BVerfG, 30.01.1953 - 1 BvR 377/51
1. Art. 101 Abs. 1 Satz 1 GG gibt lediglich die Voraussetzungen für die Entscheidung über Zulässigkeit und Fortdauer einer Freiheitsbeschränkung an. Auf die Form des Vollzugs der Freiheitsbeschränkung bezieht sich diese Bestimmung nicht; die Form des Vollzugs ist nur durch das in Abs. 1 Satz 2 ausgesprochene Verbot seelischer und körperlicher Mißhandlung beschränkt.
2. Art. 3 GG ist nicht dadurch verletzt, daß der Vollzug der Sicherungsverwahrung dem Vollzug der Zuchthausstrafe weitgehend angeglichen ist.
Beschluß
des Ersten Senats vom 30. Januar 1953 gem. § 24 BVerfGG
- 1 BvR 377/51 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Radiotechnikers Kurt Karl M.
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerde wird verworfen.
Gründe
Der wiederholt wegen verschiedener Vermögensdelikte vorbestrafte Beschwerdeführer wird urteilsgemäß im Anschluß an seine letzte Strafe (4 Jahre 6 Monate Zuchthaus) seit dem 18. April 1951 in Sicherungsverwahrung gehalten. Er behauptet, die Sicherungsverwahrung werde in Nordrhein-Westfalen auf Grund vorläufiger Strafvollziehungsbestimmungen des Landesjustizministers genau so vollstreckt wie die Zuchthausstrafe. Er erblickt darin eine unmittelbare Verletzung von § 42e StGB (Gegensatz von Strafe und Sicherungsverwahrung!) und damit indirekt des Art. 104 Abs. 1 GG.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, in sachlicher Hinsicht bleibt ihr jedoch der Erfolg versagt.
Die als verletzt bezeichnete Vorschrift des Art. 104 Abs. 1 GG bestimmt, daß für jede Freiheitsbeschränkung eine materiellrechtliche Grundlage gegeben sein muß. Diese Grundlage stellt hier § 42e StGB dar. Die Anordnung der Sicherungsverwahrung ist auch unter Beachtung der im Strafgesetzbuch vorgeschriebenen Formen, d. h. durch richterliches Urteil, erfolgt. Damit sind die Voraussetzungen des Art. 104 Abs. 1 Satz 1 GG erfüllt.
Die Art und Weise, wie die Sicherungsverwahrung durchzuführen ist, ist verfassungsmäßig nicht gewährleistet. Art. 104 Abs. 1 Satz 2 GG will lediglich einen unmenschlichen Vollzug verhindern, indem er ausdrücklich verbietet, festgehaltene Personen seelisch oder körperlich zu mißhandeln.
Es kann auch keine Rede davon sein, daß der Vollzug der Sicherungsverwahrung, der dem Vollzug der Zuchthausstrafe nach der Vorläufigen Strafvollzugsordnung für das Land NordrheinWestfalen (AV d. JM vom 11. August 1948 - IV 4400-17 -) in der Tat weitgehend entspricht, gegen den in Art. 3 GG aufgestellten Gleichheitssatz verstößt. Der Gleichheitssatz verpflichtet den Gesetzgeber nicht, unter allen Umständen Ungleiches ungleich zu behandeln. Der verfassungsmäßige Gleichheitssatz ist vielmehr nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (vgl. BVerfGE 1,264 Leitsatz Nr. 3) nur dann verletzt, wenn für eine am Gerechtigkeitsgedanken orientierte Betrachtungsweise die tatsächlichen Ungleichheiten in dem jeweils in Betracht kommenden Zusammenhang so bedeutsam sind, daß der Gesetzgeber sie bei seiner Regelung beachten muß.
Es ist dem Beschwerdeführer zuzugeben, daß mit der Sicherungsverwahrung ein anderer Zweck verfolgt wird als mit einer Gefängnis- oder Zuchthausstrafe. Zweck der Sicherungsverwahrung ist nicht (wie bei der Strafe), begangenes Unrecht zu sühnen, sondern die Allgemeinheit vor dem Täter nach Verbüßung der Strafe zu schützen. Gleichwohl sind stichhaltige Gründe vorhanden, die es rechtfertigen, den Vollzug der Sicherungsverwahrung dem Vollzug einer Strafe im wesentlichen anzugleichen. Strafe und Sicherung können nur mit dem gleichen Mittel, nämlich der Freiheitsentziehung, durchgeführt werden. Die Praktiker des Strafvollzugs (vgl. hierzu z. B. Referat von Exner auf dem Internationalen Strafrechts- und Gefängniskongreß, veröffentlicht in Actes du Congres Penal et Penitentiaire International, Bern 1935, III, S. 276) sind sich auf Grund ihrer Erfahrungen darüber einig, daß die zur Durchführung der Sicherungsverwahrung erforderliche Freiheitsentziehung im Interesse der Sicherheit mit gleicher Strenge wie bei der Strafe gehandhabt werden muß. Die Mittel der Ordnung und Disziplin müssen infolgedessen im wesentlichen die gleichen sein, weil es sich um den gleichen Täterkreis handelt. Daher ergeben sich auch Pflichtarbeit und sparsamste Lebenshaltung zwangsläufig. Unter diesen Umständen ist für eine Unterscheidung zwischen dem Vollzug der Strafe und dem Vollzug der Sicherungsverwahrung nur ein verhältnismäßig bescheidener Raum. So ist es erklärlich, daß nach Ziff. 211 Abs. 2 der Vorläufigen Strafvollzugsordnung die Vorschriften des Strafvollzugs über Arbeit, Freizeitgestaltung, Lebenshaltung, ärztliche Versorgung und Verkehr mit der Außenwelt sowie die Vorschriften über die Aufrechterhaltung von Sicherheit, Zucht und Ordnung entsprechend anzuwenden sind. Eine Reihe von kleineren Erleichterungen wird den Sicherungsverwahrten gegenüber den Strafgefangenen, die eine Zuchthausstrafe verbüßen, in der Strafvollzugsordnung zugebilligt. So weicht z. B. nach Ziff. 213 Abs. 2 der Vorläufigen Strafvollzugsordnung die Anstaltskleidung des Sicherungsverwahrten von der sonstigen Anstaltskleidung ab. Nach Abs. 4 kann der Anstaltsleiter einem Sicherungsverwahrten, dessen Entlassung in Frage kommt, im Wege der Leistungsbelohnung gestatten, zu Auszügen aus Büchern und zu Vermerken über berufliches Wissen ein Freizeitschreibheft zu führen oder auch anderes als gewerbliches Zeichnen zu treiben und sich das dazu Erforderliche beschaffen zu lassen, eine bestimmte Tageszeitung oder eine bestimmte Zeitschrift zu halten,
einem erwachsenen Sicherungsverwahrten auch, sich in mäßigem Umfang den Genuß von Tabak zu verschaffen.
Nach Ziff. 214 der Vorläufigen Strafvollzugsordnung kann die höhere Vollzugsbehörde ferner einen Sicherungsverwahrten, dessen Entlassung in Frage kommt, einer Anstalt überweisen, deren Einrichtungen eine vorsichtige und allmähliche Lockerung der Verwahrung zulassen, wenn die öffentliche Sicherheit diese Art der Verwahrung gestattet. Danach ist dem Gebot, Ungleiches auch ungleich zu behandeln, im Rahmen des Möglichen Rechnung getragen.
Bei der gegebenen Sach- und Rechtslage ist daher die Verfassungsbeschwerde gemäß § 24 BverfGG als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.