BGHSt 32, 194; EzSt StGB § 211 Nr. 20; GA 1985, 335; JR 1984, 296; JZ 1984, 331; LM StGB § 211 Nr. 20; MDR 1984, 674; NJW 1984, 674
Gericht:
Bundesgerichtshof
Datum:
07.12.1983
Aktenzeichen:
1 StR 665/83
Entscheidungstyp:
Urteil
Instanzen:
LG Konstanz
Bei regulärem Geburtsverlauf wird die Leibesfrucht zum Menschen im Sinne der Tötungsdelikte mit dem Einsetzen der Eröffnungswehen (im Anschluß an BGHSt 31, 348).
Gründe
Die rechtliche Würdigung des festgestellten Sachverhalts durch das Landgericht bedarf nur insoweit besonderer Erörterung, als die Strafkammer den Angeklagten auch wegen Mordes an dem noch ungeborenen Kind der C.F. verurteilt hat.
Bei der insoweit entscheidenden Frage des Beginns des menschlichen Lebens ist von § 217 Abs. 1 StGB auszugehen. In dieser Vorschrift wird die Tötung des unehelichen Kindes durch die Mutter "in oder gleich nach der Geburt" unter Strafdrohung gestellt. Das Gesetz wertet mithin auch die vorsätzliche Tötung während des Geburtsvorgangs nicht mehr als Schwangerschaftsabbruch, sondern als Tötung; demgemäß wird das Tatobjekt nicht als "Leibesfrucht", sondern als "Kind" bezeichnet. Wenn aber das Gesetz in dieser Regelung bereits den Zeitraum in der Geburt einbezieht, so liegt die Zäsur für den Beginn des menschlichen Lebens notwendig beim Beginn der Geburt (BGHSt 5, 10; 31, 348, 351; RGSt 9, 131 ff.; 26, 178 ff.; Lüttger JR 1971, 133 und NStZ 1983, 481; Saerbeck, Beginn und Ende des Lebens als Rechtsbegriff, 1974 S. 94).
Zur Frage, wann die Geburt im Sinne des § 217 Abs. 1 StGB beginnt, hat der Bundesgerichtshof (BGHSt 10, 5) im Anschluß an die spätere Rechtsprechung des Reichsgerichts (RGSt 9, 131 f.; 26, 178; anders noch RGSt 1, 446, 448) die Ansicht vertreten, die Geburt beginne damit, daß "der Mutterleib versucht, die Frucht auszustoßen", ohne diese Ausstoßungsversuche näher zu umschreiben.
Ausstoßversuche (Wehen) werden in der medizinischen Wissenschaft je nach Schwangerschafts- bzw. Geburtsphase als Schwangerschafts-, Senkungs-, Vor-, Geburts- und Nachwehen bezeichnet (Reallexikon der Medizin Bd. VI 1974; Thiele, Handlexikon der Medizin Bd. II 1980, jeweils unter dem Stichwort "Wehen"). Die Vorwehen setzen in den letzten Wochen und Tagen der Schwangerschaft ein und reichen bis kurz vor Beginn der Geburt; die Geburtswehen werden in Eröffnungswehen (Wehen während der Eröffnungsperiode) und Preßwehen (Wehen während der Austreibungsperiode) unterteilt (vgl. Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch 254. Aufl. 1982 Stichwort "Wehen").
Bei regulärem Geburtsverlauf kann die Geburt im strafrechtlichen Sinne frühestens mit den Geburtswehen beginnen (BGHSt 31, 348, 355). Nicht entschieden ist bisher, ob sie schon mit den Eröffnungswehen (so Lüttger a.a.O.; Jähnke in LK 10. Aufl. vor § 211 Rdn. 3; Maurach/Schroeder, Strafrecht BT 6. Aufl. TlBd. 1 § 1 III 1 S. 13; Schwalm MDR 1968, 277, 278; Eser in Schönke/Schröder, StGB 21. Aufl. vor § 211 Rdn.13; Horn in SK § 212 Rdn. 3) oder erst mit den danach einsetzenden Treib- und Preßwehen (so Saerbeck a.a.O. S. 95; Preisendanz, StGB 30. Aufl. § 217 Anm. 3) beginnt.
In medizinischer Sicht beginnt der normale Geburtsvorgang mit den Eröffungswehen. Diese Wehen, die in kurzen und meist rhythmischen Intervallen auftreten, erweitern die oberen Abschnitte des Geburtsweges - insbesondere den Gebärmutterhalskanal und den äußeren Muttermund - bis zur vollen Durchgangsfähigkeit; zugleich drängen sie den vorangehenden Teil des Kindes (Kopf oder Steiß) in sie hinein bis zum äußeren Muttermund, nach Ansicht mancher medizinischer Autoren oftmals sogar noch weiter bis zum Beckenboden. Die Treib- und Preßwehen befördern das Kind anschließend durch die unteren Abschnitte des Geburtsweges hindurch und aus dem Mutterleib hinaus. Dabei beträgt die Dauer der Eröffungspreiode ein Vielfaches der Austreibungsperiode (Lüttger JR 1971, 133, 135 m. Nachw. aus dem meditinischen Schrifttum in Fußn 20 f.).
Diese biologisch-medizinischen Tatsachen machen deutlich, daß nicht erst die Treib- und Preßwehen, sondern schon die Eröffungswehen zu den "Ausstoßversuchen des Mutterleibes" zählen, denn sie realisieren in zeitlicher und lokomotorischer Hinsicht bereits einen erheblichen Teil des Gesamtvorganges der Ausstoßung aus dem Mutterleib (Lüttger a.a.O.). Es erscheint daher gerechtfertigt, den Beginn der Geburt auf den Zeitpunkt des Einsetzens der Eröffungswehen festzulegen. Diese Auffassung führt zugleich zu einem erstebenswerten Gleichklang der strafrechtlichen Begriffsbildung mit den medizinischen Anschauungen vom Geburtsbeginn und ermöglicht den erweiterten Strafschutz, der deshalb geboten ist, weil auch die Eröffungsperiode zu jenem Zeitraum gehört, in dem beispielsweise bei Wehenschwäche und bei starken Wehen, aber auch bei Vorliegen von Geburtshindernissen medikamentöse und operative Geburtshilfen erforderlich werden können (Lüttger a.a.O. mit Hinweis auf das medizinische Schrifttum in Fußn. 23).
Demgegenüber begründet Saerbeck (a.a.O.) seine abweichende Ansicht, die Geburt erst mit den Treib- und Preßwehen, damit, daß nur durch diese Betrachtung eine eindeutige Abgrenzung erziehlt werde. Es sei nämlich nicht ausgeschlossen, daß sich der Übergang der normalen Schwangerschaftswehen in die geburtswirksamen Eröffungswehen über mehrere Tage hinziehen könne und eine Unterscheidung auch einem Mediziner zunächst nicht möglich sei.
Diese Bedenken greifen jedoch nicht durch. Entscheidend ist darauf abzustellen, daß mit den Eröffungswehen schon ein erheblicher Teil des Geburtsvorganges der Ausstoßung bewirkt wird. Bei der Beurteilung der auftretenden Wehen zunächst möglicherweise gegbene Unsicherheiten fallen demgegenüber nicht ins Gewicht. Zwar ist es richtig, daß der Übergang von den Schwangerschafts- und Vorwehen zu den Eröffungswehen fließend und - insbesondere bei schwachen Eröffungswehen - die Unterscheidung nicht einfach ist, aber der Übergang der Eröffungs- zu den Austreibungswehen ist nicht selten ebenso unsicher (Lüttger NStZ 1983, 481, 482). Diese Erkenntnisschwierigkeiten gehen nicht zu Lasten des Täters. Weoß er nicht und rechnet er auch nicht damit, daß die Eröffungswehen bereits eingesetzt haben, befindet er sich in einem Tatbestandsirrtum; es gilt § 16 StGB.
Nach den getroffenen Feststellungen waren bei C.F. zu dem Zeitpunkt, als der Angeklagte sie den Abhang hinunterstieß, die Eröffungswehen voll im Gange; das Kind war in die richtige Kopflage gedreht, sein Kopf weitete den Gebärmutterhals. Infolgedessen hatte die Geburt des Kindes begonnen; es ist in der Geburt getötet worden.
Wie die Frage des Beginns der Geburt zu beurteilen ist, wenn andere Vorgänge als Wehen (zum Beispiel Blasensprung, Kaiserschnitt) den Auftakt der Geburt bilden, bedarf nach Sachlage des Falles hier keiner Entscheidung.