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BVerfG, 27.07.1971 - 2 BvR 443/70

Daten
Fall: 
Bebauungspläne
Fundstellen: 
BVerfGE 31, 364; DVBl 1971, 740; DB 1971, 1761; DÖV 1971, 705; BauR 1971, 240
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
27.07.1971
Aktenzeichen: 
2 BvR 443/70
Entscheidungstyp: 
Beschluss
Inhaltsverzeichnis 

Beschluß

des Zweiten Senats vom 27. Juli 1971
-- 2 BvR 443/70 --
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Polizeimeisters Fritz O. ... - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Dr. Onno Schirmacher, Dr. Ella Schirmacher, Winfried Wille, Bremen 8, Waller Heerstraße 72 - gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts der Freien Hansestadt Bremen vom 2. Juli 1970 - II S 11/69 -.

Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerde wird verworfen.

Gründe

I.

1.

Der Beschwerdeführer ist Eigentümer eines in Bremen gelegenen Grundstücks, das im Geltungsbereich des städtischen Bebauungsplanes Nr. 623 liegt und dort teilweise als Verkehrsfläche ausgewiesen ist. Durch Beschluß vom 23. Juni 1969 wurden 18 m des Grundstücks des Beschwerdeführers zugunsten der Stadtgemeinde Bremen für Straßenverbreiterung enteignet. Der Beschwerdeführer beantragte im Verfahren nach den §§ 157 ff. des Bundesbaugesetzes vom 23. Juni 1960 (BGBl. I S. 341) -- im folgenden: BBauG --, den Enteignungsbeschluß aufzuheben; der zugrundeliegende Bebauungsplan sei nichtig, weil die für ihn in § 2 Abs. 6 BBauG zwingend vorgeschriebene Auslegungsfrist nicht eingehalten, sondern um einen Tag unterschritten worden sei. Das Landgericht Bremen -- Kammer für Baulandsachen -- wies diesen Antrag durch Urteil vom 7. November 1969 als unbegründet zurück, weil der Beginn der strittigen Auslegungsfrist nicht -- wie der Beschwerdeführer unter Berufung auf in anderer Sache ergangene Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 10. April 1968 sowie des Oberverwaltungsgerichts Bremen vom 11. Juli 1969 meine -- nach § 187 Abs. 1 BGB, sondern vielmehr gemäß § 187 Abs. 2 BGB zu bestimmen und deshalb die Dauer der Auslegung richtig berechnet worden sei. Durch Urteil vom 20. Mai 1970 hat das Oberlandesgericht Bremen -- Senat für Baulandsachen -- diese Rechtsauffassung bestätigt und die Berufung des Beschwerdeführers zurückgewiesen. Auf die Revision des Beschwerdeführers zum Bundesgerichtshof hat dieser mit Beschluß vom 17. Mai 1971 (III ZR 115/70) das Verfahren ausgesetzt und dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes nach §§ 2 und 11 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Juni 1968 (BGBl. I S. 661) die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob für die Berechnung der in § 2 Abs. 6 Satz 1 BBauG bestimmten Auslegungsfrist Absatz 1 oder Absatz 2 des § 187 BGB heranzuziehen sei. Über diese Vorlagefrage ist bisher noch nicht entschieden worden.

2.

Der Beschwerdeführer hat außerdem beim Oberverwaltungsgericht Bremen im Normenkontrollverfahren nach § 47 VwGO in Verbindung mit Art. 7 des Gesetzes zur Ausführung der Verwaltungsgerichtsordnung in Bremen vom 15. März 1960 (GBl. S. 25) -- im folgenden: AGVwGO Bremen -- beantragt, den Bebauungsplan Nr. 623 der Stadt Bremen für ungültig zu erklären. Er hat dazu ebenfalls ausgeführt, die Auslegungsfrist des § 2 Abs. 6 BBauG sei nicht eingehalten worden. Außerdem verstoße der Bebauungsplan hinsichtlich der Verlegung einer Straßenbahnlinie gegen § 1 Abs. 4 BBauG, weil eine dieser Vorschrift entsprechende Abwägung der öffentlichen mit den privaten Belangen nicht stattgefunden habe. Das Oberverwaltungsgericht Bremen hat den Antrag des Beschwerdeführers durch Beschluß vom 2. Juli 1970 (II S 11/69) zurückgewiesen. Es hat sich wegen des zugunsten der Verfassungsgerichte bestehenden Vorbehalts nicht für befugt angesehen, Ortsrecht im Verfahren nach § 47 VwGO am Maßstab des Bundesrechts zu überprüfen.

3.

Gegen den Beschluß des Oberverwaltungsgerichts Bremen vom 2. Juli 1970 hat der Beschwerdeführer am 27. Juli 1970 Verfassungsbeschwerde mit der Behauptung eingelegt, in seinen Rechten aus Art. 19 Abs. 4, 3 Abs. 1, 2 Abs. 1, 14 und 103 Abs. 1 GG verletzt worden zu sein.

Der Beschwerdeführer weist zunächst auf die vom Bad.-Württ. Verwaltungsgerichtshof (u.a. Beschlüsse vom 12. Juli 1967 in Bad.-Württ. VBl. 1967 S. 187 sowie vom 20. Juni 1968 in NJW 1969 S. 203), Hessischen Verwaltungsgerichtshof (u.a. Beschluß vom 6. Dezember 1968 in DVBl. 1969 S. 554) und insbesondere vom Oberverwaltungsgericht Lüneburg (u.a. Beschlüsse vom 24. Juni 1966 in DVBl. 1966 S. 760 und vom 9. Juli 1969 in NJW 1969 S. 2220) ständig vertretene Auslegung der Vorbehaltsklausel des § 47 VwGO hin, die auch im Schrifttum überwiegend bejaht werde. Die abweichende Rechtsauffassung des Oberverwaltungsgerichts Bremen führe zu einer verfassungswidrigen Verweigerung des in Art. 19 Abs. 4 GG garantierten, einen umfassenden Rechtsschutz vorsehenden Rechtsweges, der im Lande Bremen durch § 47 VwGO in Verbindung mit Art. 7 AGVwGO Bremen generell eröffnet worden sei. Den Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG habe das Oberverwaltungsgericht Bremen in seinem Falle deshalb verletzt, weil es in einem sachlich gleichgelagerten früheren Verfahren den Bebauungsplan Nr. 493 der Stadt Bremen durch Normenkontrollbeschluß vom 25. September 1969 (I S 10/69) für unwirksam erklärt habe. Eine derart verschiedene Behandlung gleicher Sachverhalte sei willkürlich; es sei insbesondere nicht einzusehen, weshalb § 187 BGB, der für die Berechnung der Auslegungsfristen in bezug auf beide Bebauungspläne maßgebend gewesen sei, einmal als Landesrecht und zum anderen als (nicht nachprüfbares) Bundesrecht angesehen worden sei. Hinzu komme, daß zwischen dem Oberverwaltungsgericht Bremen und dem Oberlandesgericht Bremen eine bisher nicht gelöste Meinungsverschiedenheit darüber bestehe, ob der Beginn der fraglichen Auslegungsfrist nach Absatz 1 oder Absatz 2 des § 187 BGB zu bestimmen sei. Dieser weitgehend Rechtsunsicherheit verbreitende Streit dürfe nicht zu Lasten des Bürgers ausgetragen werden und -- mehr oder weniger zufällig -- davon abhängen, ob das Oberlandesgericht oder das Oberverwaltungsgericht angerufen werden könne. Das gelte um so mehr, als das Bundesverwaltungsgericht einen Standpunkt vertrete, nach dem auch der hier fragliche Bebauungsplan Nr. 623 wegen zu kurzer Auslegungsfrist als nichtig anzusehen wäre. Der Beschwerdeführer trägt ergänzend vor, der angefochtene Beschluß des Oberverwaltungsgerichts Bremen wirke sich im Ergebnis auch dahin aus, daß sein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 GG sowie sein Eigentum nach Art. 14 GG beeinträchtigt würden. Denn weil ihm die im Lande Bremen ausdrücklich zugelassene Normenkontrolle verweigert werde, könne er die sonst gewisse "Nichtigerklärung" des Bebauungsplanes Nr. 623 nicht erreichen. Schließlich sei sein Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG dadurch beeinträchtigt worden, daß ihm trotz ausdrücklich gestellten Antrages keine Gelegenheit zu einem Rechtsgespräch in einer mündlichen Verhandlung gegeben worden sei, obwohl dies wegen der Komplexität und Bedeutung der in einer Instanz zu entscheidenden "Rechtsfrage mit Verfassungsrang" erforderlich gewesen wäre.

4.

Der Senat der Freien Hansestadt Bremen, dem die Verfassungsbeschwerde gemäß § 94 BVerfGG zugestellt worden ist, hat -- ebenso wie der zur Äußerung aufgeforderte Senator für das Bauwesen -- von einer Stellungnahme zum Verfahren abgesehen.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist nicht zulässig.

1.

Das Oberverwaltungsgericht Bremen hat den Normenkontrollantrag des Beschwerdeführers allein aus formellen Gründen als unzulässig zurückgewiesen, weil es sich zu einer materiellen Prüfung der unter Berufung auf Bundesrecht gegen den Bebauungsplan erhobenen Sachrügen nicht für zuständig erachtet hat. Der angefochtene Beschluß hat somit über die Rechtmäßigkeit des vom Beschwerdeführer beanstandeten Bebauungsplanes keine Entscheidung getroffen. Insoweit kann der Beschwerdeführer durch den Beschluß nicht in seinen Rechten aus Art. 2 Abs. 1, 3 Abs. 1 und 14 GG verletzt sein.

2.

Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet demjenigen, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt worden ist, die gerichtliche Überprüfung der ihn beeinträchtigenden Maßnahme in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht. Das Bundesverfassungsgericht hat mehrfach ausgesprochen, daß zur öffentlichen Gewalt im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG nicht die Gesetzgebung gehört (vgl. BVerfGE 24, 33 [49 ff.] und 367 [401]). Dabei ist nicht ausdrücklich entschieden worden, ob insoweit lediglich die formelle oder auch die materielle Gesetzgebung (einschließlich Gemeindesatzungen) gemeint ist. Diese Frage kann jedoch auch im vorliegenden Falle offenbleiben. Denn Art. 19 Abs. 4 GG gewährleistet nicht einen bestimmten Rechtsweg, also eine dem Charakter der beanstandeten Maßnahme der öffentlichen Gewalt jeweils angepaßte Verfahrensart. Vielmehr wird dem einzelnen Bürger durch dieses Grundrecht lediglich garantiert, daß ihn beeinträchtigende hoheitliche Maßnahmen in irgendeinem gerichtlichen Verfahren überprüft werden können. Diese Auffassung wird durch die Verweisung auf den nach Art. 19 Abs. 4 Satz 2 GG subsidiär gegebenen ordentlichen Rechtsweg bestätigt.

3.

Aus dem allgemeinen Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, der nicht nur aus § 90 Abs. 2 BVerfGG zu entnehmen, sondern vom Bundesverfassungsgericht -- auch im Zusammenhang mit der Anfechtung von Gesetzen -- ständig hervorgehoben worden ist (vgl.u.a. BVerfGE 22, 287 [290]; 15, 126 [131]), folgt zwingend, daß die behauptete Grundrechtswidrigkeit, die immer eine effektive Beeinträchtigung voraussetzt, im jeweils mit dieser Beeinträchtigung unmittelbar zusammenhängenden sachnächsten Verfahren geltend gemacht werden muß. Abzustellen ist somit auch im Rahmen des Art. 19 Abs. 4 GG auf die mögliche Rechtsbeeinträchtigung und die zu ihrer Beseitigung jeweils gegebenen Rechtsbehelfe der verschiedenen Verfahrensordnungen.

4.

Ein Bebauungsplan soll nach § 1 Abs. 1 und 2 BBauG im Rahmen der städtebaulichen Entwicklung die bauliche und sonstige Nutzung der Grundstücke verbindlich "leiten". Bereits aus diesem Gesetzeswortlaut folgt, daß zur Durchsetzung derartiger Pläne weitere hoheitliche Einzelmaßnahmen notwendig sind. Der Bebauungsplan selbst gestaltet für sich allein noch keine Rechte um, kann also auch nicht unmittelbar in bestehende Rechtspositionen des Bürgers eingreifen und ihn insoweit in seinen Grundrechten beeinträchtigen. Dazu bedarf es vielmehr stets einzelner Vollzugsakte der Verwaltung, sei es im Rahmen eines Umlegungs- oder Enteignungsverfahrens, sei es im Rahmen eines Bauantragsverfahrens. Gegen diese Maßnahmen ist der Rechtsweg entweder nach den §§ 157 ff. BBauG zu den Baulandgerichten oder nach den §§ 40 ff. VwGO zu den Verwaltungsgerichten gegeben. In beiden Verfahren ist die Rechtmäßigkeit des Bebauungsplanes, auf dem die Vollzugsakte beruhen, inzidenter in vollem Umfang, d.h. auch am Maßstab des Bundesrechts einschließlich des Verfassungsrechts zu prüfen; damit ist auch in bezug auf die anzuwendende Rechtsnorm ein umfassender und ausreichender Rechtsschutz gewährleistet.

Soweit der Bebauungsplan selbst in bezug auf den wirtschaftlichen Wert der Grundstücke Nachteile für den Bürger zur Folge haben kann, handelt es sich lediglich um latent vorhandene mittelbare Auswirkungen, die sich erst im Augenblick der Verwertung des Grundstücks durch den jeweiligen Eigentümer -- sei es durch ein Bauvorhaben, sei es durch Verkauf -- aktualisieren. Erst im Rahmen der hierzu notwendigen Rechtshandlungen kann sich eine unmittelbare Rechts beeinträchtigung einstellen, die wiederum in dem dann gegebenen Verfahren gerichtlich voll nachprüfbar ist. Gegen die Verletzung wirtschaftlicher Interessen allein eröffnet Art. 19 Abs. 4 GG im übrigen keinen Rechtsweg (BVerfG, Beschluß vom 27. April 1971 -- 2 BvR 708/65 -). Darüber hinaus kann der einzelne Bürger, der schon vor dem Erlaß ihn betreffender Vollzugsakte oder vor der beabsichtigten Verwertung seines Grundstücks künftige Rechtsbeeinträchtigungen durch den Bebauungsplan für sich befürchtet, vorab eine Klärung durch eine Bauvoranfrage herbeiführen. Diese hätte wiederum einen klagefähigen und ggf. in drei Gerichtsinstanzen voll nachprüfbaren Verwaltungsakt einschließlich dessen Rechtsgrundlage zur Folge.

5.

Mit Rücksicht auf diese primär gegebenen Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Auswirkungen eines Bebauungsplanes ist das den einzelnen Bundesländern nach § 47 VwGO freigestellte Normenkontrollverfahren dort, wo es durch ein entsprechendes Landesgesetz eingeführt worden ist, lediglich als ein zusätzlicher Rechtsbehelf anzusehen, der zwar im erweiterten Sinne Rechtswegqualität besitzt (vgl. früher zu § 25 VGG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 22. Juni 1960 -- BVerfGE 11, 232 [233] -), in bezug auf die Anfechtung von Bebauungsplänen durch Art. 19 Abs. 4 GG jedoch nicht geboten ist. Die vom Beschwerdeführer angegriffene Auslegung der Vorbehaltsklausel des § 47 VwGO durch das Oberverwaltungsgericht Bremen kann daher im vorliegenden Fall Art. 19 Abs. 4 GG unter keinem denkbaren Gesichtspunkt verletzen. Das gilt auch für die dem Beschwerdeführer angeblich entgangene sichere Chance, daß das Oberverwaltungsgericht bei der vom Beschwerdeführer für richtig gehaltenen Auslegung der streitigen Vorbehaltsklausel den angefochtenen Bebauungsplan wegen der auch vom Bundesverwaltungsgericht zu § 2 Abs. 6 BBauG in Verbindung mit § 187 BGB vertretenen Rechtsauffassung für unwirksam erklärt hätte.

6.

Die Entscheidung verstößt auch nicht gegen Art. 103 Abs. 1 GG. Diese Vorschrift garantiert nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts weder eine bestimmte Verfahrensart (BVerfGE 6, 19 [20]) noch ein Rechtsgespräch im Rahmen einer mündlichen Verhandlung.

Schließlich liegt ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG nicht schon deshalb vor, weil das Oberverwaltungsgericht in einem früheren Verfahren nach § 47 VwGO einen anderen Bebauungsplan der Stadt Bremen materiell geprüft und für unwirksam erklärt hat. Hierin kann eine willkürlich verschiedene und deshalb verfassungsrechtlich zu beanstandende Sachbehandlung durch das Gericht nicht gesehen werden.

III.

Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.

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