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BVerfG, 20.07.1954 - 1 PbvU 1/54

Daten
Fall: 
Klagebefugnis politischer Parteien
Fundstellen: 
BVerfGE 4, 27; DÖV 1955, 53; DVBl 1955, 405; JZ 1955, 46; NJW 1955, 17
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
20.07.1954
Aktenzeichen: 
1 PbvU 1/54
Entscheidungstyp: 
Beschluss

Beschluß

des Plenums vom 20. Juli 1954
- 1 PBvU 1/54 -
gem. § 16 Abs. 1 BVerfGG auf die Vorlage des Zweiten Senats.
Entscheidungsformel:

Politische Parteien können die Verletzung ihres verfassungsrechtlichen Status durch die rechtliche Gestaltung des Wahlverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht nur im Wege des Organstreits geltend machen.

Gründe

1. Der Zweite Senat will seiner Entscheidung in Sachen des Südschleswigschen Wählerverbandes gegen die Landesregierung und den Landtag des Landes Schleswig-Holstein (BVerfGE 4, 31) die Rechtsauffassung zugrundelegen, daß politische Parteien die Verletzung ihrer Rechte durch die Gestaltung des Wahlverfahrens im Wege des Organstreits vor dem Bundesverfassungsgericht geltend machen können. Er sieht sich daran gehindert, weil der Erste Senat den politischen Parteien in mehreren Entscheidungen zur Verfolgung dieser Rechte den Weg der Verfassungsbeschwerde eröffnet hat und der Zweite Senat - im Gegensatz zum Ersten - der Auffassung ist, daß nur einer der beiden Rechtsbehelfe zulässig sein könne. Der Zweite Senat hat daher diese Rechtsfrage gemäß § 16 Abs. 1 BVerfGG dem Plenum des Bundesverfassungsgerichts zur Entscheidung vorgelegt.

2. Nach § 16 Abs. 1 BVerfGG entscheidet, wenn ein Senat in einer Rechtsfrage von der in einer Entscheidung des anderen Senats enthaltenen Rechtsauffassung abweichen will, das Plenum des Bundesverfassungsgerichts. Durch diese Bestimmung soll verhindert werden, daß beide Senate in Entscheidungen zu der gleichen Rechtsfrage verschiedene Auffassungen vertreten Das würde nicht nur dann der Fall sein, wenn in Entscheidungen der beiden Senate gegensätzliche Rechtsauffassungen, die die Entscheidung tragen, ausdrücklich ausgesprochen werden, sondern nach dem Zweck der Bestimmung auch dann, wenn die Rechtsauffassung, die der Entscheidung eines Senats unausgesprochen zugrundeliegt, nach ihrem Sinn und Inhalt, zu Ende gedacht, mit einer von dem anderen Senat vertretenen Auffassung nicht vereinbar ist. Dieser Fall ist hier gegeben.

3. Die beiden Senate sind sich über die grundsätzliche Stellung der politischen Parteien in der Wirklichkeit des modernen demokratischen Parteienstaats einig.

Der Erste Senat hat im Urteil vom 23. Oktober 1952 BVerfGE 2,1 - ausgeführt (S. 11):

"Auf der anderen Seite liegt es im Wesen jeder Demokratie, daß die vom Volke ausgehende Staatsgewalt in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt wird. Dieser Volkswille kann jedoch wiederum in der Wirklichkeit des modernen demokratischen Großstaates nur in den Parteien als politischen Handlungseinheiten erscheinen."

Das gleiche Urteil sagt (S. 73), die Bedeutung des Art. 21 GG lasse sich dahin zusammenfassen:

"Absatz 1 dieser Bestimmung erkennt an, daß die Parteien an der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken, und hebt sie damit aus dem Bereich des Politisch-Soziologischen in den Rang einer verfassungsrechtlichen Institution."

In dem folgenden Satz spricht das Urteil von einer "Inkorporation" der Parteien in das Verfassungsgefüge.
Der Zweite Senat will an folgender, seinem Urteil vom 5. April 1952 - BVerfGE 1, 208 ff.- zugrunde liegenden Rechtsauffassung festhalten:

"Ein solcher Einbau enthält die Anerkennung, daß die Parteien nicht nur politisch-soziologisch, sondern auch rechtlich relevante Organisationen sind. Sie sind zu integrierenden Bestandteilen des Verfassungsaufbaus und des verfassungsrechtlich geordneten politischen Lebens geworden." (a.a.O. S. 225).

4. Aus dieser grundsätzlichen Auffassung von der verfassungsrechtlichen Stellung der politischen Parteien nach dem Grundgesetz hat der Zweite Senat die Folgerung gezogen, daß den Parteien, wenn sie geltend machen, ihr Recht auf gleiche Zulassung zur Parlamentswahl sei durch Vorschriften des Wahlgesetzes verletzt, der Weg des sog. Organstreits offenstehe. Denn sie gehörten wie die eigentlichen "formierten" Verfassungsorgane zu den "im inneren Bereich des Verfassungslebens Stehenden"; wenn sie also ihr Recht auf Wahlrechtsgleichheit geltend machten, behaupteten sie ein Recht auf "Teilhabe am Verfassungsleben". Dafür stehe ihnen als "anderen Beteiligten" im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG der vom BVerfGG für solche Streitigkeiten vorgesehene Rechtsbehelf des Organstreits zur Verfügung.

Der Erste Senat hat, ohne diese Folgerung zu bestreiten, es als zulässig angesehen, daß politische Parteien auch mit der Verfassungsbeschwerde gegen ein Wahlgesetz vorgehen können, das ihr Grundrecht auf Wahlgleichheit verletze. Dabei lag die Anschauung zugrunde, daß die Parteien auch als gesellschaftliche Gruppen eigener Art betrachtet werden könnten, die, wenn sie sich an Wahlen beteiligten, grundsätzlich keine andere Stellung einnähmen als sonstige Wählervereinigungen und dem Gesetzgeber insoweit ebenso gegenüberstünden wie jeder andere Rechtsunterworfene, wie "jedermann" im Sinne des § 90 BVerfGG.

Nach dieser Auffassung würden, der Stellung der Parteien zwischen dem Bürger und den "formierten" Verfassungsorganen entsprechend, beide Rechtsbehelfe nebeneinander zulässig sein, die gleiche materielle Streitfrage also entweder im Gewande des Organstreits oder im Gewande der Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht ausgetragen werden können, eine Verfahrenskonkurrenz, wie sie auch sonst in der Verfassungsgerichtsbarkeit vorkommt.

5. Das Plenum ist zu der Auffassung gelangt, daß eine politische Partei, die behauptet, ihr Recht auf gleiche Behandlung im parlamentarischen Wahlverfahren sei durch die Gestaltung dieses Verfahrens im Wahlgesetz verletzt, dieses Recht nur im Wege des Organstreits durchsetzen kann.
Die Verfassungsbeschwerde ist der spezifische Rechtsbehelf des Bürgers gegen den Staat. Sie ist "jedermann" gegeben, wenn die öffentliche Gewalt, d. h. der Staat in seiner Einheit, repräsentiert durch irgendein Organ, die Sphäre des Antragstellers verletzt hat, die durch Grundrechte gegenüber dem Staat gesichert ist. Unter dieser Voraussetzung kann sie nicht nur zum Schutz der eigentlichen, die Freiheitssphäre des Einzelnen negatorisch sichernden Grundrechte, sondern auch zur Durchsetzung der politischen Rechte des Aktivstatus, vor allem des Wahlrechts, benutzt werden; das ergibt sich aus der Anführung des Art. 38 GG in § 90 BVerfGG.

Das Wahlrecht als subjektives öffentliches Recht ist ursprünglich ein Recht des einzelnen Bürgers. Seitdem die Wahlgesetze, der tatsächlichen Entwicklung Rechnung tragend, gewisse Befugnisse, namentlich das der Einreichung von Wahlvorschlägen, auch Wählervereinigungen eingeräumt haben, steht nichts entgegen, auch bei ihnen insoweit von einem Wahlrecht zu sprechen. Es ist dann nur folgerichtig, sie bei Verletzung dieses Rechts zur Verfassungsbeschwerde zuzulassen. Handelt es sich jedoch bei solchen Wählervereinigungen um politische Parteien, so wird entscheidend, daß Art. 21 GG die Parteien zu notwendigen Bestandteilen des Verfassungsaufbaus macht. Daraus folgt, daß sie Funktionen eines Verfassungsorgans ausüben, wenn sie bei der politischen Willensbildung des Volkes mitwirken.

Die Parteien nehmen dieses ihnen in Art. 21 GG garantierte Recht in erster Linie durch Beteiligung an den Parlamentswahlen wahr. Wenn sie in diesem Bereich tätig werden und um die Rechte kämpfen, die sich aus dieser besonderen Funktion im Verfassungsleben ergeben, dann muß ihre "organschaftliche" Qualität auch die Form ihrer Teilnahme am verfassungsgerichtlichen Verfahren bestimmen: Sie können nur Beteiligte im Organstreit sein, die Verfassungsbeschwerde aber wäre für sie nach der Struktur des BVerfGG nicht das adäquate prozessuale Mittel.

In diesem Sinne ist die Anführung des Art. 38 in § 90 einschränkend auszulegen. Das bedeutet nicht, daß Art. 38 das Wahlrecht der politischen Parteien materiell nicht betreffe. Die Entscheidung bedeutet auch nicht, daß den politischen Parteien die Verfassungsbeschwerde schlechthin versagt wäre. Sie beschränkt sich vielmehr auf die Feststellung, daß die Rechte der politischen Parteien im Wahlverfahren, insbesondere ihr Recht auf Gleichbehandlung, zu ihrem besonderen verfassungsrechtlichen Status gehören und daher die Verletzung dieser Rechte nur im Verfassungsstreit geltend gemacht werden kann. Damit wird auch das unerwünschte Ergebnis vermieden, daß eine politische Partei nach Zweckmäßigkeitserwägungen zwischen den beiden Rechtsbehelfen wählen könnte.