BGH, 10.11.1954 - 5 StR 476/54
Eine wegen erheblich verminderter Zurechnungsfähigkeit des Täters mögliche Unterschreitung des Regelstrafrahmens darf nur unterbleiben, wenn die innerhalb dieses Rahmens bestimmte Strafe noch schuldangemessen ist. Dabei kann ein Abschreckungsbedürfnis strafschärfend als Nebenstrafzweck mitberücksichtigt werden.
Aus den Gründen
Das Schwurgericht hat den Angeklagten wegen versuchten Mordes und wegen Mordes an seiner zur Zeit der Taten ungefähr 19 Monate alten ehelichen Tochter Jutta zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt.
Die Revision des Angeklagten rügt Verletzung des sachlichen Rechts. Sie ist unbegründet.
Das Schwurgericht hat die äußeren und inneren Voraussetzungen des versuchten Mordes und des Mordes in rechtlich einwandfreier Weise festgestellt. (Wird ausgeführt.)
Der Strafausspruch gibt ebenfalls zu keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken Anlaß.
Das Schwurgericht hat trotz Annahme erheblich verminderter Zurechnungsfähigkeit (erheblich vermindertes Hemmungsvermögen infolge Schwachsinns) von der im § 51 Abs. 2 StGB vorgesehenen Strafmilderungsmöglichkeit keinen Gebrauch gemacht. Zu Unrecht meint die Revision, daß es sich dabei von rechtsirrigen Erwägungen habe leiten lassen.
§ 51 Abs 2 StGB schreibt Strafmilderung wegen erheblich verminderter Zurechnungsfähigkeit nicht zwingend vor. Er überläßt es dem pflichtgemäßen Ermessen des Tatrichters, ob er die Strafe mildern will oder nicht. Dies hindert das Revisionsgericht allerdings nicht, die vom Tatrichter getroffene Entscheidung daraufhin zu prüfen, ob sie auf rechtsirrigen Erwägungen beruht.
Das Reichsgericht hat zwar die Auffassung vertreten, daß das Ermessen des Tatrichters bei jener Entscheidung uneingeschränkt sei (vgl RGSt 71, 179; 74, 217; RG DR 1942, 329). Der Senat kann dieser Auffassung jedoch nicht zustimmen. Sie wird dem Sinn der Vorschrift nicht gerecht.
Die Bestimmung des § 51 Abs. 2, daß bei erheblich verminderter Zurechnungsfähigkeit des Täters die Strafe nach den Vorschriften über die Bestrafung des Versuchs (§ 44 Abs. 1 und 2 StGB) gemildert werden kann, bedeutet, daß der Tatrichter eine Strafe verhängen kann, die der Höhe und unter Umständen auch der Art nach unter der unteren Grenze des Strafrahmens oder unter der unbedingt bestimmten Strafe liegt, die das Gesetz für den Regelfall, d.h. für die Tat eines zurechnungsfähigen Täters vorsieht. Dabei ist der Tatrichter allerdings insoweit gebunden, als er die in § 44 Abs. 2 und 3 StGB bestimmte untere Strafgrenze nicht unterschreiten darf. § 51 Abs. 2 StGB gibt dem Tatrichter also in den Fällen, in denen das Gesetz für den Regelfall einen Strafrahmen bestimmt, einen nach unten erweiterten Strafrahmen. Für die Fälle, in denen das Gesetz für den Regelfall allein lebenslanges Zuchthaus androht, eröffnet § 51 Abs. 2 dem Tatrichter einen "Strafrahmen", dessen untere Grenze durch § 44 Abs. 2 StGB auf Zuchthaus von drei Jahren und dessen obere Grenze durch die für den Regelfall vorgesehene Strafe lebenslangen Zuchthauses bestimmt ist, wobei allerdings eine zeitige Zuchthausstrafe 15 Jahre nicht übersteigen darf (§ 14 Abs. 2 StGB). Mildert der Tatrichter die Strafe nach § 51 Abs. 2 StGB nicht, so heißt das nicht etwa, daß er es ablehnt, eine gedachte Strafe zu mildern, die er für dieselbe Tat desselben Täters verhängen würde, falls dieser zurechnungsfähig gewesen wäre. Es bedeutet nur, daß er es als unangemessen erachtet, eine Strafe zu verhängen, die unter der unteren Grenze des Regelstrafrahmens oder unter der unbedingt bestimmten Strafe liegt, die das Gesetz für den Regelfall vorsieht. Von welchen Erwägungen er sich dabei leiten lassen darf, liegt nicht in seinem uneingeschränkten Ermessen, muß vielmehr dem Grundgedanken des § 51 Abs. 2 StGB entnommen werden.
Die Vorschrift des § 51 Abs. 2 StGB beruht auf dem Gedanken, daß die Strafe schuldangemessen sein soll, daß aber erheblich verminderte Zurechnungsfähigkeit grundsätzlich den Schuldgehalt und damit die Strafwürdigkeit der Tat vermindert (vgl. hierzu BGH NJW 1953, 1760 und RGSt 69, 314 [317]), so daß die Mindeststrafe oder absolut bestimmte Strafe, die das Gesetz für den Regelfall vorsieht, bei erheblich verminderter Zurechnungsfähigkeit des Täters möglicherweise das schuldangemessene Strafmaß übersteigt. Hieraus folgt, daß die Frage nach einer Strafmilderung wegen erheblich verminderter Zurechnungsfähigkeit nach dem Schuldgehalt der Tat zu entscheiden ist. Dieser bestimmt sich allerdings nicht allein nach dem Grad der Zurechnungsfähigkeit des Täters, sondern nach den gesamten Umständen, die die Tat der Schuldseite nach als mehr oder minder leicht oder schwer erscheinen lassen. Es kann durchaus sein, daß die Tat trotz erheblich verminderter Zurechnungsfähigkeit des Täters ihrem Schuldgehalt nach immer noch schwerer wiegt, als der denkbar leichteste Regelfall, der dem Gesetzgeber bei der Bestimmung der unteren Strafgrenze oder der unbedingt bestimmten Strafe vorgeschwebt hat, die das Gesetz für den Regelfall, d.h, für die Tat eines zurechnungsfähigen Täters, androht. Ist der Schuldgehalt der Tat eines vermindert Zurechnungsfähigen in dieser Weise zu werten, so kann er von der durch § 51 Abs. 2 StGB gegebenen Möglichkeit einer Strafmilderung absehen. Dabei ist unter Umständen auch die Strafempfindlichkeit des Täters zu beachten. Die schuldangemessene Strafe kann je nach dem Grade seiner Strafempfindlichkeit durchaus verschieden sein. Der Tatrichter darf aber eine Strafmilderung nicht aus schuldfremden Erwägungen unterlassen, die ersichtlich machen, daß die verhängte Strafe über das von ihm selbst als schuldangemessen erachtete Strafmaß hinausgeht.
Der Strafausspruch des angefochtenen Urteils kann hiernach aus Rechtsgründen nicht beanstandet werden. Die Urteilsgründe ergeben klar, daß das Schwurgericht für den vom Angeklagten verübten Mord trotz der erheblich verminderten Zurechnungsfähigkeit des Angeklagten mit Rücksicht auf andere schulderhöhende Umstände lebenslanges Zuchthaus als schuldangemessene Strafe erachtet hat. Das Schwurgericht hat ausweislich der Urteilsgründe diese schulderhöhenden Umstände darin gefunden, daß der Angeklagte sein eigenes Kind ermordet hat, daß er seine Mordabsichten mit unmenschlicher Beharrlichkeit verfolgte, daß er das Kind tötete, als es schlief, daß er mit ansehen konnte, wie sich das Kind unter dem Stromstoß aufbäumte und tot in sich zusammensank, und daß er es danach fertigbrachte, umsichtig die Spuren der Tat zu beseitigen und äußerlich unberührt mit seiner Frau, der Mutter des ermordeten Kindes, an einer Familienfeier teilzunehmen. Einen Rechtsirrtum läßt dies nicht erkennen.
Es kann auch nicht aus Rechtsgründen beanstandet werden, daß im Urteil zusätzlich gesagt ist, das Gericht habe sich bei seiner Entscheidung auch von dem Gedanken der allgemeinen Abschreckung leiten lassen. Welche Strafe schuldangemessen ist, kann nicht genau bestimmt werden. Es besteht hier ein Spielraum, der nach unten durch die schon schuldangemessene Strafe und nach oben durch die noch schuldangemessene Strafe begrenzt, wird. Der Tatrichter darf die obere Grenze nicht überschreiten. Er darf also nicht eine Strafe verhängen, die nach Höhe oder Art so schwer ist, daß sie von ihm selbst nicht mehr als schuldangemessen empfunden wird. Er darf aber nach seinem Ermessen darüber entscheiden, wie hoch er innerhalb dieses Spielraumes greifen soll. Wo das Gesetz, wie hier, für den Regelfall allein lebenslanges Zuchthaus androht , können bei erheblich verminderter Zurechnungsfähigkeit des Täters diese Strafe und eine zeitige Zuchthausstrafe zugleich innerhalb des Spielraumes liegen. Es kann durchaus sein, daß für denselben Mord eines erheblich vermindert zurechnungsfähigen Täters, zwar schon eine Zuchthausstrafe von 15 Jahren schuldangemessen erscheint, daß aber auch lebenslanges Zuchthaus noch als schuldangemessen angesehen werden kann. Wenn der Tatrichter in einem solchen Falle von den verschiedenen schuldangemessenen Strafen, zwischen denen er wählen kann, aus dem Gedanken allgemeiner Abschreckung die schwerste Strafe wählt, so bedeutet das keinen Rechtsirrtum. So liegt es aber hier.
Die zusätzlichen Ausführungen des Urteils über die Notwendigkeit einer allgemeinen Abschreckung besagen nicht, daß das Schwurgericht lebenslanges Zuchthaus nicht als schuldangemessene Strafe erachtet, sondern sie schließlich nur deshalb verhängt hätte, weil der Gedanke der allgemeinen Abschreckung dies erfordere. Das Urteil ergibt vielmehr klar, daß das Schwurgericht lebenslanges Zuchthaus als eine Strafe erachtet hat, die dem Schuldgehalte der Tat entspricht. Die zusätzlichen Ausführungen können daher allein dahin verstanden werden daß der Gedanke der allgemeinen Abschreckung das Schwurgericht davon abgehalten hat, eine geringere Strafe zu verhängen, die schon schuldangemessen gewesen wäre Das ist frei von Rechtsirrtum.