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BVerfG, 25.10.1960 - 1 BvL 8/56

Daten
Fall: 
Tollwut / Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG
Fundstellen: 
BVerfGE 11, 330; NJW 1961, 115; MDR 1961, 26; DVBl 1961, 346
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
25.10.1960
Aktenzeichen: 
1 BvL 8/56
Entscheidungstyp: 
Beschluss
Instanzen: 
  • LG Marburg, 21.12.1955 - 3 O 40/55

Zur Auslegung des Art. 100 Abs. 1 GG.

Beschluß

des Ersten Senats vom 25. Oktober 1960
– 1 BvL 8/56 –
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des § 11 Absatz 1 Ziffer 2 Satz 1 des Hessischen Ausführungsgesetzes zum Viehseuchengesetz vom 27. März 1954 (GVBl. S. 32) – Vorlage des Landgerichts Marburg/Lahn vom 21. Dezember 1955 – 3 O 40/55.

Entscheidungsformel

  1. Die Vorlage ist unzulässig.
  2. Der Antrag des Klägers im Ausgangsverfahren auf Bewilligung des Armenrechts für das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht wird abgelehnt.

Gründe

I.

Das Landgericht Marburg/Lahn – 3. Zivilkammer – hat auf Grund des Art. 100 Abs. 1 GG ein Verfahren ausgesetzt und die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber erbeten, ob § 11 Abs. 1 Ziffer 2 Satz 1 des Hessischen Ausführungsgesetzes zum Viehseuchengesetz vom 27. März 1954 (GVBl. S. 32) – im folgenden: Ausführungsgesetz – "in Verbindung mit §§ 71 Ziffer 3 und 39 Abs. 2 des Viehseuchengesetzes" vom 26. Juni 1909 (RGBl. S. 519) – im folgenden: VSG – mit dem Grundgesetz (Art. 14 Abs. 3) vereinbar ist. § 39 VSG bestimmt:

Für Tiere, bei denen die Tollwut festgestellt ist, ist die sofortige Tötung polizeilich anzuordnen, für Hunde und Katzen auch dann, wenn das tierärztliche Gutachten nur auf Verdacht der Seuche lautet. Wenn ein der Seuche verdächtiger Hund oder eine der Seuche verdächtige Katze einen Menschen gebissen hat, so kann das Tier eingesperrt und bis zur Bestätigung oder Beseitigung des Verdachts polizeilich beobachtet werden.

Für Hunde und Katzen, von denen anzunehmen ist, daß sie mit wutkranken Tieren oder der Seuche verdächtigen Hunden oder Katzen (Abs. 1) in Berührung gekommen sind, ist gleichfalls die sofortige Tötung polizeilich anzuordnen. Andere Tiere sind unter der gleichen Voraussetzung sofort der polizeilichen Beobachtung zu unterstellen. Auch kann für Hunde statt der Tötung ausnahmsweise eine mindestens dreimonatige Einsperrung gestattet werden, falls sie nach dem Ermessen der Polizeibehörde mit genügender Sicherheit durchzuführen ist, und der Besitzer des Hundes die daraus und aus der polizeilichen Überwachung erwachsenden Lasten trägt.
Für Tiere, die auf polizeiliche Anordnung getötet worden sind, wird grundsätzlich eine Entschädigung gewährt (§§ 66 ff. VSG).

§ 71 VSG sieht vor:

Durch Landesrecht kann die Entschädigung versagt werden
...
3. für Hunde und Katzen, die aus Anlaß der Tollwut getötet sind (§§ 12, 36, 39, 40).
Auf Grund dieser Ermächtigung bestimmt § 11 des Ausführungsgesetzes:
(1) Keine Entschädigung wird, abgesehen von den Fällen des § 8 Absatz 1 Ziffer 13, gewährt:
...
2. in den Fällen des § 71 des Viehseuchengesetzes
...
Im Ausgangsverfahren verlangt der Kläger vom Lande Hessen eine Entschädigung für seine beiden Schäferhunde, die mit einem tollwütigen Fuchs in Berührung gekommen waren und deshalb auf Anordnung des Bürgermeisters als zuständiger Polizeibehörde wegen Tollwutverdachts getötet worden sind. Das beklagte Land beruft sich zunächst auf § 11 Abs. 1 Ziffer 2 Satz 1 des Ausführungsgesetzes, wonach eine Entschädigung nicht gewährt wird, wenn Hunde auf Grund des § 39 Abs. 2 des Viehseuchengesetzes wegen Tollwutverdachts getötet werden.

Das Land hat weiter behauptet, die Hunde seien tatsächlich infiziert gewesen. Es macht endlich geltend, daß auch nach § 72 Nr. 3 VSG eine Entschädigung des Klägers ausgeschlossen sei, weil ihm die Nichtbefolgung von Schutzmaßregeln zur Abwehr der Seuchengefahr zur Last falle. Der Bürgermeister hatte nämlich eine erste Tötungsanordnung auf Antrag des Klägers dahin abgeändert, daß von einer Tötung der Hunde abgesehen werde, wenn der Kläger bestimmte Auflagen (Einsperren der Hunde für die Dauer von drei Monaten, allmonatliche amtstierärztliche Untersuchung, Kostenvorschuß in Höhe von 20 DM für die polizeiliche Überwachung) erfülle. Erst als der Kläger weder den Kostenvorschuß zahlte noch ein amtstierärztliches Zeugnis vorlegte, ordnete der Bürgermeister die Tötung der Hunde an. Dieser Sachverhalt ist unstreitig; streitig ist jedoch, ob dem Kläger die Nichtbefolgung jener Auflagen "zur Last fällt". Das Land trägt vor, der Kläger habe sich von vornherein geweigert, die amtstierärztliche Bescheinigung beizubringen; es wäre möglich gewesen, die Kostenfrage in einer für den Kläger erträglichen Weise zu regeln, wenn dieser sich an den zuständigen Regierungsveterinärrat gewandt hätte. Der Kläger dagegen behauptet, er habe sich dem Bürgermeister gegenüber mündlich und schriftlich bereit erklärt, die veterinärpolizeiliche Bescheinigung vorzulegen. Mit einem Einkommen von monatlich 142.40 DM aus der Arbeitslosenfürsorge sei er jedoch hierzu außerstande gewesen. Beide Prozeßparteien haben sich erboten, für ihre Behauptungen Beweis zu erbringen. Diese Beweise sind vom vorlegenden Gericht bisher nicht erhoben worden. Das Gericht legt dar, wenn § 11 Abs. 1 Ziffer 2 Satz 1 des Ausführungsgesetzes gültig sei, müsse es die Klage unter allen Umständen abweisen; deshalb komme es auf die Gültigkeit der Bestimmung an. Das Gericht selbst hält diese allerdings für verfassungswidrig, soweit sie auch für die Tötung lediglich tollwutverdächtiger Tiere eine Entschädigung versage; insoweit handle es sich um eine Enteignung, für die nach Art. 14 Abs. 3 GG die Entschädigung nicht ausgeschlossen werden dürfe.

II.

1.

Die Hessische Landesregierung hält die Vorlage für unzulässig, da es für die Entscheidung im Ausgangsverfahren auf die Gültigkeit der zur Prüfung gestellten Vorschrift nicht ankomme. Die Tötung der Hunde sei angeordnet worden, weil der Kläger es unterlassen habe, das tierärztliche Zeugnis vorzulegen. Für die Entscheidung erheblich seien mithin nur diejenigen Vorschriften, die eine Entschädigung für den Fall der Zuwiderhandlung gegen Schutzmaßregeln ausschlössen, also § 72 Ziff. 3 VSG und § 11 Abs. 1 Ziff. 1 des Ausführungsgesetzes, nicht aber die vom Landgericht zur Prüfung gestellte Bestimmung; diese sei übrigens mit dem Grundgesetz vereinbar.

2.

Mit Rücksicht auf diese Bedenken der Landesregierung ist dem Landgericht nochmals Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben worden. Das Gericht führt aus, es sei gerade streitig, ob dem Kläger die Nichterfüllung der Auflagen zur Last falle; eine Beweisaufnahme hierüber sei aber überflüssig, wenn das Bundesverfassungsgericht die Gltigkeit der zur Prüfung gestellten Norm feststellen sollte; nur wenn die Verfassungswidrigkeit festgestellt werde, sei die Beweisaufnahme zulässig und notwendig. Zur Begründung der Zulässigkeit der Vorlage verweist das Gericht auch auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. November 1955 – 1 BvL 120/53 (BVerfGE 4, 352 [355]).

3.

Der Kläger hat sich der Auffassung des vorlegenden Gerichts angeschlossen. Er hat beantragt, ihm – wie im Ausgangsverfahren – auch für das Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht das Armenrecht zu gewähren und den ihm für das Ausgangsverfahren beigeordneten Rechtsanwalt mit seiner Vertretung zu beauftragen.

4.

Die Hessische Landesregierung ist dem Verfahren beigetreten, hat aber auf mündliche Verhandlung verzichtet.

III.

Die Vorlage ist unzulässig.

Das Landgericht hat zwar dargelegt, daß es den vom Kläger des Ausgangsverfahrens geltend gemachten Anspruch auf Entschädigung für unbegründet hält, die Klage somit abweisen will, wenn die Vorschrift gültig ist. Es hat aber nicht gesagt und von seinem Standpunkt aus auch nicht sagen können, daß es bei ihrer Ungültigkeit anders entscheiden würde. In diesem Fall muß es vielmehr nach seiner Auffassung erst prüfen, ob die Hunde nicht, wie das Land behauptet, tatsächlich angesteckt waren, sowie, wenn dies nicht der Fall war, ob die Voraussetzungen des § 72 Nr. 3, 2. Halbsatz VSG erfüllt sind, d. h. ob dem Kläger die Nichtbefolgung von Schutzmaßregeln zur Last fällt. Das kann nur durch eine Beweisaufnahme geklärt werden. Von ihrem Ausfall hängt das Schicksal der Klage ab. Es ist also möglich und – auch nach Auffassung des Landgerichts – nicht völlig unwahrscheinlich, daß auch bei Ungültigkeit der zur Prüfung gestellten Vorschrift die Klage abgewiesen werden muß.

Das Landgericht meint nun, die Anrufung des Bundesverfassungsgerichts nach Art. 100 Abs. 1 GG sei trotzdem zweckmäßig, ja geboten; denn wenn das Bundesverfassungsgericht die Norm für gültig erkläre, sei die Klage unter allen Umständen unbegründet und die Beweisaufnahme könne unterbleiben. Das liege im Sinne einer vernünftigen Prozeßökonomie.

Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden. Der Antrag nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG ist nur zulässig, wenn das Gericht sich klar darüber ausspricht, daß und warum es bei Gültigkeit der Norm über die Klage anders entscheiden würde als bei ihrer Ungültigkeit; denn nur dann kommt es "bei der Entscheidung" auf die Gültigkeit der Norm an (BVerfGE 7, 171 [174]; 10, 258 [261]). Die prozeßökonomischen Gesichtspunkte, die das Landgericht anführt, können hieran nichts ändern. Solche Gesichtspunkte dürfen im übrigen nicht allein vom Verfahren des vorlegenden Gerichts her beurteilt werden. Das Verfahren der Normenkontrolle erfordert schon wegen der Anhörungspflichten (§§ 77, 82 BVerfGG), aber auch wegen der allgemeinen Bedeutung der Entscheidung in aller Regel geraume Zeit; die damit verbundene Inanspruchnahme des Bundesverfassungsgerichts und anderer oberster Verfassungsorgane läßt sich nur rechtfertigen, wenn sie zur Entscheidung eines konkreten gerichtlichen Verfahrens unerläßlich ist. Es entspräche weder der Stellung des Bundesverfassungsgerichts noch dem Zweck des in Art. 100 Abs. 1 GG geregelten Verfahrens, wenn ein Gericht den Antrag auf Normenkontrolle schon stellen könnte, um sich möglicherweise – nämlich für den Fall, daß das Bundesverfassungsgericht in bestimmtem Sinn entscheidet – eine Beweisaufnahme zu ersparen; denn hier würde das Gericht von vornherein mit der Möglichkeit rechnen, daß eine Beweisaufnahme u. U. doch noch erforderlich wird und daß, wenn sie in bestimmtem Sinne ausfällt, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts für den Ausgang des Verfahrens ohne Bedeutung sein wird. Im vorliegenden Fall kommt hinzu, daß die Beweisaufnahme nach Beweisthema und Umfang einfach ist, sowie ferner, daß die ins Feld geführten prozeßökonomischen Rücksichten, vom Standpunkt des vorlegenden Gerichts selbst aus gesehen, wenig Gewicht haben; denn die Beweisaufnahme würde gerade dann notwendig, wenn das Bundesverfassungsgericht, der Auffassung des Landgerichts folgend, die zur Prüfung gestellte Norm für nichtig erklärte.

Der Hinweis des vorlegenden Gerichts auf die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 30. November 1955 (BVerfGE 4, 352 [355]) kann die Vorlage nicht stützen. Das Bundesverfassungsgericht hat damals nicht allgemein entschieden, daß der Antrag nach Art. 100 Abs. 1 GG schon "zu einem Zeitpunkt" zulässig sei, in dem "der Sachverhalt noch nicht durch eine Beweisaufnahme geklärt ist"; in dieser Entscheidung wird lediglich der Eröffnungsbeschluß im Strafverfahren als eine "Entscheidung" im Sinne des Art. 100 Abs. 1 GG anerkannt, da hier auch schon das anzuwendende Strafgesetz bezeichnet werden muß und es somit auf dessen Gültigkeit für die Fassung des Eröffnungsbeschlusses ankommen kann. Die – in vielen Fällen formlose (vgl. §§ 272 b, 357 a, 358 ZPO) – Anordnung des Zivilrichters, daß bestimmte Beweise zu erheben seien, läßt sich an prozessualer Bedeutung mit dem Eröffnungsbeschluß des Strafverfahrens, der Grundlage des ganzen Hauptverfahrens und des Sachurteils, nicht vergleichen; sie ist keine "Entscheidung" im Sinne des Art. 100 Abs. 1 GG.

IV.

Der Antrag des Klägers auf Bewilligung des Armenrechts ist abzulehnen. Die Frage, ob überhaupt im Verfahren der Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG den Beteiligten des Ausgangsverfahrens das Armenrecht gewährt werden kann, bedarf keiner Entscheidung; denn jedenfalls besteht kein Anlaß, das Armenrecht zu gewähren, wenn die Vorlage sich als unzulässig erweist.