BVerfG, 17.06.1953 - 1 BvR 668/52
Im Klageerzwingungsverfahren nach § 172 StPO ist die Beiordnung eines Armenanwalts unter entsprechender Anwendung der §§ 114 ff. ZPO zulässig.
Beschluß
des Ersten Senats vom 17. Juni 1953
- 1 BvR 668/52 -
indem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Architekten Rudolf Sch. .
Entscheidungsformel:
Der Beschluß des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 3. September 1952 - Ws 300/52 - verletzt das Grundrecht aus Artikel 3 Absatz 1 des Grundgesetzes und wird daher aufgehoben. Die Sache wird an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückverwiesen.
Gründe
I.
1. Die Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts Nürnberg vom 3. September 1952 - Ws 300/52 -. Mit diesem Beschluß hat das Oberlandesgericht unter Berufung auf die ständige Rechtsprechung der bayerischen Oberlandesgerichte das Gesuch des Beschwerdeführers auf Beiordnung eines Armenanwalts zur Stellung eines Antrages auf gerichtliche Entscheidung nach § 172 StPO als unzulässig zurückgewiesen.
Der Beschwerdeführer rügt die Verletzung der Artikel 1, 2, 3, 20, 34 und 103 GG. Er trägt vor, daß er wegen seiner Mittellosigkeit durch den angefochtenen Beschluß in der Wahrnehmung seiner Rechte beeinträchtigt sei.
2. Der Bundesminister der Justiz und der Bayerische Staatsminister der Justiz haben zu der Verfassungsbeschwerde Stellung genommen.
Der Bundesminister der Justiz bezeichnet die Frage, ob die grundsätzliche Versagung des Armenrechts im Klageerzwingungsverfahren gegen den Gleichheitsgrundsatz verstoße, als zweifelhaft; er weist darauf hin, daß nach dem Regierungsentwurf des Dritten Strafrechtsänderungsgesetzes in § 172 StPO die Bewilligung des Armenrechts ebenso wie in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten vorgesehen sei (vgl. BTDrucks. Nr. 3713). Damit solle eine unbillige Beschwer armer Antragsteller beseitigt werden. Nach dem Vorschlag des Bundesrates (BRDrucks. Nr. 287/52) soll dagegen der Antrag auf gerichtliche Entscheidung auch zur Niederschrift der Geschäftsstelle erklärt werden können.
Der Bayerische Staatsminister der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Er ist der Ansicht, daß das Institut der Verfassungsbeschwerde nicht die Möglichkeit eines weiteren Rechtsbehelfes gegen gerichtliche Entscheidungen einräume. Eine Verfassungsbeschwerde sei nur dann begründet, wenn das Gericht "außerhalb der ihm gesetzten rechtlichen Schranken" ein verfassungsmäßiges Recht verletzt habe. Es komme also nicht darauf an, ob die Versagung des Armenrechts im Klageerzwingungsverfahren nach den Vorschriften der Strafprozeßordnung fehlerhaft sei, sondern allein darauf, ob das Gericht mit dieser Entscheidung die ihm durch die Strafprozeßordnung gesetzten Schranken verlassen habe. Dies wäre nur der Fall, wenn die Entscheidung den Charakter eines Machtspruches oder den der Willkür trüge. Der angefochtene Beschluß lasse jedoch erkennen, daß er nicht willkürlich sei und daß er sich auf die gesetzlichen Vorschriften stütze.
Der Bundestag hat in seiner 269. Sitzung vom 10. Juni 1953 das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz in dritter Lesung beschlossen. Danach lautet § 172 Abs. 3 Satz 1 und 2 StPO:
"Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung muß die Tatsache, welche die Erhebung der öffentlichen Klage begründen soll, und die Beweismittel angeben. Er muß von einem Rechtsanwalt unterzeichnet sein; für das Armenrecht gelten dieselben Vorschriften wie in bürgerlichen Rechtsstreitigkeiten."
Da der Beschwerdeführer durch Schriftsatz vom 29. Mai 1953 auf mündliche Verhandlung verzichtet hat, kann über seine Verfassungsbeschwerde gemäß § 25 BVerfGG durch Beschluß entschieden werden.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig. Zwar kann der Beschwerdeführer mit ihr nicht die Verletzung der Artikel 20 und 34 GG rügen: denn diese Bestimmungen enthalten weder Grundrechte noch ihnen nach § 90 Absatz 1 BVerfGG gleichgestellte Rechte. Im übrigen genügt jedoch die Verfassungsbeschwerde den Formerfordernissen des Gesetzes über das Bundesverfassungsgericht.
III.
Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.
1. Grundsätzlich unterliegt die rechtskräftige Entscheidung eines ordentlichen Gerichts nicht der inhaltlichen Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht. Die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung der Gesetze und ihre Anwendung auf den einzelnen Fall ist vielmehr Sache der ordentlichen Gerichte (vgl. BVerfGE 1, 8 und 420). Das Bundesverfassungsgericht hat aber zu prüfen, ob die angegriffene Entscheidung nicht dadurch, daß sie außerverfassungsmäßiges Recht unrichtig anwendet, zugleich ein Grundrecht, also typisches Verfassungsrecht, verletzt hat. Gerade dies aber wird hier behauptet.
2. Im Klageerzwingungsverfahren gemäß § 172 StPO kann der Verletzte den Antrag auf gerichtliche Entscheidung nur mit einer von einem Rechtsanwalt unterzeichneten Schrift stellen. Es besteht also Anwaltszwang. Über die Gewährung des Armenrechts enthält das Gesetz keine Vorschrift. Nach der herrschenden Ansicht in Rechtsprechung und Schrifttum ist die Bewilligung des Armenrechts und Beiordnung eines Armenanwalts unzulässig (vgl. OLG Köln in NJW 1953, 598; OLG Düsseldorf in NJW 1953, 598; OLG Bamberg in NJW 1952, 1269; OLG Freiburg in DRZ 1950, 259; OLG Braunschweig in Nds. Rpfl. 1950, 44; OLG München in JW 1937, 3151; Löwe-Rosenberg, 19. Aufl., § 172 Anm. 8 c; KMR, 2. Aufl., § 172 Anm. 6 e; a. A. OLG Stuttgart Nebensitz Karlsruhe in JZ 1952, 284; Niese in JZ 1952, 267 und 647; Schwarz, 13. Aufl., § 172 Anm. 2b). Man folgert dies aus dem Schweigen des Gesetzgebers; dieser habe die Möglichkeit der Bewilligung des Armenrechts und Beiordnung eines Armenanwalts nicht etwa übersehen, sie vielmehr ausschließen wollen. Ähnlich wie beim Privatklageverfahren (§ 379 StPO) hätte ausdrücklich eine entsprechende Regelung getroffen werden müssen, wenn die Bewilligung des Armenrechts zulässig sein sollte. Dieser Ansicht hat sich auch das Oberlandesgericht Nürnberg angeschlossen. Sie steht jedoch nicht im Einklang mit Art. 3 Abs. 1 GG.
Der Gesetzgeber hat zwar in der Tat dadurch, daß er im Gegensatz zu § 379 StPO (Privatklageverfahren) die Gewährung des Armenrechts nicht geregelt hat, Anlaß zu der Auslegung gegeben, daß die Gewährung des Armenrechts ausgeschlossen sei. Die Gerichte haben jedoch zu prüfen, ob diese negative Entscheidung des Gesetzgebers seit dem 23. Mai 1949 noch mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Denn die Gerichte sind seit diesem Tage an die Grundrechte des Grundgesetzes gebunden und müssen sie auch bei der Auslegung sonstiger gesetzlicher Bestimmungen beachten (Art. 1 Abs. 3 GG). Das Oberlandesgericht hätte also vor allem prüfen müssen, ob die bisherige Auslegung noch mit dem Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar ist. Er verbietet, daß wesentlich Gleiches ohne zureichenden Grund ungleich behandelt wird (vgl. BVerfGE 1, 52). Auf den vorliegenden Fall angewendet, ergibt er, daß kein sachlicher Grund es rechtfertigt, die Gewährung des Armenrechts auszuschließen und damit dem Minderbemittelten das Verfahren nach § 172 StPO zu versperren. Die grundsätzliche Ablehnung des Armenrechts benachteiligt willkürlich den Beschwerdeführer als Minderbemittelten und hindert ihn, einen vom Gesetz vorgesehenen Rechtsweg zu beschreiten, nur weil er nicht über die notwendigen Geldmittel verfügt. Dem kann nicht entgegengehalten werden, es sei Sache des Gesetzgebers gewesen, nach Inkrafttreten des Grundgesetzes eine dem Gleichheitssatz entsprechende Regelung zu treffen; die Gerichte könnten nicht an seiner Stelle handeln. Im allgemeinen ist es zwar richtig, daß eine vom Gesetzgeber unterlassene Regelung nicht durch die Gerichte nachgeholt werden kann. Hier liegt es aber so, daß vom Boden des geltenden Rechts aus, das den Anwaltszwang eingeführt hat, nur noch eine Regelung denkbar ist, die dem Gleichheitssatz Rechnung trägt, nämlich die Bewilligung des Armenrechts. Da sie mit dem Gesetzeswortlaut vereinbar ist, kann sie von den Gerichten im Wege der Auslegung an die Stelle der bisherigen Auslegung gesetzt werden.
Auch der Einwand, daß bei der Entscheidung über das Armenrechtsgesuch schon weitgehend in eine Sachentscheidung wegen der zu prüfenden Erfolgsaussichten eingetreten und damit u. U. auch über grundlose, böswillige und querulatorische Anträge entschieden werden muß, kann die Notwendigkeit einer den Gleichheitssatz berücksichtigenden Auslegung nicht beseitigen. Der minderbemittelte Verletzte kann nicht deswegen von dem Klageerzwingungsverfahren, in dem er Erfolg haben könnte, ausgeschlossen werden, weil auch Querulanten mit dem Antrag auf Beiordnung eines Armenanwalts das Gericht zur Bescheidung des Gesuches zwingen können.
Die Ablehnung des beantragten Armenrechts im Einzelfall wegen Fehlens der Voraussetzungen nach §§ 114 ff. ZPO stellt - wie das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden hat - keine Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes und des Grundrechts auf rechtliches Gehör dar (vgl. Beschluß vom 6. März 1952 -1 BvR 392/51 -).
Der Beschluß ist daher gem. § 95 Abs. 2 BVerfGG aufzuheben und die Sache an das Oberlandesgericht Nürnberg zurückzuverweisen.