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BVerfGE 19, 342; JuS 1966, 164; JZ 1966, 146; MDR 1966, 300; NJW 1966, 243

Daten

Fall: 
Wencker
Fundstellen: 
BVerfGE 19, 342; JuS 1966, 164; JZ 1966, 146; MDR 1966, 300; NJW 1966, 243
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
15.12.1965
Aktenzeichen: 
1 BvR 513/65
Entscheidungstyp: 
Beschluss
Instanzen: 
  • OLG Hamburg, 23.08.1965 - 2b Ws 70/65

Seitennummerierung nach:

BVerfGE 19, 342

Seiten:


BVerfGE 19, 342 (342):
Nach dem verfassungsrechtlichen Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist auch bei einem auf § 112 Abs. 4 StPO gestützten Haftbefehl eine Haftverschonung in entsprechender Anwendung des § 116 StPO möglich.

 


BVerfGE 19, 342 (343):
Beschluß

des Ersten Senats vom 15. Dezember 1965

-- 1 BvR 513/65 --

in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Admirals a. D. ... - Bevollmächtigte: Rechtsanwälte ... - gegen 1. den Haftbefehl des Landgerichts Hamburg vom 9. August 1965 - (37) 135/65 (141 Js 170/61 StA Hamburg) - 2. den Beschluß des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 23. August 1965 - 2 b Ws 70/65.

Entscheidungsformel:

Der Beschluß des Hanseatischen Oberlandesgerichts Hamburg vom 23. August 1965 - 2b Ws 70/65 - verletzt das Recht des Beschwerdeführers aus Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes. Er wird deshalb aufgehoben. Die Sache wird an das Hanseatische Oberlandesgericht zurückverwiesen.

  Gründe:

I.

1. Das Gesetz zur Änderung der Strafprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes vom 19. Dezember 1964 (BGBl. I S. 1067), das am 1. April 1965 in Kraft getreten ist (sogenannte Kleine Strafprozeßnovelle), hat u.a. das Recht der Untersuchungshaft neu geregelt; dabei verfolgt es im ganzen die Tendenz, Anordnung und Dauer der Haft zu beschränken. Die bisherigen Haftvoraussetzungen sind "objektiviert" worden, d.h., es müssen "bestimmte Tatsachen" festgestellt werden, aus denen sich die genau umschriebenen Tatbestände der Flucht- oder Verdunkelungsgefahr ergeben. Andererseits hat die Novelle bei Sittlichkeitsverbrechen den Haftgrund der Wiederholungsgefahr neu eingeführt und schließlich in § 112 Abs. 4 StPO folgendes bestimmt:

Gegen den Beschuldigten, der eines Verbrechens wider das Leben nach den §§ 211, 212 oder § 220a Abs. 1 Nr. 1 des Strafgesetzbuches dringend verdächtig ist, darf die Untersuchungshaft auch angeordnet werden, wenn ein Haftgrund nach Absatz 2 und 3 nicht besteht.

Die Fälle der sogenannten Haftverschonung sind in § 116 StPO gegenüber der früheren Regelung erweitert worden. Nicht


BVerfGE 19, 342 (344):
nur bei Fluchtgefahr, sondern auch bei Verdunkelungsgefahr und Wiederholungsgefahr ist die Aussetzung des Vollzuges des Haftbefehls möglich, wenn mit weniger einschneidenden Maßnahmen der Zweck der Untersuchungshaft erreicht werden kann. § 112 Abs. 4 StPO ist in § 116 StPO nicht erwähnt.

2. Die Frage, ob auch dann, wenn der Haftbefehl allein auf § 112 Abs. 4 StPO gestützt ist, eine Aussetzung des Vollzuges nach § 116 StPO verfügt werden kann, ist im Schrifttum und insbesondere auch in der Rechtsprechung der Oberlandesgerichte streitig. Einige wollen unter Berufung auf den Wortlaut des § 116 StPO diese Möglichkeit ausschließen, andere halten es trotz des Wortlauts mit verschiedener Begründung für geboten, auch bei einer Verhaftung nach § 112 Abs. 4 StPO zur Haftverschonung zu gelangen. Eine dritte Gruppe hält es für möglich, auch bei Verbrechen gegen das Leben den Vollzug des Haftbefehls gemäß § 116 StPO auszusetzen, wenn er allein oder zusätzlich auf § 112 Abs. 2 oder 3 StPO gestützt wird. Einen Überblick über die Auffassungen in Literatur und Rechtsprechung gibt Kleinknecht, MDR 1965, 785; vgl. auch OLG Köln, Beschluß vom 24. September 1965 - HEs 73/65 - und OLG Stuttgart, Beschluß vom 27. Oktober 1965 - 3 HEs 48/65.

II.

1. Der Beschwerdeführer, ein Admiral a.D., der im 76. Lebensjahr steht, ist wegen Mordes angeklagt. Es wird ihm zur Last gelegt, er habe 1944 als Marineattache der Deutschen Botschaft in Tokio den Befehl gegeben, Untersuchungsgefangene, die auf Blockadebrechern nach Deutschland verschifft wurden, im Fall der Selbstversenkung mit dem Schiff untergehen zu lassen. Auf Grund eines gemäß § 112 Abs. 4 StPO erlassenen Haftbefehls des Landgerichts Hamburg vom 9. August 1965 wurde der Beschwerdeführer am 11. August 1965 verhaftet. Die Beschwerde gegen den Haftbefehl hat das Hanseatische Oberlandesgericht Hamburg durch Beschluß vom 23. August 1965 verworfen: Angesichts der Schwere des Deliktes, dessen der Beschwerde


BVerfGE 19, 342 (345):
führer verdächtig sei, komme es nicht darauf an, ob auch Haftgründe im Sinne des § 112 Abs. 2 StPO beständen. Eine Haftentlassung nach § 116 StPO müsse außer Betracht bleiben, da die Aussetzung eines nach § 112 Abs. 4 StPO erlassenen Haftbefehls gesetzlich ausgeschlossen sei.

Gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts hat der Beschwerdeführer Verfassungsbeschwerde erhoben. Er rügt, durch falsche Auslegung der Strafprozeßordnung werde er in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 GG verletzt. Andere Gerichte hielten die Haftverschonung bei einem auf § 112 Abs. 4 StPO gestützten Haftbefehl für zulässig. Hätte das Oberlandesgericht eine solche Auslegung, die allein verfassungsmäßig sei, gewählt, dann hätte der Vollzug des Haftbefehls ausgesetzt werden müssen. Der Beschwerdeführer wisse seit fünf Jahren von den Ermittlungen gegen sich; er habe sich zur Durchführung des Verfahrens jederzeit zur Verfügung gestellt. Er sei allseits hochgeachtet und würde sich jederzeit nach bestimmten Weisungen richten, die das Gericht zur Abwendung der Haft treffen würde. Der Beschwerdeführer beantragt:

1. den Beschluß des Hanseatischen Oberlandesgerichts vom 23. August 1965 insoweit aufzuheben, als durch ihn die Aussetzung des Vollzuges des Haftbefehls vom 9. August 1965 wegen gesetzlicher Unzulässigkeit der Aussetzung gemäß § 116 StPO abgelehnt worden ist,

2. die Sache zur Entscheidung über die Aussetzung des Vollzuges des Haftbefehls an ein zuständiges Gericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).

2. Der Bundesminister der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Die Neuordnung des Haftrechts verfolge das Ziel, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entsprechend die Anordnung und Dauer der Untersuchungshaft zu beschränken. Demnach seien im allgemeinen die Schwere des Deliktes und die Höhe der zu erwartenden Strafe kein Grund mehr, unter erleichterten Voraussetzungen einen Haftbefehl zu erlassen.


BVerfGE 19, 342 (346):
Der besondere Haftgrund des § 112 Abs. 4 StPO sei keine modifizierte Aufrechterhaltung des alten § 112 Abs. 2 Nr. 1 StPO, der bei Verbrechen den Fluchtverdacht gesetzlich vermutete, sondern komme auch dann in Betracht, wenn Fluchtverdacht oder Verdunkelungsgefahr gerade nicht vorlägen. Der hohe Respekt vor dem Rechtsgut des menschlichen Lebens, das das höchste Schutzgut unserer Gesellschaftsordnung sei, habe den Gesetzgeber veranlaßt, diesen Haftgrund einzuführen, der besonders dann herangezogen werden könne, wenn kein "klassischer" Haftgrund vorliege. Deshalb lasse sich in diesen Fällen der Zweck der Untersuchungshaft nicht durch Haftverschonung unter Auflagen erreichen. Dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit trage das Gesetz insofern Rechnung, als es in leichteren Fällen von Verbrechen gegen das Leben dem Richter gestatte, vom Erlaß eines Haftbefehls nach § 112 Abs. 4 StPO abzusehen; statt dessen könne er Haftbefehl nach § 112 Abs. 2 oder 3 StPO erlassen, falls die gesetzliche Voraussetzungen hierfür vorlägen, dann aber auch den Vollzug des Haftbefehls gemäß § 116 StPO aussetzen.

Die Verfassungsbeschwerde sei schon deshalb unbegründet, weil kein spezifisches Verfassungsrecht verletzt sei. Die verschiedenen Auslegungen, die auch für Mord- und Totschlagsverdächtige eine Haftverschonung zuließen, seien allenfalls vertretbar, aber nicht zwingend von der Verfassung geboten. Weder das Übermaßverbot noch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz forderten, den der schlimmsten Verbrechen Verdächtigen auf freiem Fuß zu lassen.

Verfassungsrecht sei auch nicht dadurch verletzt worden, daß das Gericht im konkreten Fall sein Ermessen anders hätte gebrauchen müssen. Denn die Annahme des besonderen Haftgrundes des Absatzes 4 des § 112 StPO sei auch bei dem Alter des Beschwerdeführers und unter dem Gesichtspunkt, daß die vorgeworfene Tat über 20 Jahre zurückliege, nicht unvertretbar, mithin nicht willkürlich.


BVerfGE 19, 342 (347):
III.

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

1. In dem Rechtsinstitut der Untersuchungshaft wird das Spannungsverhältnis zwischen dem in Art. 2 Abs. 2 und Art. 104 GG gewährleisteten Recht des Einzelnen auf persönliche Freiheit und den unabweisbaren Bedürfnissen einer wirksamen Strafverfolgung deutlich sichtbar. Die rasche und gerechte Ahndung schwerer Straftaten würde in vielen Fällen nicht möglich sein, wenn es den Strafverfolgungsbehörden ausnahmslos verwehrt wäre, den mutmaßlichen Täter schon vor der Verurteilung festzunehmen und bis zum Urteil in Haft zu halten. Andererseits ist die volle Entziehung der persönlichen Freiheit durch Einschließung in eine Haftanstalt ein Übel, das im Rechtsstaat grundsätzlich nur dem zugefügt werden darf, der wegen einer gesetzlich mit Strafe bedrohten Handlung rechtskräftig verurteilt worden ist. Diese Maßnahme schon gegen einen einer Straftat lediglich Verdächtigen zu ergreifen kann nur in streng begrenzten Ausnahmefällen zulässig sein. Dies ergibt sich auch aus der grundsätzlichen Unschuldsvermutung, die es ausschließt, auch bei noch so dringendem Tatverdacht gegen den Beschuldigten im Vorgriff auf die Strafe Maßregeln zu verhängen, die in ihrer Wirkung der Freiheitsstrafe gleichkommen. Diese Unschuldsvermutung ist zwar im Grundgesetz nicht ausdrücklich statuiert, entspricht aber allgemeiner rechtsstaatlicher Überzeugung und ist durch Art. 6 Abs. 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention auch in das positive Recht der Bundesrepublik eingeführt worden.

Eine vertretbare Lösung dieses Konflikts zweier für den Rechtsstaat gleich wichtiger Prinzipien läßt sich nur erreichen, wenn den vom Standpunkt der Strafverfolgung aus erforderlich und zweckmäßig erscheinenden Freiheitsbeschränkungen ständig der Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten Beschuldigten als Korrektiv entgegengehalten wird. Dies bedeutet: Die Untersuchungshaft muß in Anordnung und Vollzug von dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit beherrscht werden; der Eingriff in die Freiheit ist nur hinzunehmen, wenn und soweit einerseits wegen


BVerfGE 19, 342 (348):
dringenden auf konkrete Anhaltspunkte gestützten Tatverdachts begründete Zweifel an der Unschuld des Verdächtigen bestehen, andererseits der legitime Anspruch der staatlichen Gemeinschaft auf vollständige Aufklärung der Tat und rasche Bestrafung des Täters nicht anders gesichert werden kann als dadurch, daß der Verdächtige vorläufig in Haft genommen wird. Die Verfolgung anderer Zwecke durch die Untersuchungshaft ist jedenfalls grundsätzlich ausgeschlossen; namentlich darf sie nicht nach Art einer Strafe einen Rechtsgüterschutz vorwegnehmen, dem das materielle Strafrecht dienen soll.

2. Die neuere Rechtsentwicklung trägt diesen Grundsätzen Rechnung. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 betont im Anschluß an die französische Erklärung der Menschenrechte von 1789 die Unschuldsvermutung nachdrücklich (Art. 11 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 9). Die Europäische Menschenrechtskonvention wiederholt diesen Grundsatz (Art. 6 Abs. 2) und umschreibt in Artikel 5 genau die Voraussetzungen, unter denen im Rechtsstaat die Beschränkung der persönlichen Freiheit allein zulässig ist. Das Ministerkomitee des Europarats hat dazu neuerdings eine Empfehlung an die Mitgliedstaaten beschlossen (Mitteilungen des Europarats, veröffentlicht in der Beilage zum Bundesanzeiger Nr. 102 vom 3. Juni 1965, S. 38), die u.a. folgende Richtlinien enthält:

Die Untersuchungshaft darf niemals zwingend sein. Die Justizbehörde wird eine diesbezügliche Entscheidung unter Berücksichtigung aller Umstände des jeweiligen Falles treffen. Die Untersuchungshaft muß als eine Ausnahmemaßnahme betrachtet werden. Die Untersuchungshaft darf nur in solchen Fällen angeordnet und beibehalten werden, wo sie unbedingt notwendig erscheint. Sie darf auf keinen Fall als Strafmaßnahme Anwendung finden. Andere Maßnahmen, welche die Untersuchungshaft ersetzen könnten, sind ebenfalls anzuführen.

In der Bundesrepublik Deutschland hat der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verfassungsrechtlichen Rang. Er ergibt sich


BVerfGE 19, 342 (349):
aus dem Rechtsstaatsprinzip, im Grunde bereits aus dem Wesen der Grundrechte selbst, die als Ausdruck des allgemeinen Freiheitsanspruchs des Bürgers gegenüber dem Staat von der öffentlichen Gewalt jeweils nur so weit beschränkt werden dürfen, als es zum Schutz öffentlicher Interessen unerläßlich ist. Für das Grundrecht der persönlichen Freiheit folgt dies auch aus der besonderen Bedeutung, die gerade diesem Grundrecht als der Basis der allgemeinen Rechtsstellung und Entfaltungsmöglichkeit des Bürgers zukommt und die das Grundgesetz dadurch anerkennt, daß es in Art. 2 Abs. 2 die Freiheit der Person als "unverletzlich" bezeichnet.

Die Strafprozeßnovelle vom 19. Dezember 1964, deren Ziel eine verfassungskonforme Ausgestaltung des Strafverfahrens war, will dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im Untersuchungshaftrecht allgemein Geltung verschaffen. Er wird, was die Voraussetzungen der Haftanordnung anlangt, in § 112 Abs. 1 Satz 2 StPO generell ausgesprochen und für Vollzug und Dauer der Haft in §§ 116, 120, 121 StPO wiederholt. Er kommt vor allem auch darin zum Ausdruck, daß - trotz genauer Umschreibung der Voraussetzungen für den Erlaß eines Haftbefehls - dieser niemals obligatorisch ist, sondern stets im pflichtmäßigen Ermessen des Richters steht; das folgt aus dem Wort "darf" in § 112 Abs. 1 und 4 StPO.

3. Bei der ihm hiernach obliegenden Abwägung hat der Richter stets im Auge zu behalten, daß es der vornehmliche Zweck und der eigentliche Rechtfertigungsgrund der Untersuchungshaft ist, die Durchführung eines geordneten Strafverfahrens zu gewährleisten und die spätere Strafvollstreckung sicherzustellen; ist sie zu einem dieser Zwecke nicht mehr nötig, so ist es unverhältnismäßig und daher grundsätzlich unzulässig, sie anzuordnen, aufrechtzuerhalten oder zu vollziehen. Die Haftgründe der Fluchtgefahr und der Verdunkelungsgefahr (§ 112 Abs. 2 StPO) dienen ersichtlich diesem Zweck. Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr in § 112 Abs. 3 StPO geht zwar darüber hinaus, indem er den Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten, also einen präventiv-po


BVerfGE 19, 342 (350):
lizeilichen Gesichtspunkt, für die Verhängung der Untersuchungshaft genügen läßt. Er kann jedoch damit gerechtfertigt werden, daß es hier um die Bewahrung eines besonders schutzbedürftigen Kreises der Bevölkerung vor mit hoher Wahrscheinlichkeit drohenden schweren Straftaten geht; auch erscheint es zweckmäßiger, diesen Schutz den bereits mit der Aufklärung der begangenen Straftat befaßten Strafverfolgungsbehörden und damit dem Richter anzuvertrauen als der Polizei.

Der neu eingeführte § 112 Abs. 4 StPO müßte dagegen rechtsstaatliche Bedenken erwecken, wenn er dahin auszulegen wäre, daß bei dringendem Verdacht eines der hier bezeichneten Verbrechen gegen das Leben die Untersuchungshaft ohne weiteres, d.h. ohne Prüfung weiterer Voraussetzungen, verhängt werden dürfte. Eine solche Auslegung wäre mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Es kann schon zweifelhaft sein, ob sie dem Wortlaut der Bestimmung entspricht; denn dieser legt es nahe, der Vorschrift nur subsidiäre Geltung beizumessen, sie also nur anzuwenden, wenn zuvor das Vorliegen eines Haftgrundes nach Absatz 2 geprüft und verneint worden ist. Aber auch wenn man dieser Auslegung nicht folgt, fordert der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, daß der Richter auch bei Anwendung des § 112 Abs. 4 StPO den Zweck der Untersuchungshaft nie aus dem Auge verliert. Weder die Schwere der Verbrechen wider das Leben noch die Schwere der (noch nicht festgestellten) Schuld rechtfertigen für sich allein die Verhaftung des Beschuldigten; noch weniger ist die Rücksicht auf eine mehr oder minder deutlich feststellbare "Erregung der Bevölkerung" ausreichend, die es unerträglich finde, wenn ein "Mörder" frei umhergehe. Es müssen vielmehr auch hier stets Umstände vorliegen, die die Gefahr begründen, daß ohne Festnahme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte. Der zwar nicht mit "bestimmten Tatsachen" belegbare, aber nach den Umständen des Falles doch nicht auszuschließende Fluchtverdacht oder Verdunkelungsverdacht kann u.U. bereits ausreichen. Ebenso könnte die ernstliche Befürchtung, daß der Beschuldigte wei


BVerfGE 19, 342 (351):
tere Verbrechen ähnlicher Art begeht, für den Erlaß eines Haftbefehls genügen. § 112 Abs. 4 StPO ist in engem Zusammenhang mit Absatz 2 zu sehen; er läßt sich dann damit rechtfertigen, daß mit Rücksicht auf die Schwere der hier bezeichneten Straftaten die strengen Voraussetzungen der Haftgründe des Absatzes 2 gelockert werden sollen, um die Gefahr auszuschließen, daß gerade besonders gefährliche Täter sich der Bestrafung entziehen.

4. Eine besondere Ausprägung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit stellt § 116 StPO dar. Er legt dem Richter die Pflicht auf, bei jeder Verhaftung wegen Flucht-, Verdunkelungs- und Wiederholungsgefahr zu prüfen, ob der Zweck der Untersuchungshaft nicht auch durch weniger einschneidende Freiheitsbeschränkungen erreicht werden kann. Ist das der Fall, so ist der Vollzug des Haftbefehls auszusetzen. Die vorstehenden Darlegungen über die allgemeine Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im Haftrecht führen zu dem Ergebnis, daß eine Haftverschonung auch möglich sein muß, wenn der Haftbefehl auf § 112 Abs. 4 StPO gestützt wird. Weder Wortlaut noch Sinn des § 112 StPO verbieten es, auch bei Verbrechen gegen das Leben den Haftbefehl auf Absatz 2, gegebenenfalls auf Absatz 3 zu stützen. Es wäre ein ungereimtes Ergebnis und würde dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit klar widersprechen, wenn zwar bei Flucht- oder Verdunkelungsgefahr im Sinne des § 112 Abs. 2 StPO ohne Rücksicht auf die Schwere der Straftat der Beschuldigte stets nach § 116 StPO von der Haft verschont werden könnte, andererseits aber bei geringerer Gefahr von Flucht oder Verdunkelung der Beschuldigte von jeder für den Zweck des Strafverfahrens ausreichenden milderen Maßnahme schlechthin ausgeschlossen wäre. Wenn eine Aufhebung des Haftbefehls die Durchführung des Strafverfahrens gefährden könnte, eine Aussetzung des Haftbefehls mit bestimmten Auflagen aber ausreicht, dann darf der Richter nicht gezwungen sein, die Haft fortdauern zu lassen. Die Minderung des Schutzes des Beschuldigten, die in der Einführung des Haftgrundes des § 112 Abs. 4 StPO und damit in der Erleichterung des Erlasses eines Haftbefehls liegt, muß


BVerfGE 19, 342 (352):
durch die Zulassung einer Haftverschonung einigermaßen ausgeglichen und darf nicht durch ihre Versagung in der Wirkung noch gesteigert werden.

Der Einwand, der Richter könne, wenn er eine Haftverschonung für angebracht halte, von dem Erlaß eines Haftbefehls nach § 112 Abs. 4 StPO überhaupt absehen oder ihn aufheben, wäre unberechtigt. Damit würde der Ermessensbereich des Richters in einer dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz widersprechenden Weise verengt. Er hätte nur die Wahl zwischen unbeschränkter Freilassung und voller Freiheitsentziehung. Es kann aber sehr wohl Fälle geben, in denen es angemessen und für die Zwecke des Strafverfahrens ausreichend ist, den Beschuldigten in einer "kontrollierten Freiheit" zu belassen, indem gegen ihn Maßnahmen der in § 116 StPO bezeichneten Art verhängt werden.

5. Angesichts der Bedeutung des Grundrechts der persönlichen Freiheit einerseits, der Anforderungen einer wirkungsvollen, aber in rechtsstaatlichen Formen verlaufenden Strafverfolgung andererseits und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in Verbindung mit der Unschuldsvermutung zugunsten des Beschuldigten muß auch bei einer Verhaftung auf Grund des § 112 Abs. 4 StPO eine Haftverschonung möglich sein. Demgegenüber können Bedenken aus dem Wortlaut des § 116 StPO zurücktreten. Diese Bestimmung regelt die Voraussetzungen einer Aussetzung des Vollzuges eines Haftbefehls nicht erschöpfend, wie die von den Gerichten seit jeher geübte Praxis beweist, den Vollzug eines Haftbefehls auch bei Haftunfähigkeit des Beschuldigten auszusetzen. Überdies erscheint es nach der Entstehungsgeschichte des Gesetzes vom 19. Dezember 1964 nicht ausgeschlossen, daß diese Auslegung dem wahren Willen des Gesetzgebers entspricht und nur versehentlich im Wortlaut nicht zum Ausdruck gekommen ist: Die Haftgründe des § 112 Abs. 3 - Wiederholungsgefahr bei Sittlichkeitsverbrechen - und Abs. 4 - schwere Verbrechen gegen das Leben - waren in den ursprünglichen Entwürfen der Fraktionen und der Bundesregierung nicht vorgesehen (BT-Drucks. IV/63 und IV/178). Erst der Rechtsausschuß


BVerfGE 19, 342 (353):
des Bundestages nahm einen Vorschlag an, der inhaltlich dem heutigen § 112 Abs. 4 StPO entsprach, sich aber allgemein auf besonders schwere Fälle bezog (Protokoll Nr. 37). Der Bundestag stimmte in der zweiten Beratung dem § 112 StPO in der vom Rechtsausschuß vorgeschlagenen Form zu und beschloß, § 116 StPO dahin zu ergänzen, daß auch der Vollzug eines nach § 112 Abs. 3 oder Abs. 4 StPO erlassenen Haftbefehls unter gewissen Bedingungen ausgesetzt werden könne. Unwidersprochen wurde die Auffassung vertreten, daß es auch bei Wiederholungsgefahr und bei Vorliegen besonders schwerer Verbrechen Fälle gebe, in denen bei Erfüllung von Auflagen der Vollzug des Haftbefehls unterbleiben könne. Vor der dritten Beratung im Bundestag beschloß dann der Rechtsausschuß die Streichung des Absatzes 4 in § 112 StPO und brachte die Verbrechen wider das Leben bei der Haftvoraussetzung der Wiederholungsgefahr in Absatz 3 unter. Folgerichtig strich er in § 116 StPO die Bezugnahme auf § 112 Abs. 4 StPO (BT-Drucks. IV/2378). In der dritten Beratung nahm der Bundestag einen Änderungsantrag an, in dem der § 112 Abs. 4 StPO in der heute geltenden Fassung wiederhergestellt wurde, ohne jedoch erneut in § 116 StPO eine Haftverschonung für die Fälle des § 112 Abs. 4 StPO einzuführen.

Bei einer somit auch im Fall des § 112 Abs. 4 StPO möglichen Haftverschonung wird der Richter die jeweils erforderlichen Maßnahmen in entsprechender Anwendung des § 116 Abs. 1 bis 3 StPO zu treffen haben.

6. Der angefochtene Beschluß läßt den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit außer acht. Dies geschieht bereits durch die Bestätigung des Haftbefehls, in der die vorstehend dargelegte Rechtsauffassung nicht berücksichtigt wird, vor allem aber dadurch, daß die Möglichkeit einer Aussetzung des Haftbefehls schlechthin verneint wird. Der Beschluß verletzt also das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Art. 2 Abs. 2 GG und ist deshalb aufzuheben.