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BGH, 08.04.1957 - GSSt 3/56

Daten
Fall: 
Berücksichtigung außertatbestandsmäßiger Schadensfolgen
Fundstellen: 
BGHSt 10, 259; JZ 1958, 173; MDR 1957, 691; NJW 1957, 1117
Gericht: 
Bundesgerichtshof
Datum: 
08.04.1957
Aktenzeichen: 
GSSt 3/56
Entscheidungstyp: 
Beschluss
Richter: 
Geier, Sarstedt, Busch, Krumme, Werner, Sauer, Jagusch, Lang-Hinrichsen

Hat der Täter schuldhaft eine Gefahrenlage herbeigeführt, aus der unbestimmte außertatbestandsmäßige Schadenfolgen entspringen können, so dürfen ihm sowohl diese Gefahrenlage wie die tatsächlich aus ihr erwachsenen Schadensfolgen strafschärfend zugerechnet werden, diese auch dann, wenn sie in ihrer besonderen Gestaltung für ihn nicht voraussehbar waren.

Inhaltsverzeichnis 

Aus den Gründen

Der 4. Strafsenat hat dem Großen Senat für Strafsachen folgende Rechtsfrage gemäß §§ 136, 137 GVG zur Entscheidung vorgelegt:

"Können bei der Strafzumessung auch unverschuldete Folgen der Tat strafschärfend berücksichtigt werden?"

In dem der Entscheidung des 4. Strafsenates unterbreiteten Fall hat die Strafkammer folgenden Sachverhalt festgestellt:

Der Angeklagte A. hatte im Juni 1954 in Begleitung des in dieser Sache freigesprochenen, weit jüngeren Mitangeklagten B. mit einem Lastzug eine Lohnfuhre ausgeführt. Abends auf der Heimfahrt ließ er die 15 Jahre alte Ch. P., die ihnen zuwinkte und darum bat, mitfahren zu dürfen, ins Führerhaus einsteigen, wo sie zwischen den beiden Männern Platz nahm. Unterwegs erzählte sie, daß sie von Hause weggelaufen sei, und ließ sich einige Male von B. küssen. Während eines Aufenthaltes in der Nacht an einer einsamen Stelle im Walde versuchte A., sich dem Mädchen unsittlich zu nähern. Als dies mißlang, herrschte er es an: "Entweder Sie steigen aus, oder wir bringen Sie zur Polizei!" Das Mädchen stieg aus und sagte dabei, sie könnten sie doch nicht so laufen lassen, sie möchten sie doch weiter mitnehmen. Darauf rief A. ihr zu, vorn am Wege liege eine Gastwirtschaft, und fuhr langsam an. Nachdem er einige hundert Meter weitergefahren war, hielt er wieder an, um sich nach dem Mädchen umzusehen. Beim Bremsen drückte der Anhänger ruckartig auf den Motorwagen. Der Lastzug stand sofort. Gleichzeitig ertönte von hinten ein Schrei. Die Angeklagten fanden Ch. schwerverletzt zwischen den Rädern des Anhängers liegen. Sie fuhren mit ihr zum nächsten Arzt, der sie sofort in ein Krankenhaus bringen ließ, wo sie nach wenigen Stunden starb. Der Unfall war dadurch herbeigeführt worden, daß sich das Mädchen auf die Verbindungsstange zwischen Lastwagen und Anhänger gesetzt hatte und infolge des ruckartigen Haltens des Lastzuges heruntergefallen war.

Das Landgericht hat A. wegen Nötigung verurteilt. Bei der Strafzumessung hat es "die schwere Folge des Todes, die als unmittelbare Folge der Zwangslage eintrat, in die das Mädchen durch die Nötigung geraten war", strafschärfend berücksichtigt. In anderem Zusammenhang hat die Strafkammer auf die selbst für Erwachsene bedrohliche und furchterregende Lage des Mädchens und die ernsten Gefahren hingewiesen, die sich gerade für junge Mädchen nachts auf einsamen Straßen durch umherschweifendes Gesindel ergeben können. Das erst fünfzehnjährige, erschreckte und hilflose Mädchen konnte, wie der Sachverhalt klar ergibt, auch zahlreiche sonstige nahe Gefahren laufen. Es konnte vom Wege abkommen, sich verirren und Schaden an seiner Gesundheit nehmen. Es konnte den gefährlichen Versuch machen, in der Dunkelheit andere Kraftfahrzeuge auf der Straße anzuhalten oder trotz der Ausweisung heimlich im Lastzug des Angeklagten weiter mitzufahren. Der Angeklagte handelte nach den Urteilsfeststellungen auch "subjektiv rücksichtslos", als er dem jungen Mädchen, fast einem Kinde, das ihm seine Angst, allein weiterzugehen, zu erkennen gegeben hatte, an einer entlegenen Stelle mitten in der Nacht zumutete, seinen Weg allein fortzusetzen. Denn es war ungewiß, ob Ch. überhaupt die nötigen Mittel besaß, um eine Übernachtung im nächsten Gasthaus bezahlen zu können, und ob ihr zu so später Stunde dort noch geöffnet würde. Dies war dem Angeklagten durchaus klar. "Nur und gerade sein schlechtes Gewissen bewog ihn dazu, kurze Zeit darauf wieder anzuhalten, um nach dem Verbleib des Mädchens zu forschen".

Diesen Ausführungen ist mit Sicherheit zu entnehmen, daß sich der Angeklagte der allgemeinen, nahen und bedrohlichen Gefahrenlage bewußt war, in die er das Mädchen versetzte, als er es durch die Drohung mit der Polizei bewog, seinen Lastwagen zu verlassen, wenn er nach der Annahme der Strafkammer auch nicht voraussehen konnte, daß und wie es nun hierdurch gerade den Tod finden würde und gefunden hat.

Bei dieser Sachlage muß davon ausgegangen werden, daß der Angeklagte die allgemeine Gefahr des Eintritts weiterer unbestimmter außerhalb des Tatbestandes der Nötigung liegender Schadensfolgen mindestens fahrlässig herbeigeführt hat. Die Vorlegungsfrage geht deshalb offenbar dahin, ob dem Täter, wenn er durch die Straftat eine allgemeine außertatbestandsmäßige Gefahrenlage schuldhaft herbeigeführt hat, diese Gefährdung und die aus ihr tatsächlich erwachsenen, jedoch in ihrer bestimmten Gestaltung für ihn nicht voraussehbaren Schadensfolgen strafschärfend zugerechnet werden können.

Diese Frage ist von grundsätzlicher Bedeutung, die Vorlegung mithin jedenfalls nach § 137 GVG zulässig. Die Rechtsfrage muß aus folgenden Gründen bejaht werden:

1.

Der Große Senat für Strafsachen hat schon in seinem Beschluß vom 18. März 1952 (BGHSt 2, 194, 200) ausgesprochen, daß jede kriminelle Strafe Schuld voraussetzt, daß man, um strafen zu dürfen, dem Täter die Tat muß vorwerfen, zur Schuld anrechnen können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, daß der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb gehalten und befähigt ist, sich für das Recht gegen das Unrecht zu entscheiden. Er kann sein Verhalten nach den Geboten der Rechtsordnung einrichten und das rechtlich Verbotene unterlassen, sobald er die sittliche Reife erlangt hat und solange seine Fähigkeit zur freien Selbstbestimmung nicht durch krankhafte Vorginge vorübergehend aufgehoben oder für immer zerstört worden ist. Deswegen darf man dem Täter die Straftat nur dann vorwerfen, wenn man ihm sagen kann: Du hast gewußt oder du hättest wissen können und müssen, daß du das nicht darfst, und du hättest dementsprechend handeln können und müssen.

2.

Die Verwirklichung des tatbestandlichen Unrechtes bedroht das Gesetz deshalb von vornherein nur dann mit Strafe, wenn der Täter den gesetzlichen Straftatbestand vorsätzlich oder - bei Fahrlässigkeitsstraftaten - fahrlässig erfüllt hat. Der Einbruch in den vom Strafrecht ge schützten Rechtsgüterbereich kann ihm vom Boden des Schuldstrafrechts nur dann zum Vorwurf gereichen, wenn er erkannte oder wenigstens erkennen konnte, daß sein Verhalten den mit Strafe bedrohten Tatbestand erfüllt. Dazu gehört bei den Erfolgsdelikten dem Wesen der Sache nach auch die Herbeiführung des im gesetzlichen Tatbestand bezeichneten Erfolges (Verletzung oder Gefährdung), zu dessen Verhütung die Strafdrohung in erster Linie geschaffen worden ist. Demgemäß ist nun auch bei den erfolgsqualifizierten Delikten die Anwendung des schwereren Strafrahmens nach § 56 StGB nur noch dann zulässig, wenn der Täter die vom Gesetzgeber in den Straftatbestand einbezogene schwere Folge vorsätzlich oder fahrlässig herbeigeführt hat. Diese Vorschrift dient der völligen Durchführung des Schuldgrundsatzes bei der Unterordnung des vom Täter verwirklichten Sachverhaltes unter das Strafgesetz. Durch sie hat der Gesetzgeber bewußt die letzten Reste der strafrechtlichen Erfolgshaftung aus dem Strafgesetzbuch entfernen wollen. Der § 56 StGB bezieht sich jedoch auf die Verwirklichung des strafbaren Tatbestandes. Aus ihm kann nicht entnommen werden, daß die Handlungs- und Schuldformen, die die Rechtsprechung für die Erfüllung der gesetzlichen Straftatbestände entwickelt hat, nun unter allen Umständen völlig unverändert auch bei der Prüfung der Frage zugrunde gelegt werden müssen, welche Umstände, insbesondere welche außertatbestandsmäßigen Tatfolgen, dem Täter bei der Strafzumessung vorgeworfen und zugerechnet werden dürfen.

3.

Grundsätzlich muß der Schuldgedanke allerdings auch die Strafzumessung beherrschen. Genauso (und aus denselben Gründen) wie man den Täter nur wegen einer Tat schuldig sprechen kann, "für die er etwas kann" (vgl. Ziffer 1 oben), darf man ihm bei der Strafzumessung nur Tatfolgen zurechnen, "für die er etwas kann". Hiervon ist auch die bisherige Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ausgegangen (BGHSt 7, 28, 30). Aus diesem Grundsatz folgt ohne weiteres, daß dem Täter die durch sein rechtswidriges Verhalten schuldhaft heraufbeschworene Gefahr weiterer, nicht in den gesetzlichen Straftatbestand einbezogener, unbestimmter schädigender Folgen bei der Strafzumessung zugerechnet werden kann, mögen diese Folgen nun den Verletzten oder andere treffen. Die Schaffung einer solchen allgemeinen Gefahrenlage gereicht ihm also zum Vorwurf, wenn er die mit der Verwirklichung des tatbestandsmäßigen Erfolges verknüpfte weitergehende allgemeine Gefährdung des Rechtsgüterkreises erkannt hat oder nach seinen persönlichen Kenntnissen und Fähigkeiten bei Anspannung seines Gewissens und seiner Erkenntniskräfte bitte erkennen müssen. Das Strafgesetz dient nicht nur der Verhütung eines bestimmten vom Recht mißbilligten Erfolges, sondern es soll die Allgemeinheit ebenso vor unbestimmten Gefahren schützen, die mit seiner Verletzung in der Regel verbunden sind. Diese allgemeine Gefährlichkeit war für die Bemessung der gesetzlichen Strafrahmen mitbestimmend. Sie kann mithin auch bei der Strafzumessung innerhalb dieses Rahmens mit in die Waagschale fallen. Dies wird im Schrifttum anerkannt und ist vom Bundesgerichtshof ebenfalls schon ausgesprochen worden (4 StR 4/57 vom 28. Februar 1957, MDR 1957, 369 Nr. 41).

4.

Schwieriger ist dagegen die im Vorlagefall praktisch gewordene Frage zu entscheiden, ob es mit dem auf die Strafzumessung bezogenen Schuldgrundsatz noch vereinbar ist, dem Täter auch diejenigen außertatbestandsmäßigen Schadensfolgen strafverschärfend zuzurechnen, die aus der von ihm schuldhaft herbeigeführten allgemeinen Gefahrenlage tatsächlich erwachsen sind, die aber als solche in ihrer konkreten Erscheinungsweise, also in der Art und Richtung der von ihm herbeigeführten Verletzung der Betroffenen für ihn nicht vorhersehbar waren. Doch dürfen auch solche Schadensfolgen zugerechnet werden, und zwar einfach aus der Erwägung heraus, daß der Täter schuldhaft die Möglichkeit eröffnet hat, daß sie entstehen konnten. Wer schuldhaft eine gefahrenschwangere Lage geschaffen hat, wer-schuldhaft gewissermaßen das Tor geöffnet hat, durch das mannigfaches unbestimmtes Unheil eindringen konnte, den darf man, wenn das Unheil eingedrungen ist, im Bereich der Strafzumessung ohne Verletzung des Schuldgrundsatzes dafür verantwortlich machen. Hier zeigt es sich, daß Vorwerfbarkeit im Bereich der Strafzumessung nicht immer notwendig genau dasselbe bedeuten muß wie, im Bereich der Verwirklichung des gesetzlichen Straftatbestandes, in dem naturgemäß teilweise strengere Anforderungen gestellt werden müssen. Bei der Strafzumessung müssen das Gesamtverhalten und die verbrecherische Energie des Täters mitberücksichtigt werden. Das Maß der durch seinen Rechtsbruch bewiesenen Rücksichtslosigkeit und Unbedachtsamkeit gegenüber der sozialen Umwelt, vor allem gegenüber dem Opfer und möglicherweise einem weiterreichenden Kreise von mitbetroffenen Personen tritt oft auch in der Gestaltung der Tatfolgen in Erscheinung. Eben die für ihn erkennbare Möglichkeit, daß solche über den tatbestandsmäßigen Erfolg hinausgehenden, nicht im einzelnen voraussehbaren und deshalb um so schwerer vermeidbaren Schadensfolgen eintreten können, hätte ihn in besonderem Maße von seiner Straftat zurückhalten müssen. Würden diese Folgen bei der Strafzumessung unberücksichtigt bleiben, so würde der mit der Aufstellung des Schuldgrundsatzes verfolgte Zweck, den Rechtsbrecher der durch seine Schuld tatsächlich verdienten Strafe zuzuführen, nicht voll erreicht.

Die Vorlegungsfrage muß nach alledem so beschieden werden, wie es im einzelnen in dem Leitsatz niedergelegt ist.

Der Oberbundesanwalt hat in erster Linie die Ansicht vertreten, bei der Strafzumessung dürfe zwar die vom Täter schuldhaft geschaffene allgemeine Gefahrenlage berücksichtigt werden, zur Zeit der Tatausführung noch unbestimmte, für ihn mit voraussehbare Schadensfolgen müßten aber außer acht bleiben. Nur hilfsweise hat er sich für die Lösung des Senats ausgesprochen.