623, wonach die Berufsgenossenschaften als Versicherungsträger die Unternehmer der versicherten Betriebe umfassen, die Bestimmung des Unternehmers, in dessen Betrieb sich der Unfall ereignete, regelmäßig voraus, und daher muß die Bindung der ordentlichen Gerichte an die Entscheidung der Versicherungsinstanzen über den entschädigungspflichtigen Versicherungsträger sich auch auf die Frage erstrecken, in wessen Betriebe sich der Unfall ereignet hat. Um die Entscheidung über den entschädigungspflichtigen Versicherungsträger handelt es sich aber auch, in den Fällen der §§1642, 1543, und auch sie setzt nicht anders als nach § 901 die Bestimmung des Unternehmers voraus, in dessen Betriebe der Unfall sich ereignet hat. Auch für die gemäß den §§1542, 1543 erhobenen Klagen der Berufsgenossenschaften gegen Dritte auf Entschädigung muß daher gelten, daß die nach der Reichsversicherungsordnung ergangene Entscheidung darüber, in welchem Betriebe der Verunglückte tätig war, der Nachprüfung der ordentlichen Gerichte entzogen ist.
Sollte daher im vorliegenden Falle schon eine Entscheidung der Versicherungsinstanz darüber vorliegen, die Verunglückten seien im Betrieb des Beklagten zur Zeit des Unfalls nicht tätig gewesen, so wird auch nicht gesagt werden können, der Beklagte stehe ihnen in Ansehung des Unfalls als Unternehmer gegenüber.
Da dieser Gesichtspunkt im bisherigen Verlaufe des Rechtsstreits noch nicht berührt worden ist, war das Urteil aufzuheben. Es erschien angezeigt, den Parteien zunächst noch Gelegenheit zu geben, hierüber in der Tatsacheninstanz zu verhandeln. Aufgabe der erneuten Entscheidung wird es sein, nach der gegebenen Rechtslage und den in Betracht kommenden tatsächlichen Umständen zu beurteilen, ob die angeführten Bescheide in Ansehung des hervorgehobenen Wortlauts in der Tat eine solche Tragweite beanspruchen oder ob insoweit etwa eine für den vorliegenden Rechtsstreit erhebliche Entscheidung nicht gegeben werden sollte, und welche Rechtsfolgen sich im einen und im anderen Falle hierfür ergeben." ...