1. Das Grundrecht der Glaubensfreiheit erlaubt auszusprechen und auch zu verschweigen, daß und was man glaubt oder nicht glaubt.
2. Die Glaubensfreiheit umfaßt auch die Werbung für den eigenen Glauben wie die Abwerbung von einem fremden Glauben.
3. Wer einem anderen für die Lösung von seinem Glauben unter Ausnutzung besonderer Verhältnisse Genußmittel verspricht, genießt hierfür nicht den Schutz der Glaubensfreiheit.
Beschluß
des Ersten Senats vom 8. November 1960
- 1 BvR 59/56 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Kunstgeschichtlers und Graphikers ..., gegen den Beschluß des 6. Strafsenats des Bundesgerichtshofs vom 28. Dezember 1955 - StE 22/52 (AK 115/55).
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerde wird zurückgewiesen.
Gründe
I.
1. Der im Jahre 1913 geborene Beschwerdeführer ist Anhänger des "Bundes für Gotterkenntnis (Ludendorff) e.V.". Schon im Alter von 15 Jahren schloß er sich einer Jugendgruppe des von General Ludendorff geführten Tannenberg-Bundes an, einer gegen Freimaurer, Juden und besonders gegen das Christentum gerichteten radikalen völkischen Bewegung. Im Sommer 1933 schied er aus der evangelischen Kirche aus. Dann trat er der SS wegen ihres besonderen antichristlichen Charakters bei; er war zuletzt Obersturmführer. Außerdem war er seit 1938 im Sicherheitsdienst (SD) tätig. Von 1940 bis 1944 war er im SD- Hauptamt in Berlin und in Paris im Referat zur Beobachtung und Bekämpfung der Freimaurerei beschäftigt. Auf eigenen Wunsch wurde ihm die Leitung einer Agentenschule in Meersburg/Bodensee übertragen. Dort hatte er französische Staatsangehörige, die sich zum Agenteneinsatz in ihrem Land verpflichtet hatten, auf ihre Tätigkeit vorzubereiten. Nach dem Zusammenbruch fand er unter falschem Namen eine Beschäftigung bei der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN). Angehörige dieser Vereinigung brachten ihn in Verbindung zu einem für die sowjetische Besatzungszone tätigen Nachrichtendienst.
2. Als dessen Mitarbeiter bemühte er sich in den Jahren 1950 bis 1952, Staatsgeheimnisse der Bundesrepublik Deutschland auszuspähen und sie seinen Auftraggebern in der sowjetischen Besatzungszone zur Kenntnis zu bringen; für diese Tätigkeit warb er auch andere. Wegen dieses versuchten Landesverrates verurteilte ihn der Bundesgerichtshof am 22. Dezember 1953 zu 4 Jahren Zuchthaus. Bei der Strafzumessung ging das Gericht davon aus, daß die Straftaten des Beschwerdeführers aus einem verbissenen Trotz erwachsen seien, der sich gegen die Einsicht verschließe, daß die Lehre und die Praxis des völkischen Radikalismus das Unglück des deutschen Volkes verschuldet hätten. Mit diesem Fanatismus bekämpfte er rücksichtslos die außenpolitischen Bemühungen der Bundesrepublik. Strafverschärfend müßten die lange Dauer seiner landesverräterischen Beziehungen und die daraus sich ergebende große Gefahr für die Bundesrepublik berücksichtigt werden; mildernd sei in Betracht zu ziehen, daß der Beschwerdeführer in verschiedenen Gefangenen- und Internierungslagern Schweres habe erdulden müssen; er sei ein Schiffbrüchiger, der nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus geistig entwurzelt gewesen sei und keinen Boden mehr hätte finden können.
In der Strafhaft warb der Beschwerdeführer unter seinen Mitgefangenen für den Kirchenaustritt; auch versprach er einzelnen von ihnen Tabak für den Fall, daß sie aus der Kirche austräten. Wegen dieser Vorkommnisse lehnte der Bundesgerichtshof mit Beschluß vom 28. Dezember 1955 ein Gesuch des Beschwerdeführers um bedingte Entlassung aus der Strafhaft gemäß § 26 StGB mit folgender Begründung ab:
"Wie eine Untersuchung des Vorstands der Strafanstalt, in der der Verurteilte einsitzt, ergeben hat, hat der Verurteilte unter den Strafgefangenen eine rege Propaganda zum Kirchenaustritt betrieben Er ist dabei so weit gegangen, daß er einzelnen Mitgefangenen, wie diese angegeben haben, sogar Tabak für den Fall ihres Austritts aus der Kirche versprach. In diesem Vorgehen des Verurteilten tritt ein solcher Grad von gemeiner Gesinnung und moralischer Niedertracht zu Tage, daß nicht erwartet werden kann, er werde in Zukunft ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben führen. Der Senat hält es deshalb für geboten, daß der Verurteilte die Strafe voll verbüßt."
3. Gegen diesen Beschluß richtet sich die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers; durch ihn fühlt er sich in seinen Grundrechten aus Artikel 3, 4 und 5 GG verletzt. Die angefochtene Entscheidung verstoße gegen Artikel 4 und 5 GG, indem sie sich darauf stütze, daß er eine rege Propaganda zum Kirchenaustritt getrieben habe; er habe lediglich auf Fragen von Mitgefangenen seine religiöse Überzeugung dargelegt und erklärt, was ihn vom Christentum trenne. Selbst wenn es richtig wäre, daß er Mitgefangenen für ihren Kirchenaustritt Tabak versprochen oder gegeben hätte, würde der angefochtene Beschluß gegen Artikel 3 GG verstoßen; denn er hätte dann nichts anderes getan als Andersgläubige, nämlich Anhänger mit materiellen Gaben zu werben oder in sozialer Weise zu unterstützen.
II.
Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig, aber unbegründet.
1. Nach dem Grundgesetz gewährleistet die Glaubensfreiheit dem Einzelnen einen Rechtsraum, in dem er sich die Lebensform zu geben vermag, die seiner Überzeugung entspricht, mag es sich dabei um ein religiöses Bekenntnis oder eine irreligiöse - religionsfeindliche oder religionsfreie - Weltanschauung handeln. Insofern ist die Glaubensfreiheit mehr als religiöse Toleranz, d. h. bloße Duldung religiöser Bekenntnisse oder irreligiöser Überzeugungen.
Denn sie erlaubt nicht nur auszusprechen und auch zu verschweigen, daß und was man glaubt oder nicht glaubt. Dem Sinne dieser im Grundgesetz getroffenen politischen Entscheidung entspricht es vielmehr, die Glaubensfreiheit auch auf die Werbung für den eigenen Glauben wie für die Abwerbung von einem fremden Glauben zu erstrecken. Das muß auch das Recht einschließen, die Glaubensabwerbung unabhängig von einer Glaubenswerbung zu schützen.
Ob die Glaubensfreiheit im Sinne des Sich-Äußerns, des Werbens und der Propaganda für oder der Abwerbung und der Gegenpropaganda gegen eine bestimmte religiöse oder irreligiöse Überzeugung sich als ein Unterfall der freien Meinungsäußerung darstellt und insoweit den Schranken der freien Meinungsäußerung unterliegt, kann hier dahingestellt bleiben. Jedenfalls kann sich auf die Glaubensfreiheit nicht berufen, wer die Schranken übertritt, die die allgemeine Wertordnung des Grundgesetzes errichtet hat. Das Grundgesetz hat nicht irgendeine, wie auch immer geartete freie Betätigung des Glaubens schützen wollen, sondern nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat. Die konkrete Abgrenzung ist bei der einzigartigen Stellung dieses klassischen, auch durch die kategorische Formulierung des Artikels 4 Abs. 1 und 2 GG ausgezeichneten Grundrechts schwierig. Kann und darf der weltanschaulich neutrale Staat den Inhalt dieser Freiheit nicht näher bestimmen, weil er den Glauben oder Unglauben seiner Bürger nicht bewerten darf, so soll jedenfalls der Mißbrauch dieser Freiheit verhindert werden. Aus dem Aufbau der grundrechtlichen Wertordnung, insbesondere der Würde der Person, ergibt sich, daß Mißbrauch namentlich dann vorliegt, wenn die Würde der Person anderer verletzt wird. Die an sich erlaubte Glaubenswerbung und Glaubensabwerbung wird dann Mißbrauch des Grundrechts, wenn jemand unmittelbar oder mittelbar den Versuch macht, mit Hilfe unlauterer Methoden oder sittlich verwerflicher Mittel, andere ihrem Glauben abspenstig zu machen oder zum Austritt aus der Kirche zu bewegen. Wer demjenigen, der sich von seinem Glauben lösen soll, unter Ausnutzung der besonderen Verhältnisse des Strafvollzuges hierfür Genußmittel verspricht und gewährt, genießt nicht den Schutz des Artikels 4 Abs. 1 GG.
2. So liegt der Fall hier. Der Antrag des Beschwerdeführers auf bedingte Entlassung ist nicht deshalb abgelehnt worden, weil er Propaganda zum Kirchenaustritt betrieben hat, sondern weil er dabei so weit gegangen ist, daß er Mitgefangene für ihren Austritt aus der Kirche Tabak versprochen hat, da er sich der besonderen Wirksamkeit dieses Mittels bewußt war. Soweit der Beschwerdeführer sich gegen die Richtigkeit dieser Feststellung durch den Bundesgerichtshof wendet, kann er mit seinem Vorbringen in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde kein Gehör finden; es ist nicht ersichtlich, daß bei der Feststellung des Tatbestandes spezifisches Verfassungsrecht verletzt worden ist (BVerfGE 1, 7 [8]; 418 [420]; 2, 336 [339]; 5, 17 [20 f.]; 6, 7 [10]).
Aus diesen Gründen verletzt die getroffene Entscheidung weder Artikel 4 Abs. 1 noch Artikel 5 Abs. 1 GG. Ob die an die Beurteilung seines Verhaltens im Gefängnis angeknüpfte, vom Beschwerdeführer beanstandete abwertende Charakterisierung angemessen war, kann dahinstehen. Nach den besonderen Verhältnissen des Falles kann hierin ein Verfassungsverstoß nicht erblickt werden.
3. Inwiefern der angefochtene Beschluß Artikel 3 Abs. 1 GG verletzen soll, ist nicht ersichtlich. Wenn Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaften ihre Gläubigen oder auch Andersgläubige in sozialer Weise unterstützen, so hat das mit der vom Beschwerdeführer betriebenen Art und Weise der Glaubensabwerbung nichts zu tun.
4. Die Verfassungsbeschwerde ist daher als unbegründet zurückzuweisen.