BVerfG, 14.05.1957 - 2 BvR 1/57
1. Die Anführung der Art. 38 und 33 GG in § 90 BVerfGG meint diese Artikel nicht in ihrem ganzen Umfang, sondern nur soweit sie in ähnlicher Weise wie die übrigen Artikel des Grundgesetzes, in die sie hier eingereiht sind, Individualrechte garantieren.
2. Die Frage, ob ein Abgeordneter infolge des Verbots seiner Partei sein Mandat verloren hat, betrifft seinen verfassungsrechtlichen Status; sie kann daher nicht Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein.
Beschluß
des Zweiten Senats vom 14. Mai 1957
- 2 BvR 1/57 -
gem. § 24 BVerfGG in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerden der ehemaligen Mitglieder der Bremischen Bürgerschaft: 1. Heinrich D.; 2. Hermann G.; 3. Maria K.; 4. Wilhelm M., gegen die Entscheidung des Bremischen Staatsgerichtshofs vom 5. Januar 1957 Az. St. 2/1956 -.
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerden werden als unzulässig verworfen.
Gründe
A.
Die Verfassungsbeschwerden vom 22. Januar 1957 richten sich gegen die Entscheidung des Staatsgerichtshofs Bremen vom 5. Januar 1957 - Az. St. 2/1956 -. Der Tenor der Entscheidung lautet:
1. Die Abgeordneten der Bremischen Bürgerschaft, welche der durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. August 1956 aufgelösten Kommunistischen Partei Deutschlands angehörten, verlieren ihren Sitz in der Bürgerschaft als Landtag.
2. Den Verlust der Mitgliedschaft stellt der Vorstand der Bremischen Bürgerschaft fest. Der Verlust wird mit der Feststellung wirksam.
3. Der Verlust der Mitgliedschaft erstreckt sich nicht auf die Stadtbürgerschaft.
Die Beschwerdeführer fühlen sich durch Ziffer 1 der Entscheidung in ihren Rechten nach Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 33 Abs. 2 und 3 Satz 2 GG verletzt. Sie tragen vor, die vom Bremischen Staatsgerichtshof im Anschluß an die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Parteiverbot (BVerfGE 2, 1 [72 ff.]; 5, 85 [391 ff.]) vertretene Auslegung des Art. 21 Abs. 2 GG sei verfassungswidrig. Der Verlust der Abgeordnetenmandate könne nicht die Folge des Parteiverbotes sein.
Die Beschwerdeführer beantragen,
1. Die Entscheidung des Bremischen Staatsgerichtshofs vom 5. Januar 1957 - St. 2/1956 - betreffend die Mitgliedschaft derjenigen Mitglieder der Bremischen Bürgerschaft, die der Kommunistischen Partei Deutschlands vor deren Auflösung durch Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 17. August 1956 angehört haben, insoweit als grundgesetzwidrig (Verletzung der Art. 38 Abs. 1 Satz 2 und Art. 33 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 des Grundgesetzes) aufzuheben, als sie unter Ziffer 1 den Verlust der Sitze dieser Abgeordneten in der Bremischen Bürgerschaft als Landtag feststellt,
2. über die Verfassungsbeschwerde nach mündlicher Verhandlung zu entscheiden.
Der Ausschuß gemäß § 14 Abs. 5 BVerfGG hat entschieden, daß der Zweite Senat zuständig ist.
B.
Die Verfassungsbeschwerden sind unzulässig.
Nach § 90 BVerfGG kann jedermann Verfassungsbeschwerde bei dem Bundesverfassungsgericht einlegen mit der Behauptung, in einem der in § 90 genannten Rechte durch die öffentliche Gewalt verletzt zu sein. Zur öffentlichen Gewalt im Sinne dieser Vorschrift gehören auch die Verfassungsgerichte der Lander. Ihre Entscheidungen können demnach grundsätzlich mit der Verfassungsbeschwerde bei dem Bundesverfassungsgericht angefochten werden.
Eine Verfassungsbeschwerde nach § 90 BVerfGG ist aber nicht zulässig, wenn eine Verletzung der dort genannten Rechte durch die angefochtene Maßnahme gar nicht möglich ist. Das ist hier der Fall.
Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG, auf den sich die Beschwerdeführer berufen, bezieht sich, wie der ganze Art. 38 nur auf die Abgeordneten des Bundestages (BVerfGE 3, 383 [390 f.]; Urteil vom 23. Januar 1957 - 2 BvR 6/56 1; Beschluß vom 7. Mai 1957 - 2 BvR 2/56. Außerdem aber wird gerade dieser Satz des Art. 38 von der Anführung des Artikels in § 90 BVerfGG nicht mitumfaßt, da er nicht ein Individualrecht des Abgeordneten als "jedermann" begründet, sondern die organschaftliche Stellung der Abgeordneten umschreibt und ihnen Pflichten als Mitglieder des Parlaments auferlegt. Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG könnte also selbst dann nicht zur Begründung einer Verfassungsbeschwerde herangezogen werden, wenn es sich nicht um den Verlust eines Mandats in einem Landtag, sondern um den Verlust eines Mandats im Bundestag handeln würde.
Ob und inwieweit Art. 33 Abs. 2 und Abs. 3 Satz 2 GG auf die Mitgliedschaft in Parlamenten bezogen werden können, kann dahingestellt bleiben. Jedenfalls meint auch die Anführung des Art. 33 in § 90 BVerfGG diesen Artikel nur in dem Umfang, in dem er Individualrechte für "jedermann" garantiert. Die Beschwerdeführer machen aber nicht solche Individualrechte gegen den Staat geltend, sondern sie streiten mit dem Bremischen Landesparlament um die Fortdauer ihrer organschaftlichen Stellung. Zur Austragung solcher Streitigkeiten ist die Verfassungsbeschwerde nicht gegeben. Wie das Plenum bereits in dem Beschluß vom 20. Juli 1954 (BVerfGE 4, 27 [30]) festgestellt hat, ist die Verfassungsbeschwerde der spezifische Rechtsbehelf des Bürgers gegen den Staat. Sie ist "jedermann" gegeben, wenn die öffentliche Gewalt, d. h. der Staat in seiner Einheit, repräsentiert durch irgendein Organ, die Sphäre des Antragstellers verletzt hat, die durch die Grundrechte und die in § 90 BVerfGG genannten grundrechtsähnlichen Rechte gegenüber dem Staat gesichert ist. Aus diesem Grunde kann die Anführung der Art. 38 und 33 in § 90 BVerfGG diese Artikel nicht in ihrem ganzen Umfang meinen, sondern nur soweit sie in ähnlicher Weise wie die übrigen Artikel des Grundgesetzes, in die sie hier eingereiht sind, Individualrechte garantieren.
Nach der Entscheidung des Gerichts vom 16. März 1955 (BVerfGE 4, 144 [149]) kann der Abgeordnete die mit seinem verfassungsrechtlichen Status verbundenen Rechte im Organstreit geltend machen. Die Frage, ob ein Abgeordneter infolge des Verbots seiner Partei sein Mandat verloren hat, betrifft seinen verfassungsrechtlichen Status. Sie kann daher nicht Gegenstand einer Verfassungsbeschwerde sein. Die Beschwerdeführer machen auch in Wahrheit gar nicht die Verletzung eines "Grundrechts" durch die Entscheidung des Staatsgerichtshofs geltend, sondern sie behaupten, daß der Staatsgerichtshof ihren Streit mit dem Bremischen Parlament falsch entschieden habe, weil er die organschaftliche Stellung des Abgeordneten nach bremischem Verfassungsrecht und den in das Landesverfassungsrecht hineinreichenden Bestimmungen des Grundgesetzes verkannt habe. Das Bundesverfassungsgericht ist aber nicht eine zweite Instanz über den Landesverfassungsgerichten, die befugt wäre, deren Urteile in vollem Umfang nachzuprüfen. Zur Entscheidung einer "öffentlich-rechtlichen Streitigkeit innerhalb eines Landes" im Sinne des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 GG - und dazu gehört auch der Streit um die Fortdauer des Abgeordnetenmandats - ist das Bundesverfassungsgericht nur berufen, wenn das Landesrecht keinen Rechtsweg eröffnet. Im vorliegenden Fall hat die Bremische Bürgerschaft den Landesstaatsgerichtshof gemäß Art. 140 der Verfassung angerufen, um die Streitfrage zu klären, ob die Beschwerdeführer nach bremischem Verfassungsrecht auf Grund des KPD-Urteils des Bundesverfassungsgerichts ihr Mandat verloren haben. Zu diesem Verfahren sind die Beschwerdeführer als Beteiligte zugezogen worden, und es ist ihnen rechtliches Gehör gewährt worden. Damit ist der im Lande Bremen zwischen den Beschwerdeführern und der Bürgerschaft entstandene Landesverfassungsstreit endgültig entschieden. Das Bundesverfassungsgericht könnte zulässigerweise mit der Verfassungsbeschwerde nur angerufen werden, wenn geltend gemacht werden könnte, daß das Urteil des Staatsgerichtshofs eines der in § 90 BVerfGG genannten "Grundrechte" verletzt. Da dies nicht der Fall ist, mußten die Verfassungsbeschwerden als unzulässig verworfen werden.