BVerfG, 28.05.1957 - 2 BvO 5/56
1. Kann ein Gericht über die Fortgeltung einer Rechtsnorm als Bundesrecht nur entscheiden, indem es sich entweder zu einer beachtlichen in der Literatur vertretenen Auffassung oder zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichts eines Landes in Gegensatz setzt, so ist die zu entscheidende Frage streitig im Sinne des § 86 Abs. 2 BVerfGG und muß, wenn sie für die Entscheidung erheblich ist, dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden.
2. Als Abänderung von Reichsrecht im Sinne des Art. 125 Nr. 2 GG ist jede Verfügung des Landesgesetzgebers über früheres Reichsrecht anzusehen, dessen Gegenstand zur konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes gehört. Auch die Ersetzung einer reichsrechtlichen Gesamtregelung durch eine landesrechtliche Gesamtregelung stellt sich demnach als "Abänderung" von Reichsrecht im Sinne des Art. 125 Nr. 2 GG dar.
Beschluß
des Zweiten Senats vom 28. Mai 1957
– 2 BvO 5/56 –
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung, ob Art. 34 Abs. 1 Nr. 3 des Bayerischen Ärztegesetzes vom 25. Mai 1946 (GVBl. 1946 S. 193) als Bundesrecht fortgilt, – Antrag des Bundesgerichtshofs – 1. Strafsenat – (1 StR 429/54) -.
Entscheidungsformel:
Art. 34 Abs. 1 Nr. 3 des Bayerischen Ärztegesetzes vom 25. Mai 1946 (GVBl. 1946 S. 193) gilt als Bundesrecht fort.
Gründe
A.
I.
1. Durch Urteil vom 6. Mai 1954 verurteilte die 3. Große Strafkammer des Landgerichts Nürnberg-Fürth den Vertreter Dr. Rudolf F., der die Approbation als Arzt besitzt, wegen Verstoßes gegen Art. 34 Abs. 1 Nr. 3 des Bayerischen Ärztegesetzes vom 25. Mai 1946 (GVBl. 1946 S. 193) zu einem Monat Gefängnis, weil er die Heilkunde ausgeübt habe, obwohl die Regierung von Mittelfranken ihm gemäß Art. 3 Abs. 1 Nr. 1 des Bayerischen Ärztegesetzes unbefristet die Ausübung des ärztlichen Berufs untersagt hatte.
Der Angeklagte legte gegen das Urteil Revision ein. Die Staatsanwaltschaft übersandte die Akten dem Bundesgerichtshof als Revisionsgericht.
2. Am 13. Mai 1955 beschloß der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs, gemäß Art. 126 GG, § 13 Nr. 14, § 86 Abs. 2 BVerfGG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Frage einzuholen, ob Art. 34 Abs. 1 Nr. 3 des Bayerischen Ärztegesetzes im Lande Bayern als Bundesrecht fortgilt.
Der Senat führt zur Begründung seiner Vorlage aus, seine Zuständigkeit als Revisionsgericht sei nur gegeben, wenn Art. 34 Abs. 1 Nr. 3 des Bayerischen Ärztegesetzes nicht eine "in den Landesgesetzen enthaltene Rechtsnorm" sei (§§ 135, 121 Abs. 1 Nr. 1 c GVG). Das sei nur der Fall, wenn die genannte Vorschrift gemäß Art. 125 Nr. 2 GG als Bundesrecht fortgelte. Sei diese Vorschrift aber als bayerisches Landesrecht anzusprechen, so sei das Bayerische Oberste Landesgericht das zuständige Revisionsgericht (§ 121 Abs. 1 Nr. 1 c GVG, § 9 EG GVG, § 4 Abs. 1 b des Gesetzes über die Wiedererrichtung des Bayerischen Obersten Landesgerichts vom 11. Mai 1948 [GVBl. S. 83] in der Fassung vom 23. November 1953 [GVBl S. 191]; nunmehr Art. 22 Nr. 2 BayAG GVG vom 17. November 1956 [GVBl. S. 249]).
In der Vorlage wird weiter ausgeführt, es sei streitig, ob das Bayerische Ärztegesetz als Bundes- oder als Landesrecht fortgelte. Für die Beurteilung dieser Frage komme es darauf an, ob das Bayerische Ärztegesetz die Reichsärzteordnung vom 13. Dezember 1935 im Sinne des Art. 125 Nr. 2 GG "abgeändert" habe. Eine einheitliche Meinung zu dieser Streitfrage habe sich im vorlegenden Senat nicht gebildet. Die im Schrifttum herrschende Lehre nehme an, daß eine "Abänderung" des Reichsrechts auch vorliege, wenn ein Reichsgesetz durch ein Landesgesetz ersetzt worden sei. Dagegen habe der Bayerische Verfassungsgerichtshof (VGHE NF 4 II, 150 [155 f.]) das Bayerische Ärztegesetz als Landesrecht betrachtet; von einer Abänderung von Reichsrecht im Sinne des Art. 125 Nr. 2 GG könne nicht gesprochen werden, wenn der Landesgesetzgeber die frühere reichsrechtliche Ordnung eines Sachgebietes im ganzen aufgehoben und durch eine neue, selbständige Regelung ersetzt habe; die erste Auffassung käme zwar dem Sinn des Art. 125 Nr. 2 GG und dem Willen des Verfassunggebers näher, für die zweite Auffassung spreche aber, daß der Fall der vollständigen Neuregelung einer reichsrechtlich geregelten Materie durch den Landesgesetzgeber dem Falle ähnlich sei, in dem der Landesgesetzgeber das Reichsgesetz zunächst völlig aufgehoben und erst später die Materie durch Landesgesetz neu geregelt habe: in diesem Falle sei die Neuregelung zweifellos Landesrecht.
II.
1. Dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung, dem Bayerischen Landtag und der Regierung des Freistaates Bayern wurde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben.
Der Bundesminister des Innern ist der Auffassung, Art. 34 Abs. 1 Nr. 1 des Bayerischen Ärztegesetzes gelte als Bundesrecht fort.
Der Bayerische Ministerpräsident meint, das Bayerische Ärztegesetz gelte als Landesrecht fort, und zwar nicht nur hinsichtlich der Bestimmungen über die ärztliche Berufsorganisation und -gerichtsbarkeit, sondern .auch hinsichtlich der Bestimmungen, die die Zulassung zum ärztlichen Beruf regeln und deshalb nach Art. 74 Nr. 19 GG in den Bereich konkurrierender Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes fallen. Der Bayerische Landtag hat sich dieser Auffassung angeschlossen.
2. Den obersten Gerichten des Landes Bayern ist von dem Vorlagebeschluß Kenntnis gegeben worden.
Das Bayerische Landessozialgericht hat mitgeteilt, es habe in seiner bisherigen Rechtsprechung zu den bayerischen Gesetzen über die Zulassung von Ärzten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen und über die Zulassung von Zahnärzten und Dentisten zur Tätigkeit bei den Krankenkassen, beide vom 14. Juni 1949 (GVBl. S. 162, 167), Art. 125 Nr. 2 GG ebenso ausgelegt wie der Bayerische Verfassungsgerichtshof.
3. Dem Verfahren ist keiner der zum Beitritt Berechtigten beigetreten.
B.
I.
1. Art. 34 Abs. 1 Nr. 3 des Bayerischen Ärztegesetzes vom 25. Mai 1946 lautet:
"Mit Gefängnis bis zu einem Jahre und mit Geldstrafe oder mit einer dieser Strafen wird bestraft:
1. ...
2. ...
3. der Arzt, der die Heilkunde berufsmäßig ausübt, solange ihm die Ausübung des ärztlichen Berufes untersagt ist."
Die Untersagung der ärztlichen Berufsausübung regelt das Bayerische Ärztegesetz in Art. 3 Abs. 1-4. Diese Vorschriften lauten:
"I. Die Ausübung des ärztlichen Berufs ist zu untersagen,
1. wenn durch eine schwere strafrechtliche oder sittliche Verfehlung des Arztes erwiesen ist, daß ihm die für die Ausübung des ärztlichen Berufs erforderliche Eignung oder Zuverlässigkeit fehlt.
2. ...II. Die Ausübung des ärztlichen Berufs kann untersagt werden, wenn dem Arzt infolge eines körperlichen Gebrechens oder wegen Schwäche seiner geistigen oder körperlichen Kräfte oder wegen einer Sucht, die für die Ausübung des ärztlichen Berufs erforderliche Eignung oder Zuverlässigkeit fehlt.
III. Die Untersagung der ärztlichen Berufsausübung ist auf Antrag zurückzunehmen, wenn die sie begründeten Tatsachen in Wegfall gekommen sind.
IV. Zuständig zur Untersagung der ärztlichen Berufsausübung und zur Zurücknahme der Untersagung ist die Regierung, in deren Bereich der Arzt seinen Wohnsitz hat. Vor Erlaß des Bescheides ist die Landesärztekammer gutachtlich einzuvernehmen. Der Bescheid kann innerhalb 2 Wochen nach der Zustellung im verwaltungsgerichtlichen Verfahren angefochten werden."
2. Art. 35 S.atz l des Bayerischen Ärztegesetzes setzte die Reichsärzteordnung vom 13. Dezember 1935 (RGBl. I S. 1433) in der Fassung der Bekanntmachung vom 12. Juni 1939 (RGBl. I S. 1014) und des Gesetzes vom 30. Mai 1940 (RGBl. I S. 827) für Bayern außer Kraft. Wie die Reichsärzteordnung enthält das Bayerische Ärztegesetz Vorschriften über die Zulassung zum ärztlichen Beruf und seine Ausübung, die ärztliche Berufsorganisation, die Berufsgerichtsbarkeit und die Staatsaufsicht über die ärztlichen Berufsvertretungen. Zusätzlich enthalt es einen Abschnitt über das Recht der Zahnärzte.
II.
1. Die Entscheidung kann ohne mündliche Verhandlung ergehen (BVerfGE 2, 213 [217 f.]; 4, 214 [216]).
2. Der Antrag des Bundesgerichtshofs ist zulässig. Nach § 86 Abs. 2 BVerfGG hat ein Gericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn in einem bei ihm anhängigen Verfahren streitig und erheblich ist, ob ein Gesetz als Bundesrecht fortgilt. Diese Voraussetzungen sind gegeben.
a) Die Frage, ob Art. 34 Abs. 1 Nr. 3 des Bayerischen Ärztegesetzes als Bundesrecht fortgilt, ist in dem beim Bundesgerichtshof anhängigen Verfahren streitig.
Das vorlegende Gericht führt aus, wenn es über die Qualität des Art. 34 Abs. 1 Nr. 3 des Bayerischen Ärztegesetzes als Bundes- oder als Landesrecht entscheide, müsse es sich entweder mit der Auffassung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs oder mit der im Schrifttum herrschenden Ansicht in Widerspruch setzen. Das trifft hinsichtlich der erwähnten Auslegungsfrage zu Art. 125 Nr. 2 GG zu, ohne deren Entscheidung nicht bestimmt werden kann, ob Art. 34 Abs. 1 Nr. 3 des Bayerischen Ärztegesetzes als Bundesrecht fortgilt.
Anlaß zu Vorlagen nach Art. 126 GG, § 86 Abs. 2 BVerfGG kann nicht nur die Abweichung von der in der Literatur vertretenen Auffassung (Geiger, BVerfGG 1952, § 86 Anm. 3; Lechner, BVerfGG 1954, Anm. c zu § 86 Abs. 2; BGHZ 11, 104 [119 f.]), sondern auch die Abweichung von der Auffassung des Verfassungsgerichts eines Landes sein. Kann ein Gericht über die Fortgeltung einer Rechtsnorm als Bundesrecht nur entscheiden, indem es sich entweder zu einer beachtlichen, in der Literatur vertretenen Auffassung oder zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichts eines Landes in Gegensatz setzt, so ist die zu entscheidende Frage sicher "streitig" im Sinne des § 86 Abs. 2 BVerfGG und muß, wenn sie für die Entscheidung erheblich ist, dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt werden. Es kann daher dahingestellt bleiben, ob die Fortgeltung des Art. 34 Abs. 1 Nr. 3 des Bayerischen Ärztegesetzes als Bundesrecht auch schon deshalb als "streitig" anzusehen ist, weil sich im vorlegenden Senat des Bundesgerichtshofs keine einheitliche Meinung über die Streitfrage gebildet hat (abw. BVerfGE 4, 358 [369 f.]).
b) Die vorgelegte Rechtsfrage ist für die Entscheidung in dem beim Bundesgerichtshof anhängigen Verfahren auch erheblich. Nach Auffassung des vorlegenden Senats ist die Frage, ob ein vor dem Zusammentritt des ersten Bundestags erlassener Rechtssatz eine "in den Landesgesetzen enthaltene Rechtsnorm" im Sinne von § 121 Abs. 1 Nr. 1 c GVG ist, dann zu verneinen, wenn der fragliche Rechtssatz gemäß Art. 124, 125 GG als Bundesrecht fortgilt. Demnach könnte Art. 34 Abs. 1 Nr. 3 des Bayerischen Ärztegesetzes, wenn er Bundesrecht im Sinne von Art. 125 GG ist, keine "in den Landesgesetzen enthaltene Rechtsnorm" (§ 121 Abs. 1 Nr. 1 c GVG) sein, obwohl das Bayerische Ärztegesetz vom Landesgesetzgeber erlassen wurde. Der Bundesgerichtshof geht ferner - ohne das allerdings ausdrücklich festzustellen - davon aus, daß die Revision ausschließlich auf die in Frage stehende Rechtsnorm, also Art. 34 Abs. 1 Nr. 3 des Bayerischen Ärztegesetzes, gestützt wird; denn die Zuständigkeit des Bayerischen Obersten Landesgerichts wird durch § 121 Abs. 1 Nr. 1 c GVG nur dann begründet, "wenn die Revision ausschließlich auf die Verletzung einer in den Landesgesetzen enthaltenen Rechtsnorm gestützt wird". Nach der Auffassung des vorlegenden Gerichts ist daher für seine Zuständigkeit als Revisionsgericht entscheidend, ob Art. 34 Abs. 1 Nr. 3 des Bayerischen Ärztegesetzes Bundesrecht im Sinne des Art. 125 GG geworden ist. Von dieser Rechtsansicht des vorlegenden Gerichts hat das Bundesverfassungsgericht bei der Prüfung der Frage, ob die Vorlage zulässig ist, auszugehen (vgl. BVerfGE 2, 181 [190 f.]; 380 [384]).
III.
1. Der Gegenstand des Art. 34 Abs. 1 Nr. 3 des Bayerischen Ärztegesetzes gehört zum Bereich der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes, weil die Vorschrift die Zulassung zum ärztlichen Beruf betrifft (Art. 74 Nr. 1, 19 GG). Zum Recht der Zulassung zum ärztlichen Beruf im Sinne des Art. 74 Nr. 19 GG gehören jedenfalls alle Vorschriften, die sich auf Erteilung, Zurücknahme und Verlust der Bestallung (Approbation) oder die Befugnis zur Ausübung des ärztlichen Berufs beziehen (vgl. BVerfGE 4, 74 [84 f.]).
Demnach wurde Art. 34 Abs. 1 Nr. 3 des Bayerischen Ärzte-ge&etzes Bundesrecht, wenn sich die Ersetzung der Reichsärzteordnung durch das Bayer. Ärztegesetz im Sinne des Art. 125 Nr. 2 GG als Abänderung des früheren Reichsrechts über die Zulassung zum ärztlichen Beruf erweist. Davon, ob ein Bedürfnis nach bundesgesetzlicher Regelung besteht (Art. 72 Abs. 2 GG), ist die Fortgeltung alten Rechts als Bundesrecht nach Art. 125 GG nicht abhängig (BVerfGE 1, 283 [293 ff.]).
2. Art. 34 Abs. 1 Nr. 3 i.V.m. Art. 3 Abs. 1, 2 und 4 des Bayerischen Ärztegesetzes enthält die Strafsanktion für den Fall, daß ein Arzt seinen Beruf ausübt, obwohl ihm dies untersagt ist. Er betrifft denselben Gegenstand, der in den §§ 5, 7 und 9 der Reichsärzteordnung, zum Teil abweichend, geregelt war.
Die Besonderheit, die es zweifelhaft erscheinen läßt, ob reichsrechtliche Vorschriften "abgeändert" wurden, liegt in folgendem: Die ersetzten reichsrechtlichen Vorschriften waren Bestandteil einer erschöpfenden reichsrechtlichen Regelung des ärztlichen Berufsrechts, der Reichsärzteordnung. Die ersetzenden landesrechtlichen Vorschriften sind Bestandteil einer ebenso erschöpfend gedachten landesrechtlichen Regelung, des Bayerischen Ärztegesetzes. Der Landesgesetzgeber hat nicht einige Vorschriften einer sonst unberührt gebliebenen reichsgesetzlichen Regelung abgeändert, er hat vielmehr die reichsrechtliche Regelung des ärztlichen Berufsrechts als Ganzes durch ein neues Landesgesetz abgelöst.
Entscheidend ist also, ob Art. 125 Nr. 2 GG dahin zu verstehen ist, daß als "Abänderung" ehemaligen Reichsrechts nur solche landesrechtliche Vorschriften anzusehen sind, die einzelne Bestimmungen einer reichsrechtlichen Gesamtregelung inhaltlich verändert haben, oder dahin, daß als "Abänderung" auch die Ersetzung einer reichsrechtlichen Gesamtregelung durch eine landesrechtliche Gesamtregelung verstanden werden muß.
3. Aus dem Zweck des Art. 125 Nr. 2 GG ergibt sich, daß diese Vorschrift auch den Fall umfaßt, daß die reichsrechtliche Ordnung eines Gesetzgebungsgegenstandes, der heute zur konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes gehört, durch eine landesrechtliche Gesamtregelung ersetzt wurde.
Art. 125 Nr. 2 GG will mit Rücksicht auf die Veränderungen in der staatlichen Organisation die Kontinuität des Rechts auf solchen Gebieten der Gesetzgebung wahren, die am 8. Mai 1945 reichsrechtlich geregelt waren, und die das Grundgesetz der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes zugewiesen hat. Die Vorschrift geht davon aus, daß die Länder, nachdem das Reich handlungsunfähig geworden war, in der Zeit vom 8. Mai 1945 bis zur Konstituierung der Gesetzgebungsorgane des Bundes früheres Reichsrecht abändern konnten und auch abgeändert haben. Dadurch ist auf Gebieten der heutigen konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes, .auf denen früher durch die Gesetzgebung des Reiches Rechtseinheit bestand, in der Zeit nach 1945 eine gewisse Rechtszersplitterung eingetreten. Art. 125 Nr. 2 GG verfolgt das Ziel, für die Zukunft weitere Rechtszersplitterung zu verhindern. War ein bestimmter Gesetzgebungsgegenstand reichsrechtlich geregelt, so soll, soweit diese Regelung zur konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes gehört, das diesen Gegenstand betreffende Recht auch dann Bundesrecht werden, wenn die Länder zwischen dem 8. Mai 1945 und dem 7. September 1949 an Stelle des Reiches vom früheren Reichsrecht abweichendes Recht gesetzt haben. Um dies zu erreichen, ordnet die Vorschrift an, daß Recht, durch das nach dem 8. Mai 1945 früheres Reichsrecht abgeändert worden ist, als Bundesrecht fortgilt, wenn es Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes betrifft. Sie hat dieselbe Wirkung, wie wenn der Bund die Materie bereits selbst geregelt hätte. Dadurch wird die Gesetzgebungszuständigkeit der Länder in der gleichen Weise beschränkt wie durch Gesetzgebungsakte des Bundes auf dem Gebiete der konkurrierenden Gesetzgebung (Art. 72 Abs. 1 GG).
Aus dem Zweck des Art. 125 Nr. 2 GG ergibt sich, daß ihm nur eine solche Auslegung des Begriffes "abändern" gerecht wird, die jeden vom Landesgesetzgeber vorgenommenen Eingriff in den reichsrechtlichen Rechtsbestand einschließt. Es widerspräche daher dem Sinne der Bestimmung, es von der Art und Weise, wie der Landesgesetzgeber den reichsrechtlichen Rechtsbestand verändert hat, abhängig zu machen, ob eine Abänderung im Sinne des Art. 125 Nr. 2 GG vorliegt oder nicht. Als Abänderung von Reichsrecht im Sinne des Art. 125 Nr. 2 GG ist jede Verfügung des Landesgesetzgebers über früheres Reichsrecht anzusehen, dessen Gegenstand zur Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes gehört. Auch die Ersetzung einer reichsrechtlichen Gesamtregelung durch eine landesrechtliche Gesamtregelung stellt sich demnach als "Abänderung" von Reichsrecht im Sinne des Art. 125 Nr. 2 GG dar.
Es kann daher der Auffassung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs (VGHE NF 2 II, 134) nicht gefolgt werden, die Funktion des Art. 125 Nr. 2 GG erschöpfe sich darin, die inhaltliche Einheitlichkeit bestimmter (früherer) Reichsgesetze in ihrem Geltungsbereich zu sichern. Diese Auffassung läßt das Ziel der Bestimmung außer acht, dem Bund auf dem Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung die Rechtsetzung durch das Reich zuzurechnen, so daß ihr Gegenstand als vom Bund in Anspruch genommen gilt. Sie legt zu großes Gewicht auf die äußere Einheit der gesetzlichen Regelung und übersieht, daß es entscheidend auf die Zuordnung der Materie zur Reichs- und Bundesgesetzgebung ankommt. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof verkennt, daß Art. 125 Nr. 2 GG schon seinem Wortlaut nach nur voraussetzt, daß die reichsrechtliche Regelung und deren landesrechtliche Änderung denselben Gegenstand der Gesetzgebung betreffen. Da Art. 125 Nr. 2 GG nur die inhaltliche Änderung der reichsrechtlichen Regelung durch den Landesgesetzgeber voraussetzt, kann es für die Anwendung dieser Vorschrift weder auf das Ausmaß der inhaltlichen Übereinstimmung der landesrechtlichen mit der reichsrechtlichen Regelung ankommen, noch darauf, in welchem Umfang der Landesgesetzgeber früheres Reichsrecht hat bestehen lassen, oder ob er es völlig ersetzt hat. Aus Art. 125 Nr. 2 GG kann nicht entnommen werden, daß ein Restbestand des früheren Reichsgesetzes übriggeblieben sein muß.
Dieses Ergebnis kann auch nicht durch den Hinweis darauf in Frage gestellt werden, daß Bundesrecht jedenfalls dann nicht entstanden sein könne, wenn der Landesgesetzgeber eine reichsrechtliche Regelung nicht durch denselben gesetzgeberischen Akt aufgehoben und gleichzeitig ersetzt, sondern sich darauf beschränkt habe, lediglich die reichsrechtliche Regelung aufzuheben. Auch dies würde eine Abänderung von früherem Reichsrecht sein, die unter Art. 125 Nr. 2 GG fällt. Der Zweck der Vorschrift erfordert ihre Anwendung selbst dann, wenn Landesgesetze geändert worden sind, die früheres Reichsrecht abgeändert haben, sei es, daß eine Materie nach vorangegangener Aufhebung der reichsrechtlichen Vorschriften neu geordnet, sei es, daß die rechtliche Ordnung der Materie mehrfach geändert worden ist.
Der Senat befindet sich mit dieser Auffassung in Übereinstimmung mit der im Schrifttum herrschenden Meinung (vgl. Strauß, Joel und Rotberg in "Bundesrecht und Bundesgesetzgebung", Bd. l der Wissenschaftlichen Schriftenreihe des Instituts zur Förderung öffentlicher Angelegenheiten, 1950, S. 161, 163, 165; Holtkotten, Bonner Kommentar, Art. 125 Anm. II 8 c; v. Mangoldt, BGG Kommentar 1953, Art. 125 Anm. 2 S. 629; Diller, JZ 1956, S. 718 ff. [719]; ebenso das Bundesarbeitsgericht, Beschl. v. 22. Juni 1956, NJW 1956, S. 1534 [1535]). Dieser Auffassung folgte ferner die Staatspraxis des Bundes und des Landes Hessen, die in der Änderung des Hessischen Gesetzes zur Einführung der Rechtsanwaltsordnung vom 13. Dezember 1948 durch die Bundesgesetze vom 20. Dezember 1952 (BGBl. I S. 830) und vom 25. Dezember 1955 (BGBl. I S. 865) zum Ausdruck kommt (s. hierzu Zinnkann im Bundesrat, 90. Sitzung vom 31. Juli 1952, Sitzungsbericht S. 365 A und die gegenteilige Stellungnahme Bayerns im Bundesrat, Rechtsausschuß, 100. Sitzung vom 17. Juli 1952, Kurzprotokoll S. 8).
C.
Art. 34 Abs. 1 Nr. 3 des Bayerischen Ärztegesetzes ist daher Recht, das einen Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes betrifft und das nach dem 8. Mai 1945 früheres Reichsrecht abgeändert hat. Ebenso wie die zulassungsrechtlichen Vorschriften der Reichsärzteordnung innerhalb ihres Geltungsbereiches Bundesrecht gemäß Art. 125 Nr. 1 GG geworden sind (BVerfGE 4, 74 [83 ff.]), ist Art. 34 Abs. 1 Nr. 3 des Bayerischen Ärztegesetzes gemäß Art. 125 Nr. 2 GG Bundesrecht geworden.