BVerfG, 19.12.1951 - 1 BvR 220/51
1. Der einzelne Staatsbürger hat grundsätzlich keinen mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbaren Anspruch auf ein Handeln des Gesetzgebers.
2. Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen ein erlassenes Gesetz ist, daß der Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar durch das Gesetz, nicht erst mittels eines Vollziehungsaktes, in einem Grundrecht verletzt ist.
3. Der Beschwerdeführer ist jedenfalls dann unmittelbar durch das Gesetz verletzt, wenn sein von dem angegriffenen Gesetz unter Grundrechtsverletzung betroffener Anspruch durch das zuständige Gericht abgewiesen werden müßte, gleichviel, ob das angegriffene Gesetz gültig ist oder nicht, so daß also das zuständige Gericht keine Gelegenheit bitte, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gemäß Art. 100 GG herbeizuführen.
4. Weder Art. 1 Abs. 1 noch Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG begründet ein Grundrecht des Einzelnen auf gesetzliche Regelung von Ansprüchen auf angemessene Versorgung durch den Staat.
Beschluß
des Ersten Senats vom 19. Dezember 1951 gem. § 24 BVerfGG
– 1 BvR 220/51 –
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Frau M. Sch.
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerde wird verworfen.
Gründe
Die Beschwerdeführerin ist die Witwe eines im Krieg gefallenen Rechtsanwaltes aus F. und hat drei Kinder im Alter von 6, 13 und 16 Jahren. Sie erstrebt für sich und ihre Kinder eine bessere Versorgung, als das Bundesversorgungsgesetz (BVersG) sie gewährt.
Die Beschwerdeführerin trägt vor:
Sie erhalte nach dem BVersG vom 20. Dezember 1950 für sich und ihre Kinder monatlich folgende Beträge:
Für sich selbst: Grundrente DM 40
Ausgleichsrente DM 50
Für die Kinder: je DM 10.- Grundrente = DM 30
je DM 21.- Ausgleichsrente = DM 63 zusammen DM 183
Bei den für ihre Kinder ausgeworfenen Renten bleibe der Umstand unberücksichtigt, daß sie, die Beschwerdeführerin, erwerbsunfähig sei. Ferner sei es unbillig, daß ihre Kinder mit ihr zusammen nur DM 3.- monatlich mehr erhielten als sie erhalten würden, wären sie Vollwaisen.
Außerdem habe sie nach dem Soforthilfegesetz vom 8. August 1949 in der Fassung vom 8. August 1950 (SHG) Anspruch auf eine Monatsrente von DM 130.-; von der Soforthilfe würden jedoch - gemäß § 36 Abs. 4 SHG - die obenerwähnten Ausgleichsrenten, d. h. DM 63.- + DM 50.- = rd. DM 110.- abgezogen, so daß sie neben den DM 183.- Versorgungsrenten tatsächlich nur DM 20.- Soforthilfe bekomme. Wäre sie nicht erwerbsunfähig, so würde die Ausgleichsrente zwar DM 20.- weniger, dafür aber die Soforthilfe DM 20.- mehr ausmachen. Sie gehe also durch die Anrechnung der Ausgleichsrente auf die Soforthilfe des ihr um ihrer Erwerbsunfähigkeit willen zugestandenen Mehrbetrages an Ausgleichsrente verlustig.
Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, daß durch diese Regelung das Grundgesetz verletzt sei, und zwar:
einmal durch die allgemeine Unzulänglichkeit der Versorgung (Verstoß gegen Art. 1 Abs. 1; 2 Abs. 2; 6 Abs. 1, 2 und 4 GG); ferner dadurch, daß
a) ihre Kinder als Kinder einer erwerbsunfähigen Mutter keine höhere Rente erhalten als die Kinder einer erwerbsfähigen Mutter,
b) ihre Kinder als Halbwaisen mit ihr, einer erwerbsunfähigen Mutter, zusammen nur DM 3.- mehr bekommen als drei Vollwaisen,
c) sie und ihre Kinder als Hinterbliebene eines Rechtsanwaltes nach dem BVersG ebenso behandelt werden, wie Hinterbliebene eines Mannes mit weit niedrigerem Einkommen, während außerhalb des BVersG, z. B. im Beamtenrecht, die Versorgung der Hinterbliebenen nach dem Einkommen des verstorbenen Ernährers gestaffelt ist,
d) sie selbst infolge der Anrechnung der Ausgleichsrente auf die Soforthilfe nicht mehr bekommt als eine erwerbsfähige Mutter (Verstoß gegen den Gleichheitssatz Art. 3 Abs. 1 und 2 GG).
Es sei hier teils im wesentlichen Gleiches ungleich, teils im wesentlichen Ungleiches gleich behandelt. Die Beschwerdeführerin begehrt deshalb, wenn man ihre Ausführungen sinngemäß auslegt:
I.
1. Die Feststellung, daß durch die Unterlassung einer besseren Versorgung erwerbsunfähiger und erwerbsloser Witwen und unversorgter Kinder im BVersG die Grundrechte der Artikel 1 Abs. 1; 2 Abs. 2; 3 Abs. 1, 2 und 6 Abs. 1, 2, 4 GG verletzt sind.
2. Die Feststellung, daß die Bundesregierung zu sofortiger Vorlage eines Ergänzungsgesetzes zum BVersG verpflichtet ist, das die Hinterbliebenenversorgung unter Beseitigung der bezeichneten Mängel angemessen erhöht und neu regelt, und zwar unter Berücksichtigung eines Teuerungsindexes, einer Staffelung nach dem Einkommen des gefallenen Ernährers und Gewährung einer einmaligen größeren Zahlung zur Wiederbeschaffung von Hausrat.
II.
Die Feststellung, daß die Anrechnung der Hinterbliebenenrente auf die Soforthilfe das Grundrecht des Art. 3 Abs. I GG verletzt, und infolgedessen die Nichtigerklärung des § 36 Abs. 4 SHG.
Die Verfassungsbeschwerde ist zu verwerfen.
Sie richtet sich in allen ihren Teilen gegen ein Tun oder Unterlassen des Gesetzgebers.
Zu I. des obigen Antrags (BVersG):
Es ergibt sich aus §§ 93 Abs. 2 und 95 Abs. 3 BVerfGG, daß die Verfassungsbeschwerde auch gegen ein Gesetz zulässig ist; ferner läßt § 95 keinen Zweifel daran, daß die Verletzung eines Grundrechts im Sinne dieses Gesetzes im allgemeinen auch durch eine Unterlassung erfolgen kann. Aber bei solchen verfassungswidrigen Unterlassungen kann es sich regelmäßig nur um die Unterlassung von Handlungen der verwaltenden oder rechtsprechenden Instanzen handeln, nicht um Unterlassungen des Gesetzgebers. Dafür spricht schon der Wortlaut des § 95 BVerfGG, der sich mit Inhalt und Wirkung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts befaßt; dort ist für den Fall, daß der Verfassungsbeschwerde gegen ein erlassenes Gesetz stattgegeben wird, vorgeschrieben, daß das Gesetz für nichtig zu erklären sei. Die Folgen einer etwa zulässigen Verfassungsbeschwerde aber gegen eine Unterlassung des Gesetzgebers sind nicht besonders geregelt. Vor allem jedoch liegt es in der Natur der Sache, daß der einzelne Staatsbürger grundsätzlich keinen gerichtlich verfolgbaren Anspruch auf ein Handeln des Gesetzgebers haben kann, wenn anders nicht eine vom Grundgesetz schwerlich gewollte Schwächung der gesetzgebenden Gewalt erfolgen soll. Ein Recht zu schaffen, das den Idealen der sozialen Gerechtigkeit, der Freiheit, Gleichheit und Billigkeit entspricht, ist eine ewige Aufgabe des Gesetzgebers, an welcher der einzelne Staatsbürger nur durch die Ausübung des Wahlrechts mittelbar Anteil hat. Das Bundesverfassungsgericht ist keine gesetzgebende Körperschaft, und es ist nicht seine Sache, sich an die Stelle des Gesetzgebers zu setzen. Die gerichtliche Feststellung aber, daß eine Unterlassung des Gesetzgebers verfassungswidrig sei, würde eine solche Verschiebung der staatlichen Zuständigkeiten auslösen. Die Frage, ob ein Gesetz zu erlassen sei, hängt von wirtschaftlichen, politischen und weltanschaulichen Erwägungen ab, die sich richterlicher Nachprüfung im allgemeinen entziehen. Soweit das Bundesverfassungsgericht zur Kontrolle von Gesetzen berufen ist, kann daher grundsätzlich seine Aufgabe nur sein, zu prüfen, ob erlassene Gesetze mit der übergeordneten Norm des Grundgesetzes in Einklang stehen. Auch aus der Rechtsprechung des bayrischen, des schweizerischen und des Verfassungsgerichts der Vereinigten Staaten ist kein Fall bekannt, der eine Unterlassung des Gesetzgebers zum Gegenstand gehabt hätte.
Die Besonderheit des Falles liegt darin, daß es nicht um die gesetzliche Regelung einer bisher vom Gesetzgeber überhaupt nicht geregelten Materie geht, sondern darum, daß die bisherige Regelung im Bundesversorgungsgesetz von der Beschwerdeführerin als unzulänglich empfunden wird. Versteht man den zu I wiedergegebenen Antrag dahin, daß die Beschwerdeführerin die Gültigkeit des Bundesversorgungsgesetzes keinesfalls angreifen, sondern daß sie mit der Verfassungsbeschwerde nur ein Ergänzungsgesetz herbeiführen will, so ist die Verfassungsbeschwerde aus den angeführten Gründen unzulässig.
Versteht man aber das Begehren der Beschwerdeführerin dahin, daß sie wegen der gerügten Verstöße gegen das Grundgesetz die Nichtigerklärung des erlassenen Bundesversorgungsgesetzes erstrebt, so kommt man zu dem Ergebnis, daß die Verfassungsbeschwerde zwar zulässig, jedoch nicht begründet ist.
Voraussetzung für die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen ein erlassenes Gesetz ist die Behauptung, daß der Beschwerdeführer selbst, gegenwärtig und unmittelbar durch das Gesetz nicht erst mit Hilfe eines Vollziehungsaktes, in einem Grundrecht verletzt sei.
Daß der Beschwerdeführer selbst in einem seiner Grundrechte oder einem der diesen gleichgestellten Rechte (§ 90 Abs. 1 BVerfGG) verletzt sein muß, unterscheidet die Verfassungsbeschwerde des Grundgesetzes von der "Popularklage", wie sie z. B. das bayerische Verfassungsrecht kennt (Art. 98 Satz 4 der bayer. Verfassung i. V. mit § 54 des bayer. Gesetzes über den VerfGH vom 22. Juli 1947). Zwar rügt die Beschwerdeführerin neben der Verletzung eigener Rechte auch die Verletzung von Rechten ihrer Kinder. Insoweit darf aber unterstellt werden, daß sie als gesetzliche Vertreterin ihrer Kinder handelt.
Ob eine gegenwärtige ("aktuelle") Verletzung des Beschwerdeführers vorliegt, kann nur von Fall zu Fall entschieden werden. Jedenfalls aber ist die - in anderer Hinsicht vergleichbare - Praxis des schweizerischen Bundesgerichts zu Art. 113 der Schweizer Bundesverfassung auf die deutsche Verfassungsbeschwerde insoweit nicht übertragbar. Nach dieser schweizerischen Praxis braucht der Beschwerdeführer nur zu behaupten, daß er irgendwann einmal in der Zukunft ("virtuell") von der gerügten Gesetzesbestimmung betroffen werden könnte (vgl. BGE 48 I 265, 594; 65 I 240; 64 I 386 und dazu Giacometti, Verfassungsgerichtsbarkeit des schweizerischen Bundesgerichts, Zürich 1933, S. 166 ff.; ferner Fleiner- Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Zürich 1949, S. 892 ff.).
Da ein "virtuelles" Betroffen-werden des Staatsbürgers fast stets zu bejahen wäre, würde die Übernahme dieser Praxis die Verfassungsbeschwerde - entgegen dem Sinn des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht - im Ergebnis doch zu einer Popularklage ausweiten.
Mag dies aktuelle Betroffen-werden der Beschwerdeführerin hier selbst zu bejahen sein, so bedarf die Frage, ob die Beschwerdeführerin unmittelbar durch das BVersG betroffen ist, einer näheren Prüfung.
Setzt das Gesetz nämlich zu seiner Durchführung rechtsnotwendig oder auch nur nach der tatsächlichen Verwaltungspraxis einen besonderen, vom Willen der vollziehenden Gewalt beeinflußten Vollziehungsakt voraus (z. B. in Gestalt einer Steuerveranlagung oder eines sonstigen Verwaltungsaktes), so kann sich die Verfassungsbeschwerde nur gegen diesen Vollziehungsakt als den unmittelbaren Eingriff in die Rechte des Einzelnen richten, und der Beschwerdeführer hat einen gegen den Vollziehungsakt etwa gegebenen Rechtsweg zu erschöpfen, bevor er die Verfassungsbeschwerde erhebt. Teilt das mit der Sache befaßte Gericht die Bedenken des Betroffenen gegen die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes, so wird es von sich aus die Akten nach Art. 100 GG in Verbindung mit § 80 ff. BVerfGG dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung vorlegen. Unterbleibt diese Vorlegung durch das Gericht, so ist dem Beschwerdeführer die Verfassungsbeschwerde nach Erschöpfung des Rechtsweges unbenommen.
Nur eine solche einschränkende Auslegung entspricht dem Grundgedanken des § 90 Abs. 2 BVerfGG und dem Zweck der Verfassungsbeschwerde. Denn sie soll im Hinblick auf den umfassenden Rechtsschutz durch die ordentliche und die Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht einen wahlweisen Rechtsbehelf neben den sonstigen Rechtswegen gewähren, sondern nur dann zulässig sein, wenn sie trotz Erschöpfung der regelmäßigen verfahrensrechtlichen Möglichkeiten zur Verhinderung einer Grundrechtsverletzung erforderlich wird.
Im vorliegenden Fall ist der Beschwerdeführerin zwar wegen ihrer Versorgungsansprüche in § 84 Abs. 3 BVersG ein Verwaltungs- und Spruchverfahren eröffnet, das sie noch nicht erschöpft hat. Dieses Verwaltungs- und Spruchverfahren aber bezieht sich naturgemäß nur auf die im BVersG geregelten Ansprüche: die Beschwerdeführerin müßte also mit ihren darüber hinausgehenden Ansprüchen jedenfalls abgewiesen werden, ohne daß das mit der Sache befaßte Gericht Gelegenheit hätte, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Gültigkeit des Gesetzes anzurufen; denn, ob das Gesetz gültig ist oder nicht, mehr als darin bestimmt ist, kann der Beschwerdeführerin von den zuständigen Stellen keinesfalls zugebilligt werden. Sie ist also trotz des vorgesehenen Verwaltungs- und Spruchverfahrens in den mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemachten Rechten unmittelbar durch das Gesetz betroffen. Das bedeutet, daß die Verfassungsbeschwerde insoweit zwar zulässig ist; sie ist jedoch unbegründet, da weder Art. 1 noch Art. 2, 3 oder 6 GG durch das Bundesversorgungsgesetz verletzt sind.
Es ist zwar richtig, daß die Hinterbliebenenrenten des Bundesversorgungsgesetzes die allgemeinen Fürsorgesätze nur in bescheidenem Maße übersteigen und das tragische Schicksal der Kriegshinterbliebenen nicht zu wenden vermögen. Dadurch ist aber ein Grundrecht nicht verletzt. Die Grundrechte haben sich aus den im 18. Jahrhundert proklamierten Rechten der Freiheit und Gleichheit entwickelt. Ihr Grundgedanke war der Schutz des Einzelnen gegen den als allmächtig und willkürlich gedachten Staat, nicht aber die Verleihung von Ansprüchen des Einzelnen auf Fürsorge durch den Staat. Im Wandel der Zeiten ist der Gedanke der Fürsorge des im Staat repräsentierten Volkes für den Einzelnen immer stärker und diese Fürsorge vor allem durch die Folgen des zweiten Weltkrieges zu einer elementaren staatlichen Notwendigkeit geworden. Aber dieser - vergleichsweise neue - Gedanke des Anspruchs auf positive Fürsorge durch den Staat hat in die Grundrechte nur in beschränktem Maße Eingang gefunden.
Wenn Art. 1 Abs. 1 GG sagt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar", so will er sie nur negativ gegen Angriffe abschirmen. Der zweite Satz: "... Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt" verpflichtet den Staat zwar zu dem positiven Tun des "Schützens", doch ist dabei nicht Schutz vor materieller Not, sondern Schutz gegen Angriffe auf die Menschenwürde durch andere, wie Erniedrigung, Brandmarkung, Verfolgung, Ächtung usw. gemeint.
Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG räumt dem Einzelnen kein Grundrecht auf angemessene Versorgung durch den Staat ein. Die vom Ausschuß für Grundsatzfragen des Parlamentarischen Rates vorgeschlagene Bestimmung über das Recht auf ein Mindestmaß an Nahrung, Kleidung und Wohnung ist später gestrichen und in das Grundgesetz nicht aufgenommen worden. Man hat sich darauf beschränkt, negativ ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit zu statuieren, d. h. insbesondere den staatlich organisierten Mord und die zwangsweise durchgeführten Experimente an Menschen auszuschließen. Aus Art. 2 GG kann daher ein Recht auf Zuteilung bestimmter, das allgemeine Maß öffentlicher Fürsorge übersteigender Renten nicht hergeleitet werden.
Damit ist zwar nicht gesagt, daß der Einzelne überhaupt kein verfassungsmäßiges Recht auf Fürsorge hat. Wenn auch die Wendung vom "sozialen Bundesstaat" nicht in den Grundrechten sondern in Art. 20 des Grundgesetzes (Bund und Länder) steht, so enthält sie doch ein Bekenntnis zum Sozialstaat, das bei der Auslegung des Grundgesetzes wie bei der Auslegung anderer Gesetze von entscheidender Bedeutung sein kann. Das Wesentliche zur Verwirklichung des Sozialstaates aber kann nur der Gesetzgeber tun; er ist gewiß verfassungsrechtlich zu sozialer Aktivität, insbesondere dazu verpflichtet, sich um einen erträglichen Ausgleich der widerstreitenden Interessen und um die Herstellung erträglicher Lebensbedingungen für alle die zu bemühen, die durch die Folgen des Hitlerregimes in Not geraten sind. Aber nur wenn der Gesetzgeber diese Pflicht willkürlich, d. h. ohne sachlichen Grund versäumte, könnte möglicherweise dem Einzelnen hieraus ein mit der Verfassungsbeschwerde verfolgbarer Anspruch erwachsen.
Davon kann hier wegen des Umfanges der allgemeinen Notlage auf der einen Seite und im Hinblick auf die nach sorgfältiger Prüfung gewährten Rentenansprüche auf der anderen Seite offenkundig nicht gesprochen werden.
Wenn die Beschwerdeführerin ausführt: "Was man einem anderen genommen hat, das ist man ihm schuldig. Dieser Rechtsgrundsatz ist unumstößlich", so verkennt sie einmal, daß nicht die Bundesrepublik ihr den Ernährer, die Heimat und ihre Habe genommen hat, sondern daß ihre furchtbaren Verluste die Schicksalsfolgen des von einer verantwortungslosen Regierung angefangenen Krieges sind - einer Regierung, die viele Millionen Menschen ins Elend gestürzt hat, und ferner mag die Beschwerdeführerin bedenken, daß zwar in allen Zeiten die Gemeinschaft versucht hat, den Opfern allgemeiner Katastrophen, besonders den Opfern der Kriege, zu helfen. Stets aber hat es sich dabei um Maßnahmen besonderer Art gehandelt, die mit einem zivilrechtlichen Schadensersatz für weggenommenes Gut oder verschuldeten Körperschaden nicht verglichen werden können.
Nach einer Aufstellung in den "Finanzpolitischen Mitteilungen" des Bundesministeriums der Finanzen vom 24. November 1951 (Nr. 3 S. 1) betrug die gesamte Sozialbelastung 1913 3% des Brutto- Volkseinkommens, 1951 17% des Brutto-Volkseinkommens. Nicht nur diese Zahlen, sondern auch Vergleiche mit der Kriegsopferversorgung anderer Länder ergeben, daß dem Bundesgesetzgeber willkürliche Vernachlässigung der Kriegsopferversorgung nicht zum Vorwurf gemacht werden kann. Die Bemessung der Renten verstößt also weder gegen das Grundrecht des Art. 1 noch gegen die Grundrechte der Art. 2 und 6 GG. Aber auch der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 GG ist durch das Bundesversorgungsgesetz nicht verletzt.
Dem Unterschied in der Fürsorgebedürftigkeit erwerbsfähiger und nicht erwerbsfähiger Kriegerwitwen ist in den §§ 40 und 41 bei der Bemessung der Witwenrenten Rechnung getragen; es ist also sachgemäß Ungleiches auch ungleich geregelt. Die Frage der Erwerbsfähigkeit oder Erwerbsunfähigkeit der Mutter bei der Waisenrente nochmals zu berücksichtigen, lag kein zwingender Grund vor.
Wenn drei minderjährige Vollwaisen nur um DM 3.- weniger bekommen als die drei Kinder der Beschwerdeführerin mit ihr zusammen, so ist auch hierfür ein sachlicher Grund vorhanden; denn drei völlig verwaiste minderjährige Kinder bedürfen der Sorge durch einen fremden Erwachsenen, und diesem muß regelmäßig aus ihrer Rente für seine Arbeit eine Vergütung bezahlt werden. Das fällt fort, wenn die Kinder eine selbst rentenberechtigte Mutter haben.
Die bessere Versorgung der Beamtenwitwen endlich beruht nicht auf dem Bundesversorgungsgesetz - dieses behandelt alle Kriegerwitwen gleich -, sondern auf der Lebensstellung des Gefallenen als Beamter. Es wird viele Kriegerwitwen geben, die - ebenso wie die Beamtenwitwen - unabhängig von der Kriegshinterbliebenenversorgung ein Einkommen aus Versicherungen, Privatrenten oder Vermögen haben. Insoweit liegt ein objektiv verschiedener Tatbestand vor, den gleichzumachen der Art. 3 nicht gebietet. Art. 3 fordert nur, daß der Gesetzgeber im wesentlichen gleiche Tatbestände ohne Ansehen der Person gleich regelt. Das ist im Bundesversorgungsgesetz geschehen.
Die Anträge zu I sind hiernach offensichtlich unbegründet.
Zu II des Antrags (SHG):
Ob die Verfassungsbeschwerde, auch soweit sie sich gegen § 36 Abs. 4 SHG (Anrechnung der Ausgleichsrenten auf die Soforthilfe) richtet, zulässig ist, erscheint nicht zweifelsfrei.
Zwar wird hier eindeutig nicht ein Unterlassen des Gesetzgebers, sondern eine positive Gesetzesbestimmung als grundgesetzwidrig bezeichnet; auch ist die Beschwerdeführerin selbst und gegenwärtig von dieser Gesetzesbestimmung betroffen. Aber vollzogen wurde die beanstandete Anrechnungsbestimmung des § 36 in einem besonderen Verfahren, dessen Rechtsbehelfe über den Soforthilfeausschuß und Beschwerdeausschuß bis zum Spruchsenat führen konnten (§§ 60, 61, 62, 69 Abs. 2 SHG). Nach den Ausführungen zu I wäre hiernach die Verfassungsbeschwerde nicht unmittelbar gegen das Soforthilfegesetz, sondern nur gegen den Vollziehungsakt zulässig gewesen.
Im vorliegenden Fall war jedoch das Vollziehungsverfahren zwangsläufig schon wirksam abgeschlossen, ehe die Verfassungsbeschwerde - am 16. April 1951 - eingeführt wurde, und eine Möglichkeit, das Soforthilfeverfahren unter den hier maßgebenden Gesichtspunkten nochmals in Gang zu bringen, ist im Soforthilfegesetz nicht vorgesehen. Die Beschwerdeführerin auf das Vollziehungsverfahren verweisen, hieße also in diesem besonderen Fall, die Verfassungsbeschwerde unmöglich machen, obwohl die angegriffenen Bestimmungen des Soforthilfegesetzes in den allmonatlichen Zahlungen dauernd fortwirken und § 93 Abs. 3 BVerfGG die Verfassungsbeschwerde bis zum 1. April 1952 auch gegen frühere Gesetze ausdrücklich zuläßt. In einem solchen Falle, d. h. wenn der Vollziehungsakt vor dem 16. April 1951 wirksam geworden ist und die angegriffene Norm außerdem eine Dauerwirkung erzeugt, müßte möglicherweise die Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen das Gesetz zugelassen werden, um dem Sinne des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht gerecht zu werden.
Die Frage bedarf aber hier keiner endgültigen Entscheidung; denn selbst wenn man die Zuständigkeit unterstellt, so ist die Verfassungsbeschwerde jedenfalls unbegründet: Wenn das Bundesversorgungsgesetz einer nicht arbeitsfähigen Frau eine höhere Ausgleichsrente gewährt als einer arbeitsfähigen, so geschieht das, um auch der nicht arbeitsfähigen Frau aus Gründen der Fürsorge ein gewisses Mindesteinkommen zu sichern. Steht ihr dieses Mindesteinkommen aus dem Soforthilfegesetz, also auch in Gestalt einer staatlichen Rente, nochmals zu, so ist es durch den gleichartigen Fürsorgecharakter beider Renten in der Sache begründet, daß die Ausgleichsrente auf die Soforthilfe angerechnet wird. Wenn das auch für den Betroffenen schwer ist, so kann es doch nicht als willkürlich bezeichnet werden.
Auch der Antrag zu II ist deshalb als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.