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BGH, 04.03.1964 - 4 StR 529/63

Daten
Fall: 
Überholspur
Fundstellen: 
BGHSt 19, 263; DAR 1964, 167; DB 1964, 879; JZ 1964, 521; MDR 1964, 519; NJW 1964, 1426
Gericht: 
Bundesgerichtshof
Datum: 
04.03.1964
Aktenzeichen: 
4 StR 529/63
Entscheidungstyp: 
Beschluss
Instanzen: 
  • AG Köln
  • LG Köln
  • OLG Köln

Wer auf der Überholspur der Autobahn an seinen mit 105 km/st überholenden Vorgänger, den letzten einer Wagenkette, unter ständigem Hupen und Blinken bis auf 2 Meter heranfährt, um ihn von der Überholspur zu verdrängen, und diese gefährlich bedrängende Fahrweise über mehrere Kilometer hin fortsetzt, so daß sich der Vorgänger schließlich gefährdet fühlt, fahrunsicher wird und deshalb nach rechts fährt, begeht Nötigung (§ 240 StGB).

Inhaltsverzeichnis 

Gründe

Der Angeklagte fuhr mit seinem Mercedes-Kraftwagen auf der Überholspur der Autobahn an mehrere Fahrzeuge heran, die auf der Normalspur mit 90 bis 95 km/st in Abständen von je etwa 100 m fuhren. Etwa 300 m vor ihm bog Dr. H. mit seinem Volkswagen Karmann-Ghia auf die Überholspur aus, um diese Fahrzeuge zu überholen. Dieser fuhr mit etwa 105 km/st und konnte nicht schneller fahren, weil vor ihm andere Fahrzeuge mit derselben Geschwindigkeit ebenfalls überholten. Auf der Überholbahn befand sich also ebenfalls eine Fahrzeugkette. Der Angeklagte näherte sich trotz der hohen Geschwindigkeit dem Karmann-Ghia "bis auf 1 1/2 bis 2 m". Er gab dabei andauernd Schall- und Lichtzeichen und fuhr, nach links versetzt, bis dicht an den Mittel-Grünstreifen heran. In dieser Form bedrängte er Dr. H. auf eine Strecke von 2 bis 3 km. Diesen machte diese gefährliche, verkehrswidrige (§ 1 StVO) Fahrweise nervös und unsicher; deshalb gab er seine Überholabsicht auf und fuhr in voller Fahrt nach rechts in eine 100-m-Lücke zwischen zwei Fahrzeugen; dabei mußte er bremsen. Auch verringerte sich dadurch dort der Sicherheitsabstand.

Das Landgericht hat den Angeklagten wegen Nötigung verurteilt. Das Oberlandesgericht in Köln möchte seiner Revision stattgeben und ihn nur wegen tateinheitlicher Übertretung der §§ 1, 12 Abs. 1 StVO in Verbindung mit § 21 StVG schuldig sprechen. Nach seiner Ansicht ist die Fahrweise des Angeklagten unter den geschilderten Umständen nicht verwerflich im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB. Weil es damit in Widerspruch zum Urteil des Oberlandesgerichts in Frankfurt vom 20. März 1963 (BB 1963, 999) treten würde, hat es die Sache gemäß § 121 Abs. 2 GVG dem Bundesgerichtshof vorgelegt.

I.

Beide Oberlandesgerichte beurteilen die festgestellte Fahrweise des Angeklagten übereinstimmend als Gewalt gegen den Vorausfahrenden im Sinne des § 240 StGB (dazu auch OLG Köln NJW 1963, 2383). Insoweit weichen sie nicht voneinander ab, so daß der Bundesgerichtshof über diese nicht vorgelegte Frage nicht zu entscheiden hat. Ob eine Handlung verwerflich im Sinne des § 240 StGB ist, kann jedoch nur dann zutreffend beurteilt werden, wenn ihre Tatbestandsmäßigkeit im übrigen feststeht. Das trifft hier zu. Auf Grund der Urteilsfeststellungen ist gegen die Auslegung des Begriffs "Gewalt" durch die beiden Oberlandesgerichte rechtlich nichts einzuwenden.

Seit dem Urteil BGHSt 1, 145 steht es in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs fest, daß Gewalt gegen einen anderen auch ohne eigene erhebliche Körperkraft ausgeübt werden kann. Wesentlich ist dafür vielmehr die Zwangswirkung auf den Genötigten. Zu dessen Körper gehört auch das Nervensystem, auf dessen Funktionieren die Willensausübung mit beruht. Zwischen den körperlichen und geistig-seelischen Funktionen besteht eine Wechselwirkung; bei den Reaktionen, auf denen auch das sichere Verhalten im Straßenverkehr beruht, lassen sich Eindrücke körperlicher und seelischer Art nicht voneinander trennen.

In der Entscheidung BGH NJW 1963, 1629 ist bereits anerkannt, daß, wer als Vorausfahrender durch seine Fahrweise vorsätzlich das Überholtwerden verhindert, Gewalt gegen den Nachfolgenden anwendet, indem er es ihm unmöglich macht, sich körperlich so zu verhalten, wie er es will. Dabei beruht die Gewalt nicht darauf, daß diese vorsätzliche Behinderung den Nachfolgenden belästigt, seine Geduld und sein Rechtsgefühl anspannt und auch Gefahren für ihn und andere mit sich bringen kann. Diese Umstände sind nur dafür von Bedeutung, ob die behindernde Fahrweise als Gewaltanwendung gegen den Nachfolgenden verwerflich ist. Entscheidend ist vielmehr die körperliche Behinderung, die der Nachfolgende hinnehmen muß.

Der hier zu beurteilende Fall liegt umgekehrt, aber wesentlich schwerer. Beim Fahren auf der Autobahn kann es, wie anderwärts, aus verschiedensten Ursachen erforderlich werden, plötzlich zu bremsen. Es liegt auf der Hand, daß beim Überholen einer Fahrzeugkette, die mit 95 km/st fährt, durch eine andere Kette mit der Geschwindigkeit von etwa 105 km/st geringste äußere Zufälle bei einem der vorausfahrenden Fahrzeuge zu unvorhersehbaren Kettenbremsungen führen können, die fast notwendigerweise schwere Unglücke verursachen, sofern die beteiligten Fahrzeuge keine ausreichenden Sicherheitsabstände einhalten. Deswegen liegt es nahe, daß unter derartigen Umständen ein durchschnittlicher Kraftfahrer in Sorge und Furcht geraten und nervös und fahrunsicher werden kann, wenn er sieht, daß ihm ein Fahrzeug bei 105 km/st Geschwindigkeit mit einem Abstand von höchstens 2 m dauernd folgt. Das kann zu ungewollten Reaktionen und zu einem möglicherweise gefährlichen und gefährdenden Ausweichen nach rechts unter erheblichem Abbremsen zwingen, wenn nicht sogar, wie die Erfahrung lehrt, zu einem noch gefährlicheren und für alle Beteiligten folgenschweren Verhalten. In einem solchen Falle übt der dergestalt Auffahrende daher körperlichen Zwang aus und wendet damit Gewalt an. So verhält es sich den Feststellungen zufolge hier. Dr. H. ist, nur deswegen, unter Bremsen und Verkürzung des dortigen Sicherheitsabstandes nach rechts ausgewichen, weil ihm die bedrängende Fahrweise "zu gefährlich erschien und ihn nervös und unsicher machte".

Jeder Kraftfahrer weiß, daß am Autobahnverkehr Menschen verschiedensten Zuschnitts, unterschiedlichster Übung und verschieden hoher geistig-seelischer Widerstandskraft teilnehmen. Sie sind alle ohne Unterschied der Fahrzeuggattung im Verkehr gleichberechtigt und haben sich, beim Rechts- wie beim vorübergehenden Linksfahren, verkehrsgerecht zu verhhalten. Jeder verständige Kraftfahrer weiß, daß so überaus dichtes Auffahren unter den hier weiter festgestellten Umständen den Vorausfahrenden erheblich aus dem inneren Gleichgewicht bringen kann. Fährt er trotzdem in so bedrängender Weise auf, so nimmt er die Zwangswirkung solchen Verhaltens in aller Regel billigend in Kauf. Ein Zweifel an dem zumindest bedingten Vorsatz des Angeklagten, der als "Rallyefahrer" besondere Erfahrungen besitzt, ist daher nicht berechtigt.

Unter ganz besonderen, abweichenden, weniger gefährlichen Umständen mögen Verkehrsverhältnisse vorkommen, wo solch bedrängendes Auffahren ausnahmsweise keine Gewaltmaßnahme darstellen mag. Dazu sind hier jedoch bei der festgestellten eindeutigen Sachlage keine Ausführungen erforderlich. Auch kann es dahinstehen, ob und unter welchen Umständen sich solches Dichtauffahren etwa als bedingte (BGHSt 16, 386) Drohung mit einem empfindlichen übel darstellen könnte.

II.

Das vorlegende Oberlandesgericht in Köln meint, rechtswidrig sei die Gewaltanwendung dennoch nicht gewesen, weil sie im Verhältnis zu dem erstrebten Zweck nicht verwerflich (§ 240 Abs. 2 StGB) gewesen sei. Diese Ansicht kann der Senat in Übereinstimmung mit dem Generalbundesanwalt nicht teilen.

1.

Das Oberlandesgericht meint, die Rechtsprechung müsse die "bloße Übertretung des § 1 StVO von dem Vergehenstatbestand des § 240 StGB eindeutig abgrenzen". Soweit nicht die Bestimmungen über Straßenverkehrsgefährdung, fahrlässige Tötung oder Körperverletzung anzuwenden seien, müsse "eine Verdrängung verkehrsrechtlicher Zuwiderhandlungen aus der Verkehrsebene ... in die kriminelle Ebene" vermieden werden. Bei der gesetzlichen Abgrenzung der Straßenverkehrsgefährdung von den Verkehrsübertretungen seien nur einzelne tatbestandlich eng umschriebene Handlungsweisen zu Vergehen geworden. Ein Bedürfnis, den Tatbestand der Nötigung bei Verkehrsdelikten ergänzend heranzuziehen, bestehe nur in engem, hier nicht zutreffendem Rahmen.

Diese Erwägungen sind rechtlich nicht zu billigen. Es trifft nicht zu, daß die Vorschrift des § 315a StGB vom Gesetzgeber so erschöpfend gemeint ist, daß die Anwendung des § 240 StGB auf im Straßenverkehr begangene Taten ausgeschlossen wäre. § 315a StGB ist ein Gefährdungsdelikt; anwendbar ist die Vorschrift nur bei Herbeiführung einer Gemeingefahr, also eines gefahrdrohenden Zustandes, den der Gefährdete nicht einmal zu erkennen braucht. Die Nötigung dagegen ist eine Erfolgsstraftat. Ihr Tatbestand setzt vorsätzlichen Zwang auf den Genötigten voraus, der dadurch zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung veranlaßt werden soll. Schon dadurch unterscheiden sich die beiden Strafgesetze wesentlich voneinander. Das Tatbestandsmerkmal der Rücksichtslosigkeit im § 315a Abs. 1 Nr. 4 StGB, das das Oberlandesgericht insbesondere mit heranzieht, kennzeichnet die Verkehrsgesinnung des Täters (BGH NJW 1962, 2165, 2166). Der Begriff "verwerflich" im Tatbestand des § 240 StGB richtet sich dagegen nach objektivem Maßstab, nämlich danach, ob die Nötigungshandlung zu dem erstrebten Zweck sittlich zu mißbilligen ist (BGHSt 2, 194 [196]). Die Nötigung enthält also Unrechtsmerkmale, welche die Vorschrift des § 315a StGB nicht erfaßt. Sie ist eine Straftat, die in und außerhalb des Verkehrsrechts gleichmäßig gilt; einen besonderen Tatbestand der "Verkehrsnötigung" gibt es nicht. Deswegen muß, wer den Tatbestand der Nötigung erfüllt hat, nach § 240 StGB verurteilt werden ohne Rücksicht darauf, ob seine Handlung zugleich auch den Tatbestand irgendeiner Verkehrsstraftat erfüllt.

2.

Ob die Gewaltanwendung im vorliegenden Falle verwerflich war, hängt allein davon ab, ob sie gegenüber dem erstrebten Zweck sittlich zu mißbilligen ist, ob sie so verwerflich war, daß sie ein als Vergehen strafwürdiges Unrecht darstellt (BGHSt 2, 194 [196]; 18, 389 mit weiteren Hinweisen). Unter den festgestellten Umständen trifft dies zu.

Darauf, ob die Gefahr, die der Angeklagte durch das kilometerlange Dichtauffahren für den Vorausfahrenden und für andere Verkehrsteilnehmer geschaffen hat, "konkret" oder, wie das Oberlandesgericht meint, nicht "konkret" war, und was hier unter "konkreter" Gefahr überhaupt verstanden werden könnte, kommt es nicht an. Gefährlich ist ein Zustand, der jederzeit in ein schädigendes Ereignis umschlagen kann. Der Zusatz "konkret", sofern er nicht als Steigerung gemeint ist, ist in diesem Zusammenhang nichtssagend. Eine solche Gefahr hat der Angeklagte herbeigeführt. Wer auf der Überholspur der Autobahn an das letzte Fahrzeug einer vorausfahrenden Kette bei einer Geschwindigkeit von 105 km/st bis auf höchstens 2 m heran- und so hinter ihm herfährt, während diese linksfahrende Kette mehrere langsamere Fahrzeuge überholt, führt eine sehr naheliegende, hohe Gefahr für den Vorausfahrenden wie für andere Verkehrsteilnehmer herbei. Ein plötzliches Abbremsen vorausfahrender Fahrzeuge kann jederzeit aus den verschiedenartigsten Ursachen nötig werden. Selbst bei nur verhältnismäßig geringfügiger Abbremsung des Vorausfahrenden fehlt dem so dicht folgenden Fahrer bei dieser hohen Geschwindigkeit bereits jede Reaktionsmöglichkeit. Ein Zusammenstoß mit schwerwiegenden Folgen ist dann unausbleiblich. Auch die Gefahr, daß sich der rechtswidrig bedrängte Fahrer, nervös und unsicher geworden, dadurch zu unsachgemäßem, sich und andere gefährdendem, unfallträchtigem Fahren hinreißen läßt, ist erheblich. Wer angesichts solcher Gefahren, zu deren Abwendung er überhaupt nichts beitragen könnte, von so gefährlicher Fahrweise nicht Abstand nimmt, handelt in aller Regel in hohem Maße rücksichtslos. Er spielt um eines nichtigen Zeitgewinns willen in gefährlicher Weise mit Leben und Gesundheit seiner Mitmenschen und verdient den Vorwurf verwerflichen Handelns, vor allem, wenn er nicht nur einmal kurz dicht auffährt, sondern diese Fahrweise, wie hier, über mehrere Kilometer beibehält.