BGH, 19.09.1967 - 5 StR 456/67
Ein Kind, das die Bedeutung seines Zeugnisverweigerungsrechts wegen fehlender Verstandesreife nicht begreift, muß darüber belehrt werden, daß es trotz der Zustimmung seines gesetzlichen Vertreters zur Aussage nicht auszusagen braucht (im Anschluß an BGHSt 14, 159.
1. Tenor
Auf die Revision des Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts in Stade vom 5. Mai 1967 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen, die auch über die Kosten des Rechtsmittels zu entscheiden hat.
2. Gründe
Die Strafkammer hat den Angeklagten wegen Unzucht mit einer Abhängigen in Tateinheit mit Unzucht mit einem Kinde unter 14 Jahren verurteilt.
Die Revision des Angeklagten führt zur Aufhebung des Urteils. Sie beanstandet zu Recht, daß die zur Zeit ihrer Vernehmung vor der Strafkammer ungefähr 7 3/4 Jahre alte Zeugin Sylvia G. (Tochter des Angeklagten und Opfer der Tat) entgegen § 52 Abs. 2 StPO nicht über ihr Zeugnisverweigerungsrecht aus § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO belehrt worden ist.
Daß Sylvia - möglicherweise - zur Zeit ihrer Vernehmung wegen mangelnder Verstandesreife unfähig war, die Bedeutung des Weigerungsrechts zu erkennen, und daß - laut Sitzungsniederschrift - ihre Mutter und die ihr (vorsorglich) bestellte Pflegerin der Aussage zugestimmt haben, befreite den Tatrichter nicht von der Pflicht, Sylvia über ihr Weigerungsrecht zu belehren.
In der zu § 81c Abs. 2 StPO ergangenen Entscheidung des Großen Strafsenats des Bundesgerichtshofs in BGHSt 12, 235 wird zwar auf S. 240 und 242 ausgeführt: Fehle der Beweisperson das Verständnis für ein ihr zustehendes Weigerungsrecht wegen mangelnder Verstandesreife, so habe der gesetzliche Vertreter als der Vertreter im Willen die Entscheidung zu treffen; da ein unmündiges Kind über sein Weigerungsrecht nicht entscheiden könne, brauche es naturgemäß auch nicht belehrt zu werden; der gesetzliche Vertreter trete in vollem Umfange an die Stelle des Kindes. Diese Rechtsgrundsätze können aber auf die Fälle des § 52 StPO nicht ohne Einschränkung angewandt werden.
Nach § 81 c Abs. 2 Satz 3 in Verbindung mit Abs. 1 Satz 2 StPO können zwar die dort genannten Maßnahmen aus den gleichen Gründen wie das Zeugnis verweigert werden. § 52 StPO setzt aber stets einen Zeugen voraus, der aussagefähig ist. Die Maßnahmen nach § 81 c Abs. 2 StPO können dagegen auch an Personen vorgenommen werden, die völlig handlungs- und willensunfähig sind. Hinzu kommt: In der Entscheidung BGHSt 12, 235 wird es auf S. 239 als Zweck des § 52 StPO bezeichnet, den Zeugen vor der Zwangslage zu bewahren, entweder den Angeklagten - hier den Vater des Kindes - durch eine wahrheitsgemäße Aussage zu belasten oder die Unwahrheit zu sagen. § 81c Abs. 2 StPO bestimmt nur, daß die Beweispersonen die in der Vorschrift genannten Maßnahmen über sich ergehen lassen müssen, verlangt aber keine Aussage von ihnen, bei der sie sich in der oben geschilderten Zwangslage befinden könnten.
Der obengenannte Schutzzweck des § 52 StPO verbietet es, bei der Entscheidung über die Ausübung des Zeugnisverweigerungsrechtes bei Zeugen, die wegen mangelnder Verstandesreife die Bedeutung ihres Weigerungsrechts nicht erfassen können, den gesetzlichen Vertreter in vollem Umfange an ihre Stelle treten, also ihn mit der Wirkung entscheiden zu lassen, daß das Kind zur Aussage verpflichtet wäre, wenn der Vertreter auf dessen Weigerungsrecht verzichtet. Das Zeugnisverweigerungsrecht des § 52 StPO ist ein höchst persönliches Recht. Die Folgen eines Verzichts auf dieses Recht hat nicht der gesetzliche Vertreter, sondern das Kind zu tragen. Dieses gerät in die obengeschilderte Zwangslage und muß unter Umständen sein ganzes Leben lang das mehr oder minder bedrückende Gefühl mit sich herumtragen, durch eine wahrheitsgemäße belastende Aussage zur Verurteilung seines Vaters beigetragen zu haben. Ein gesetzlicher Vertreter, der in erster Linie das Interesse des Kindes wahrzunehmen hat, wird einen Verzicht auf das Weigerungsrecht, der solche Folgen hat oder jedenfalls haben kann, in aller Regel kaum verantworten können. Die Auffassung, daß der gesetzliche Vertreter in vollem Umfange an die Stelle des Kindes trete, würde bedeuten, daß er durch die Erklärung, auf das Weigerungsrecht des Kindes zu verzichten, für dieses einen Aussagezwang begründen würde, den das Gesetz gerade nicht will.
Dem Schutzgedanken des § 52 StPO entspricht es allein, in Fällen der in Rede stehenden Art den gesetzlichen Vertreter in der Weise einzuschalten, daß er lediglich darüber zu entscheiden hat, ob er einer Aussage des Kindes zustimmt oder nicht. Verweigert er die Zustimmung, so darf das Kind nicht vernommen werden. Stimmt er einer Aussage des Kindes zu, so bleibt es diesem immer noch überlassen, auszusagen oder nicht (so auch BGHSt 14, 159).
Hierüber muß das Kind auch belehrt werden. Daß es wegen mangelnder Verstandesreife die Bedeutung des Weigerungsrechts nicht zu erfassen vermag, macht diese Belehrung nicht überflüssig. Auch ein solches Kind kann - irrigerweise - glauben, die Zustimmung des gesetzlichen Vertreters zur Aussage verpflichte es zu der Aussage. Daß es trotz der Zustimmung des gesetzlichen Vertreters hierzu nicht verpflichtet ist, muß ihm gesagt werden. Wie notwendig das ist, zeigt gerade der vorliegende Fall. Der Vorsitzende der Strafkammer hat laut Sitzungsniederschrift die Mutter der Sylvia G. gefragt, ob das Kind aussagen solle. Sie hat daraufhin erklärt: "Das Kind soll aussagen." Diese Erklärung konnte in dem Kinde sehr wohl den falschen Eindruck erwecken, daß es nunmehr aussagen müsse.
Das Urteil kann auf der Verletzung des § 52 Abs. 2 StPO beruhen. Die Strafkammer hat ihre Überzeugung von der Schuld des Angeklagten im wesentlichen aus der Aussage der Sylvia G. geschöpft.
Die Entscheidung entspricht dem Antrage des Generalbundesanwalts.