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BGH, 24.06.1952 - 1 StR 130/52
Die Zuziehung eines Sachverständigen ist da nicht geboten, wo nach der ganzen Sachlage die Lebenserfahrung und die Menschenkenntnis des Richters letzten Endes allein die Wahrheit finden können. Wird aber in einem Verfahren wegen Sittlichkeitsverbrechens der Antrag auf Zuziehung eines Sachverständigen zur Überprüfung der Glaubwürdigkeit einer kindlichen Zeugin vom Gericht mit der Begründung abgelehnt, dass es selbst die erforderliche Sachkunde habe, so kann die Ablehnung den § 244 Abs. 4 StPO dann verletzen, wenn zur Begründung des Antrages bestimmte gegen die Glaubwürdigkeit sprechende Tatsachen vorgetragen werden, deren Bedeutung für die Glaubwürdigkeit unter den Bedingungen der Hauptverhandlung erfahrungsgemäss nur schwer zu beurteilen ist.
In der Strafsache
hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs
in der Sitzung vom 24. Juni 1952,
an der teilgenommen haben:
Senatspräsident Richter ... als Vorsitzender,
Bundesrichter Dr. Peetz
Bundesrichter Dr. Geier
Bundesrichter Glanzmann
Bundesrichter Dr. Jagusch als beisitzende Richter,
Bundesanwalt ... als Vertreter der Bundesanwaltschaft,
Justizangestellter ... als Urkundsbeamter der Geschäftsstelle,
für Recht erkannt:
Tenor:
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts München I vom 8. November 1951, soweit der Angeklagte verurteilt ist, mit den Feststellungen aufgehoben und die Sache in diesem Umfange zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an das Landgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Angeklagte ist wegen eines fortgesetzten Verbrechens der Unzucht mit einen Kinde in Tateinheit mit einem fortgesetzten Verbrechen der Unzucht mit einer Abhängigen (§§ 174 Nr. 1, 176 Abs. 1 Nr. 3, 73 StGB), begangen an seiner am 17. Februar 1940 geborenen Tochter H., verurteilt worden. Er stellte die Tat in Abrede, wurde aber vom Gericht auf Grund der Aussage des Kindes in Verbindung mit den Bekundungen der Ehefrau für überführt erachtet. In der Hauptverhandlung hatte der Verteidiger die Begutachtung des Kindes durch einen Psychiater beantragt. Das Gericht hat diesen Antrag, den es richtig als Antrag auf Vernehmung eines Sachverständigen über die Glaubwürdigkeit der kindlichen Zeugin verstand, durch Beschluss mit der Begründung abgelehnt, dass es auf Grund seiner langen Erfahrung der Auffassung sei, selbst die erforderliche Sachkunde zu besitzen. Die Revision bekämpft die Ablehnung des Antrages als einen Verfahrensfehler.
Nach § 244 Abs. 4 Satz 1 StPO darf der Antrag auf Vernehmung eines Sachverständigen zwar auch abgelehnt werden, wenn das Gericht selbst die erforderliche Sachkunde besitzt. Mit der Einfügung dieser Vorschrift in die Strafprozessordnung durch das Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit vom 12. September 1950 ist ein Grundsatz gesetzlich unerkannt worden, der in der Rechtsprechung schon längst vertreten wurde (vgl. RGSt Bd 51 S 42; Bd 52 S 61; Bd 61 S 273). Er folgt aus dem Wesen des Sachverständigenbeweises. Der Sachverständige soll als Gehilfe des Gerichts dessen fehlende Sachkunde auf einzelnen besonderen Gebieten des Wissens und der menschlichen Tätigkeit ergänzen. Ob es eines solchen Gehilfen bedarf, hat das Gericht selbst nach pflichtgemässem Ermessen zu entscheiden. Der Maßstab für die Nachprüfung einer solchen Entscheidung durch das Revisionsgericht, die darauf beschränkt bleiben muss, ob der Tatrichter bei der Entscheidung die seinem Ermessen gesetzten rechtlichen Schranken beachtet hat, kann nur aus den besonderen Umständen des einzelnen Falles gewonnen werden. Es liegt nicht im Sinne des Gesetzes, auf den Gebieten, auf denen nur die Lebenserfahrung und die Menschenkenntnis des Richters schliesslich allein die Wahrheit finden können, das Vertrauen des Richters auf sein eigenes selbständiges Urteil und seinen Mut zur Verantwortung einzuengen, da ohne sie die Erfüllung des Richteramts und eine sachgemässe Rechtspflege nicht möglich sind. Dem Senat ist auch aus zahlreichen anderen Verfahren bekannt, dass die hier erkennende Strafkammer in langjähriger Tätigkeit als Jugendschutzkammer besondere Erfahrungen in der Beurteilung der Glaubwürdigkeit kindlicher und jugendlicher Zeugen gesammelt hat. Der Sachverhalt bot jedoch hier solche Besonderheiten, dass trotz dieser Erfahrungen die eigene Sachkunde nicht als hinreichend angesehen und der Antrag auf Vernehmung eines Sachverständigen deshalb nicht abgelehnt werden durfte.
Das Mädchen war zur Zeit seiner Vernehmung 11 3/4 Jahre alt, stand also der Geschlechtsreife nahe. Der Senat hat in dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom 29. Februar 1952 - 1 StR 631/51 - näher dargelegt (NJW 1952, 554), dass Bekundungen von Kindern, die sich auf geschlechtliche Vorgänge beziehen, in diesem Alter mit besonderer Vorsicht zu bewerten sind, und die Zuziehung eines Sachverständigen zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit in solchen Fällen zur Wahrheitserforschung oft nicht zu umgehen ist. Das Landgericht hebt hervor, dass die Ehe der Eltern des Kindes zerrüttet und das Kind selbst durch die Erlebnisse im Elternhaus über sein Alter hinaus gereift sei. Ursprünglich das "Lieblingskind" des Angeklagten, steht es jetzt, nachdem sich der Vater von seiner Familie getrennt hat, deutlich unter dem Einfluss der Mutter. Die Vorgänge, über die es ausgesagt hat, liegen etwa 1 1/2 Jahre zurück. Es hat über sie auch der Mutter gegenüber nicht unmittelbar danach, sondern erst, geraume Zeit später berichtet, als die Mutter von einer früheren sittlichen Verfehlung des Angeklagten erfuhr und das zum Anlass nahm, nun ihr Kind eingehend darüber zu befragen, ob der Vater auch "an ihm etwas gemacht" habe. Das Landgericht findet eine Erklärung für das lange Schweigen des Kindes darin, dass der Angeklagte ihm verboten habe, über die Vorgänge etwas, der Mutter zu sagen, und glaubt deshalb, dass sich aus dem langen Schweigen keine Bedenken gegen die Glaubwürdigkeit des Kindes herleiten liessen. Das Verhalten des Kindes, das die Strafkammer damit erklärt hat, dass es unter dem Einfluss des Vaters diesem zuliebe einen Vorgang lange Zeit verschwiegen habe, konnte aber seine Erklärung ebenso gut darin finden, dass das Kind, nunmehr stark unter dem Einfluss der Mutter stehend, ihr zuliebe etwas erfand oder aufbauschte. Mit dieser Möglichkeit hätte sich das Gericht um so mehr auseinandersetzen müssen, als es für erwiesen hält, dass das Kind unter dem Einfluss der Mutter dem Vater gegenüber in der Tat gelegentlich die Unwahrheit gesagt hat, wenn auch in verhältnismässig belanglosen häuslichen Angelegenheiten.
Das Zusammentreffen aller dieser Umstände, das den Beweiswert einer Kinderaussage entscheidend beeinflussen konnte, richtig abzuschätzen, wird auch einem in der Beurteilung von Kinderaussagen sehr erfahrenen Gericht regelmässig nur möglich sein, wenn die Hauptverhandlung sonstige Anzeichen erbringt, die ganz deutlich für oder gegen die Glaubwürdigkeit der Bekundungen des Kindes sprechen. Das kann u.a. dann der Fall sein, wenn sich der Angeklagte in einer Weise verteidigt, die in sich wenig glaubwürdig wirkt, oder wenn die Bekundungen des Kindes wenigstens teilweise durch die Aussagen anderer glaubwürdiger Zeugen gestützt werden. Das trifft hier aber nicht zu. Was nach den Darlegungen des Urteils die Mutter des Kindes bekundet hat, ist, auch wenn man sie mit dem Landgericht trotz des Zerwürfnisses mit dem Angeklagten als glaubwürdig ansieht, zu belanglos, als dass es die Bekundungen des Kindes in entscheidender Weise zu stützen vermöchte. Das gilt vor allem von dem ersten Vorfall, von den die Mutter nur bekundet, sie habe, als sie sich zu dem Kind ins Bett gelegt habe, entdeckt, dass dessen Hemd bis über den Leib hochgezogen gewesen sei; das sei ihr damals schon aufgefallen. Dass sich bei einem schlafenden Kind das Nachthemd hochschiebt, ist aber ein viel zu alltäglicher Vorgang, als dass er für sich allein, ohne dass weitere Umstände hinzutreten, von denen aber in Urteil nichts berichtet wird, als auffällig angesehen werden könnte. Weit auffälliger ist im Gegenteil, dass sich eine Mutter an ein solches alltägliches Geschehnis noch nach 1 1/2 Jahren erinnert und es zum Anlass nimmt, ihr Kind deswegen zur Rede zu stellen. Hierauf hätten die Urteilsgründe eingehen müssen.
Ob ein Gericht unter den angeführten Umständen nach § 244 Abs. 2 StPO genötigt wäre, auch ohne einen ausdrücklichen Antrag der Verteidigung von Amts wegen einen Sachverständigen zur Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Kindesaussage heranzuziehen, kann hier unentschieden bleiben. Der Senat ist jedenfalls der Auffassung, dass ein Gericht die seinem Ermessen gesetzten rechtlichen Grenzen nicht mehr einhält, wenn es unter den dargelegten Umständen des Falles den ausdrücklichen Antrag auf Zuziehung eines Sachverständigen, der unter Berufung auf ganz bestimmte, gegen die Glaubwürdigkeit sprechende Umstände gestellt ist, ablehnt, weil es selbst die erforderliche Sachkunde habe. Im Hinblick auf diese besonderen Umstände waren die Bedingungen, unter denen sich das Gericht in der Hauptverhandlung ein Bild über die kindliche Zeugin machen konnte, für jene Annahme zu ungünstig und die Fehlerquellen zu zahlreich.
Die auf die Verletzung des § 244 Abs. 4 StPO gestützte Verfahrensrüge muss deshalb Erfolg haben. Die übrigen Revisionsrügen brauchen unter diesen Umständen nicht näher erörtert zu werden. Sie sind sämtlich unbegründet.
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