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BVerfG, 01.07.1954 - 1 BvR 361/52

Daten
Fall: 
Bindung durch Rechtsinstanz
Fundstellen: 
BVerfGE 4, 1; DÖV 1954, 500; DVBl 1955, 21; JZ 1954, 548; NJW 1954, 1153
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
01.07.1954
Aktenzeichen: 
1 BvR 361/52
Entscheidungstyp: 
Beschluss
Instanzen: 
  • BFH, 13.03.1952 - IV 362/51

Zur Frage der Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG durch gerichtliche Urteile.

Inhaltsverzeichnis 

Beschluß

des Ersten Senats vom 1. Juli 1954
- 1 BvR 361/52 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Gustav Freiherr von L. gegen das Urteil des Bundesfinanzhofs vom 13. März 1952 - IV 362/51 -.
Entscheidungsformel:

Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.

Gründe

A.

I.

1. Der Beschwerdeführer ist lohnsteuerpflichtig. Da er auf Grund einer notariellen Unterhaltsvereinbarung verpflichtet ist, an seine geschiedene Ehefrau ein Drittel seines Nettoeinkommens als Unterhaltsrente zu zahlen, beantragte er, ihm für das Jahr 1950 einen Freibetrag zu bewilligen. Diesen errechnete er aus einer monatlichen Unterhaltsrente von 350.- DM abzüglich einer zumutbaren Jahresbelastung gemäß § 25 LStDVO von 685.- DM auf insgesamt 3515.- DM. Das Finanzamt bewilligte dem Beschwerdeführer jedoch nur einen Betrag von 1115.40 DM.

Gegen diesen Bescheid des Finanzamts legte der Beschwerdeführer Sprungberufung an das Finanzgericht ein. Dieses hob mit Urteil vom 19. 0ktober 1950 den Steuerbescheid auf und setzte den steuerfreien Betrag nach dem Antrage des Beschwerdeführers fest. Zur Begründung führte er aus, daß eine von einem Zivilgericht festgesetzte Unterhaltsrente in voller Höhe als zwangsläufig anzuerkennen sei, und daß die vom Beschwerdeführer freiwillig zugestandene Rente von einem Gericht in etwa der gleichen Höhe festgesetzt worden wäre.

Auf die Rechtsbeschwerde des Vorstehers des Finanzamts hob der Bundesfinanzhof mit Urteil vom 2. März 1951 das Urteil des Finanzgerichts auf und verwies die Sache an dieses zurück. In den Gründen heißt es u.a.:

"Eine der Voraussetzungen für die Anwendbarkeit des § 33 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ist, daß die Belastung zwangsläufig erwächst. Die Belastung des Steuerpflichtigen (Stpfl.) durch die Unterhaltsgewährung an die geschiedene Ehefrau ist aber nur insoweit zwangsläufig, als die Aufwendungen unter Berücksichtigung der Verhältnisse des Unterhaltsberechtigten notwendig und angemessen sind. Dem Senat ist es jedoch nicht möglich, insoweit eine Nachprüfung vorzunehmen, weil die Vorinstanzen darüber keine Erörterungen angestellt haben, und der Pfl. in dem Antrage auf Zubilligung eines steuerfreien Betrages wegen außergewöhnlicher Belastung die Fragen nach dem Einkommen und dem Vermögen der geschiedenen Ehefrau und danach, wer etwa außer ihm noch zum Unterhalt der geschiedenen Ehefrau beiträgt, nicht beantwortet hat. Aus den Angaben anläßlich der vom Pfl. für die Vorjahre begehrten Steuervergünstigungen ist zu entnehmen, daß die Ehefrau damals ein Vermögen von 17 000 DM und auch Einkünfte gehabt hat. § 1578 BGB geht davon aus, daß eine Unterhaltsgewährung nur insoweit in Betracht kommt, als die geschiedene Ehefrau den standesgemäßen Unterhalt nicht aus den Einkünften ihres Vermögens bestreiten kann. Da nicht ersichtlich ist, wie die wirtschaftlichen Verhältnisse der geschiedenen Ehefrau im Jahre 1950 gelagert gewesen sind, ist die Sache zur weiteren Aufklärung an das Finanzgericht zurückzuverweisen, das dabei das neue Vorbringen des Pfl. in tatsächlicher Hinsicht noch würdigen kann. Das Finanzgericht wird bei seiner erneuten Entscheidung auch noch zu prüfen haben, ob die Unterhaltsleistungen des Stpfl. gegenüber seiner geschiedenen Ehefrau – unter Berücksichtigung der Unterhaltsleistungen des Stpfl. gegenüber seiner zweiten Ehefrau und dem aus dieser zweiten Ehe hervorgegangenen Kind – zum Einkommen des Stpfl. (Unterhaltsverpflichteten) noch in einem rechten Verhältnis stehen. Sollte dies nicht der Fall sein, so können sie auch unter diesem Gesichtspunkte nicht als zwangsläufig anerkannt werden."

2. Das Finanzgericht stellte daraufhin im zweiten Rechtsgange fest, daß die geschiedene Ehefrau des Beschwerdeführers im Jahre 1950 insgesamt 500.- DM Einkommen aus ihrem Vermögen erzielt habe und daß in der Unterhaltsrente ein Betrag von monatlich 75.- DM enthalten sei, den die Unterhaltsbegünstigte an ihre lungenkranke Tochter weiterleite, damit diese sich eine Hausgehilfin halten könne. Das Finanzgericht setzte beide Posten von der Unterhaltsrente ab und erkannte nunmehr nur noch einen Betrag von 2315.- DM als abzugsfähig an.

Gegen dieses Urteil legten beide Parteien Rechtsbeschwerde ein. Mit Urteil vom 13. März 1952 hob der Bundesfinanzhof – in teilweise anderer Besetzung als im ersten Rechtsgange – das Urteil des Finanzgerichts abermals auf und setzte den lohnsteuerfreien Betrag entsprechend dem Bescheid des Finanzamts auf 1115.40 DM fest. Diese Entscheidung begründete der Bundesfinanzhof wie folgt:

"Die bisherige Rechtsprechung ist davon ausgegangen, Unterhaltsleistungen eines Ehegatten an den von ihm geschiedenen Ehegatten in der Höhe als außergewöhnliche Belastung anzuerkennen, in der ein Zivilgericht die Unterhaltsrente festgesetzt hat oder festsetzen würde. An dieser Rechtsprechung vermag der Bundesfinanzhof nicht mehr festzuhalten. Es ist vielmehr in jedem einzelnen Falle der Familienstand, die Höhe des Einkommens und die wirtschaftliche Lage des Stpfl. zu berücksichtigen. An irgendwelche Verwaltungsanweisungen ist der Bundesfinanzhof nicht gebunden.

Im vorliegenden Falle würde angesichts der Höhe des Einkommens des Stpfl. eine Steuerermäßigung nach § 33 EStG überhaupt nicht in Betracht kommen, wenn sich der Stpfl. nicht inzwischen wieder anderweit verheiratet und außer für seine zweite Ehefrau auch noch für ein Kind zu sorgen hätte. Bei dieser Sachlage erachtet der Senat eine Berücksichtigung der jährlichen Unterhaltsleistungen des Stpfl. in Höhe von 1800 DM, wie das Finanzamt ursprünglich zugestanden hatte, für ausreichend. Das Vermögen der Ehefrau und die ihr außer den Unterhaltsleistungen zugeflossenen Einkünfte können außer Betracht bleiben."

II.

1. Dieses Urteil ist dem Beschwerdeführer am 29. März 1952 zugegangen. Er hat hiergegen am 26. April 1952 Verfassungsbeschwerde eingelegt, mit der er die Verletzung des Art. 3 GG rügt. Zur Begründung führt er aus:

Der Bundesfinanzhof weiche in seinem Urteil im zweiten Rechtsgange ohne nähere Begründung von einer langjährigen Rechtsprechung ab, die auch allein dem Sinn und Zweck des Gesetzes entspreche. Auf keinen Fall aber sei der Bundesfinanzhof berechtigt gewesen, von der Rechtsauffassung abzuweichen, die seinem Urteil im ersten Rechtsgange – in Übereinstimmung mit der bisherigen Rechtsprechung – zugrunde gelegen habe; diese Rechtsauffassung müsse nach anerkannten prozessualen Grundsätzen auch für die Entscheidung im zweiten Rechtsgange maßgeblich bleiben.

2. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Bundesminister der Finanzen Gelegenheit zur Äußerung gegeben. Er hält die Verfassungsbeschwerde in erster Linie für unzulässig, weil das Bundesverfassungsgericht nicht zur sachlichen Nachprüfung der Richtigkeit letztinstanzlicher gerichtlicher Entscheidungen befugt sei.

Hilfsweise hält er die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Er meint, selbst wenn im vorliegenden Fall der Grundsatz der Bindung der Rechtsmittelinstanz an ihre eigene, im ersten Rechtsgange geäußerte Rechtsauffassung nicht beachtet worden sei, so liege darin keine Verletzung des Gleichheitssatzes.

Das Urteil des Bundesfinanzhofs verletze auch nicht den Grundsatz der Bindung des Rechtsmittelgerichts an seine eigenen Entscheidungen in derselben Sache. Der Bundesfinanzhof habe im ersten Rechtsgange den Begriff der Zwangsläufigkeit einer nach § 33 EStG zu berücksichtigenden außergewöhnlichen Belastung nach zwei Richtungen hin erläutert, ohne dazu Stellung zu nehmen, ob die Grundsätze der bisherigen Rechtsprechung beizubehalten seien.

B.

I.

Da der Beschwerdeführer auf Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet hat und weitere Verfahrensbeteiligte nicht vorhanden sind, kann ohne mündliche Verhandlung entschieden werden (§ 25 Abs. 1 BVerfGG).

II.

1. Die form- und fristgerecht eingelegte Verfassungsbeschwerde ist zulässig, da der Beschwerdeführer geltend macht, durch das angefochtene Urteil in seinem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG verletzt zu sein und gerichtliche Entscheidungen dieses Grundrecht verletzen können (vgl. BVerfGE 2, 336 [340]).

2. Der Beschwerdeführer erblickt die Verletzung des Gleichheitssatzes darin, daß der Bundesfinanzhof seiner Entscheidung im zweiten Rechtsgange eine andere Rechtsauffassung zugrunde gelegt habe als im ersten Rechtsgange.

Im deutschen Verfahrensrecht besteht der Grundsatz, daß der Spruch der Rechtsinstanz (des Revisionsgerichts, Rechtsbeschwerdegerichts oder des Gerichts der weiteren Beschwerde) die Vorinstanz im Falle der Zurückweisung bindet, soweit die von der Rechtsinstanz im ersten Rechtsgange gegebene rechtliche Beurteilung des Sachverhalts reicht (vgl. § 296 Abs. 4 AO; § 565 Abs. 2 ZPO; § 358 Abs. 1 StPO; § 72 Abs. 3 ArbGG; § 170 Abs. 4 SozialGG; § 63 Abs. 5 BVerwGG). Diese Bindung bedeutet für die Tatsacheninstanz den grundsätzlichen Zwang, der Rechtsinstanz zu folgen, wenn die Sachlage bis zur erneuten Entscheidung dieselbe bleibt. Wo aber eine Bindung der Tatsacheninstanz besteht, ist auch die Rechtsinstanz bei erneuter Befassung nach herrschender Rechtsprechung an ihre rechtliche Beurteilung im ersten Rechtsgange gebunden.

(Vgl. RFH 7, 27 (29/30); RFH StW 1929, II, 1388; RFH 42, 348 (349); für den Zivilprozeß RGZ 149, 157 (163); für den Strafprozeß RGSt. 59, 31 (34); für das Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit RGZ 124, 322 (323); für das Preuß. Verwaltungsverfahren OVG 100, 313 (317); für das Bayer. Verwaltungsverfahren VGHE 2, 282 (288); für das Sozial-Versicherungs-Verfahren RVA in Monatsschrift für Arbeiter- und Angestelltenversicherung 1915, 405).

Dem ist insbesondere auch das steuerrechtliche Schrifttum beigetreten.

(Vgl. Riewald § 296 Anm. 4 (3); Kühn 2. Aufl. § 296 Anm. 4 und Stw 1952, I, 657 (660 ff.); Boethke DStZ 1928, 302; Seweloh Stw 1937, I, 219 und 340; Zitzlaff StW 1938, I, 181 und StW 1941, I, 357.)

Der Reichsfinanzhof hat diesen Grundsatz in einzelnen Fällen durchbrochen, in denen eine für das betreffende Verfahren grundlegende Rechtsfrage zwischen der Entscheidung des ersten und zweiten Rechtsganges vom Reichsfinanzhof in einer anderen Sache abweichend beurteilt worden war (vgl. RFH 40, 308 [309]; RFH RStBl. 1941, 211 [212]; im allgemeinen hat auch er jedoch im Einklang mit den übrigen Revisions- und Rechtsbeschwerdegerichten an ihm festgehalten [RFH 42, 348 [349]]. Dem entspricht auch die Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs [vgl. BStBl. 1954 III, 72].

Diesem Grundsatz kommt – im Gegensatz etwa zu dem des rechtlichen Gehörs - kein Verfassungsrang zu. Jedoch bedarf es der Prüfung, ob ein Gericht, das sich in einem einzelnen Fall über diesen sonst allgemein von ihm befolgten Grundsatz des Verfahrensrechts hinwegsetzt, gegen den Gleichheitssatz verstößt.

3. Es kann zweifelhaft sein, ob die Voraussetzungen für eine Anwendung des Grundsatzes der Selbstbindung hier vorlagen; gewisse Wendungen im ersten Urteil des Bundesfinanzhofs könnten nämlich dahin gedeutet werden, daß er eine rechtliche Festlegung zunächst vermeiden wollte. Jedoch mag dies dahinstehen. Denn selbst wenn der Bundesfinanzhof in seiner zweiten Entscheidung den Grundsatz der Selbstbindung irrtümlich unbeachtet gelassen hätte, könnte eine Verletzung des Art. 3 GG darin nicht gefunden werden. Es ist allgemein anerkannt und entspricht der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, daß die Verfassungsbeschwerde gegen Urteile nicht zur Nachprüfung im vollen Umfange, wie bei einer Revisionsinstanz, sondern nur zur Nachprüfung auf verfassungsrechtliche Verstöße führen kann (BVerfGE 1, 4 [5];1, 7 [8]; 1, 418 [428, 429]; BVerfGE 3, 213 [219, 220]). Ein solcher Verstoß liegt bei gerichtlichen Urteilen unter dem Gesichtspunkt des Willkürverbots des Art. 3 Abs. 1 GG nicht schon dann vor, wenn die Rechtsanwendung oder das eingeschlagene Verfahren Fehler enthalten. Hinzukommen muß vielmehr, daß diese bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich sind und sich daher der Schluß aufdrängt, daß sie auf sachfremden Erwägungen beruhen.

Dieser Tatbestand liegt hier nicht vor, wenn man berücksichtigt, daß der Umfang der Selbstbindung der Revisions- und Rechtsbeschwerdegerichte im Einzelfall zweifelhaft sein kann. Die Außerachtlassung des Grundsatzes der Selbstbindung stellt hier im äußersten Falle eine gewisse Nachlässigkeit dar, die jedoch im Verfahren der Verfassungsbeschwerde nicht korrigiert werden kann.

4. Die Verfassungsbeschwerde ist daher als unbegründet zurückzuweisen.